Cover Held:innen

Warum wir Geschichten brauchen

Die Beschädigte

In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. Heute: Im Grossen wie im Kleinen kommt es vor, dass Dinge passieren, die nicht in die Dramaturgie unserer Biografie passen. Dann schlägt die Stunde des Storytellings. Dieses Prinzip beobachtet der Autor sowohl in der grossen Politik als auch bei seiner Schwiegermutter.

Von Felix Benesch

Leipzig, 22.06.2022

6 min

Meine Schwiegermutter ist nicht doof, im Gegenteil. Als waschechte Berlinerin ist sie mit allen sprichwörtlichen Wassern gewaschen. Sie weiss, wie der Hase läuft. Niemand kann sie für dumm verkaufen. Über den Tisch ziehen lässt sie sich ganz sicher nicht. Es ist schon vorgekommen, dass sie sich einen Spass daraus gemacht hat, einen Möchtegern-Betrüger zappeln zu lassen, bis sie ihm endlich ins Gesicht sagte, dass sie ihn durchschaut hat und er Leine ziehen soll.

Ausgerechnet sie ist jetzt aber auf den «Enkeltrick» reingefallen, beziehungsweise war es ein «Tochtertrick». Anonyme Betrüger haben sie auf bestürzend simple Weise dazu gebracht, einen Grossteil ihrer Ersparnisse auf ein fremdes Konto zu überweisen, bei einer dubiosen Bank, an einen Menschen mit einem ihr völlig fremden Namen. Sie war überzeugt davon, dass sie ihrer Tochter (meinem Lieblingsmenschen) damit das Geld für einen teuren Onlinekauf vorstreckte.

Als sie am Tag darauf ein bisschen Dankbarkeit für ihre edle Tat einforderte, haben wir realisiert, was passiert ist. Wie bitte? Warum hat sie das nicht erkannt? Das passte überhaupt nicht zu ihr. Im Nachhinein betrachtet war alles so offensichtlich. Wie kann man nur so doof sein!?

Das fragte sie sich natürlich auch selber. Tagelang dröhnten diese Fragen in ihrer wunden Seele. Wie konnte sie, die eigentlich jede Kleinigkeit merkt, ausgerechnet dann versagen, wenn es um mehrere Tausend Euro ging? Hatte sie bisher ein völlig idealisiertes Selbstbild? War sie wirklich so doof? Wie sollte sie damit umgehen?

Im Film ein No-Go

In Film- und TV-Erzählungen ist so eine unerwartete Wendung zum Schaden der Heldin ungewöhnlich. Man will eine Hauptfigur nicht beschädigen. Mitten in einer Feel-Good-Komödie, einer Romanze oder einer Abenteuer-Story mit positiver Heldin (in so was Ähnlichem lebt meine Schwiegermutter) ist das ein No-Go. Eine solche Wendung unterläuft die Erwartungen der Zuschauenden, sie gefährdet die Identifikation, die emotionale Bindung könnte reissen. Die Kontinuität einer Figur ist wichtig, sonst kennt sich niemand mehr aus und die Geschichte hört schlagartig auf zu funktionieren. Das Genre kippt. Die Menschen zappen weg. In der minutengenauen Quoten-Kurve zeigt sich das dann als tiefe Delle.

Im echten Leben passiert Derartiges hingegen öfter als man denkt. Bei einem harmlosen Essen mit Freunden stellt sich heraus, dass du nicht die Überfliegerin bist, für die du dich bis dahin gehalten hast. An einem lauen Donnerstagabend realisierst du auf einmal, dass dein glückliches Vorzeige-Leben in Wahrheit ein einziges Desaster ist. Morgens unter der Dusche erkennst du, dass die eiserne Gesundheit, von der du immer predigst, brüchig wird und du womöglich ernsthaft krank bist. Und so weiter. Plötzlich funktioniert die eigene Geschichte nicht mehr und man ist gezwungen, sie zu überarbeiten. Manchmal kann ein Dramaturg helfen, oder eine Therapeutin, wie manche es nennen.

Drei Versuche, die Geschichte zu reparieren

Meine Schwiegermutter hatte mehrere Möglichkeiten, um ihre Geschichte zu reparieren, also die Situation zu bewältigen.
Als Erstes versuchte sie, die kritische Stelle anders zu erzählen. Sie hat den Betrug vergrössert, die Betrüger raffinