Theater und Krieg
Schluss mit lustig
Der Ukrainekrieg verändert die Theater-Inszenierungen. Angesichts der Situation unserer Gesellschaft könnten die Veränderungen aber noch viel weiter gehen.
Zürich, 05.05.2022
Der Seher Teiresias weiss alles und kennt alles. «Ich sehe die Bewegungen der Imperien, der Truppen, (…)ich sehe die Werkzeuge und die Waffen, (…) die Paläste und die Massengräber, die steigenden Kurse und die fallenden Bomben», sagt er. Und: «Für den, der alles sieht, ist Hoffnung keine Option.»
Die Sätze von Jörg Pohl als Teiresias fallen wie Blei auf die Bühne des Basler Schauspielhauses. Leonie Böhm und ihrem Ensemble genügen in ihrer Arbeit «König Teiresias» sehr frei nach Sophokles nur wenige Worte, um die Trauer und Ohnmacht widerzuspiegeln, die so viele Menschen angesichts des Ukraine-Kriegs empfinden.
Was soll das Theater jetzt tun?
Wie reagieren die Theater auf den Angriff Russlands auf die Ukraine? Machen sie weiter, wie gehabt, oder ändern sie ihre Arbeiten? Was wollen die Künstler? Und was das Publikum? «Theater mag politisch sein, aber Theater ist keine Politik. Theater ist Kunst», schreibt die in Odessa geborene Musiktheaterregisseurin Julia Lwowski auf die Frage «Was soll das Theater jetzt tun?», die die Fachzeitschrift «Theater der Zeit» für ihre Mai-Ausgabe Künstler:innen gestellt hat. Und weiter: «Es gilt, den Zeitgeist aufzusaugen und uns den Spiegel vorzuhalten.» Die Zeitschrift zeigt auf ihrem Titelbild das völlig zerstörte Theater in Mariupol. Bis heute weiss man nicht genau, wie viele Menschen darin Schutz suchten und wie viele bei der Bombardierung am 16. März ums Leben kamen. Offizielle Angaben sprechen von mindestens 300 Toten.
Wie Leonie Böhm reagieren viele Theatermacher:innen in der Region: Sie ändern ihre Arbeiten nicht grundlegend, weil das auch technisch gar nicht so schnell möglich ist, dazu dauert der Inszenierungsprozess zu lang. Aber sie bauen einzelne Szenen um: Ein Absatz über die Schönheit der Grautöne und das Undenkbare der Realität in «Was geschah mit Daisy Duck?», das Regisseur Antú Romero Nunes zusammen mit seinem Ensemble für das Theater Basel erdacht hat. Einige Filmausschnitte zum Krieg in den Videos von «Faust I» von Krzysztof Garbaczewski am Theater Freiburg/Breisgau.
Ebenfalls in Freiburg feierte am 25. Februar, also am Tag zwei des Krieges, «Der Trafikant» von Robert Seethaler Premiere – und traf ohne jede Änderung den Nerv der Zeit. Denn der Roman zeigt in der Regie von Eike Weinreich auch, wie die Moral in Kriegszeiten sukzessive vor die Hunde geht. Aus Zufall: Die richtige Inszenierung zur richtigen Zeit.
Das Haus des Nachbarn brennt lichterloh
Am Theater St.Gallen hatte man ebenfalls Glück. Dort feierte am 8. April Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter» Premiere. Auch dieses Werk passt hervorragend, denn wie Biedermann wollten viele westeuropäische Staaten die Realität jahrelang nicht sehen. Politiker, links wie rechts, hofierten Putin noch lange nach 2005, als der deutlich sagte, dass er den Zerfall der Sowjetunion für die «grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» halte. Sogar noch, als er 2014 begann, immer deutlicher die Ostukraine zu kontrollieren. In «Biedermann und die Brandstifter» brennt das Haus des Nachbarn lichterloh. Trocken sagt Biedermann nur: «Zum Glück ist’s nicht bei uns.»
Leider fehlte dem St.Galler Inszenierungsteam um Regisseurin Christina Rast der Mut, den Text, der jetzt sehr langfädig daherkommt, stärker auf die Aktualität hin zuzuspitzen und entsprechend zu kürzen. Das «Aufkommen nationalistischer Tendenzen» mag ausschlaggebend gewesen sein, das Werk auf den Spielplan zu setzen. Doch gelingt es der Inszenierung zu wenig, die Bedrohung spürbar zu machen; sie bleibt zwischen Groteske und Persiflage hängen. Das Stück hätte heute mehr Potenzial und in sechs Wochen Probezeit nach Beginn des Krieges ist mehr möglich.
Doppeldeutigkeit als Antwort?
«In dieser neuen, zerrissenen Wirklichkeit bekommen viele Themen eine ganz neue Bedeutung», antwortet die polnische Theaterregisseurin Ewelina Marciniak auf die Frage «Was soll das Theater jetzt tun?». Was möchte das Publikum sehen, fragt sie sich selbst: «Viele wünschen sich sicherlich, dass das Kriegsthema in möglichst vielen Theaterproduktionen aufgegriffen wird. Andere würden das Thema wohl am liebsten totschweigen.»
Wie recht sie hat, zeigt die Rezeption von Christoph Marthalers «Der letzte Pfiff – ein Drehschwindel» am Theater Basel. Das Werk war ursprünglich als eine Art Tatort-Persiflage gedachte, in der etwa Jean-Pierre Cornu als Kardinal aus einer riesigen Ketchupflasche mit rotem Saft bespritzt werden sollte. Aber von einem Tag auf den anderen war das nicht mehr komisch. Wer am Tag der Premiere die Bilder von Menschen, die auf dem Bahnhof von Kramatorsk von Bomben getroffen werden, nicht aus dem Kopf bekam, der konnte sich über eine mehrfach wiederholte Sterbeszene nur entsetzen. Doch je länger, je mehr merkt man: Marthaler hat diese Doppeldeutigkeit in sein Werk hinein inszeniert; er hat sein ursprüngliches Konzept teils geändert, teils belassen und dafür eine merkwürdige, unausgegoren wirkende Parallelität in Kauf genommen. Jetzt durchzieht den Abend eine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit, die noch die komischsten Lieder in moll taucht. Niemand, der nicht traurig ist. Das Premierenpublikum und viele Kritiker:innen reagierten mit Unverständnis: Sie wollten die Traurigkeit nicht sehen, sondern sich amüsieren, wie ihnen Marthaler das in der Vergangenheit so oft ermöglicht hatte.
Aber auch viele Künstler:innen reagieren mit einem «Business as usual». Wie Milo Rau und sein Team, die in «Wilhelm Tell» am Schauspielhaus Zürich allen politischen Schwachstellen der Schweiz auf den Grund gehen. Aber dass auch in Konfliktzeiten die offizielle Reaktion des Landes immer wieder Grund für Irritationen ist, dass dem Bundesrat auch jetzt wieder vorgeworfen wird, zu zaghaft zu reagieren, etwa zu zögerlich dem Oligarchen-Geld hinterher zu spüren, das spielt im «Wilhelm Tell» keine Rolle. Die altbekannten Probleme des Landes werden behandelt, die neuen ausgeblendet.
Hoffnung in fragilen Zeiten
Bis die auf den Krieg zugeschnittenen Stücke auf grösseren Bühnen zu sehen sind, werden noch ein paar Monate ins Land gehen. Doch wird die Rückkehr des Krieges nach Europa möglicherweise den Grundton vieler Arbeiten ändern. Nach (oder mitten in?) der Corona-Pandemie, mitten im Ukraine-Krieg und mitten im Klimawandel ist unsere Welt hochgradig fragil geworden. Die Zeit von zerstörerischem Individualismus und Selbstgenügsamkeit auf deutschsprachigen Bühnen dürfte langsam vorbei sein. Vielmehr gilt es, unsere brüchige Gemeinschaft politisch wach durch die Wirren der Zeit zu geleiten.
Margarita Zieda, Theaterkritikerin und Theaterautorin in Moskau, formuliert das in der «Theater der Zeit»-Umfrage so: «Man braucht heute nicht nur die Geschichten, die den Menschen gnadenlos kritisch durchleuchten, sondern vielmehr auch solche, die den Glauben an den Menschen wiederherstellen. Statt Dystopien anzuhäufen, könnte man Geschichten finden und erzählen, in denen man spürt, dass die Welt noch zu retten ist. Und jeder kann dazu beitragen.»
Leonie Böhm geht bereits in «König Teiresias» diesen Weg. Nachdem der Seher Teiresias König Ödipus seine Hoffnungslosigkeit an den Kopf geworfen hat, sehen sie in ihrer Freundschaft den letzten sicheren Weg. Teiresias sagt – und klingt dabei sogar ein wenig zuversichtlich: «Wir führen einander durch das Dunkel. Wir haben nichts – nur das, was wir voneinander bekommen. Das ist unsere Hoffnung.»
Link zur Theater-der-Zeit-Umfrage.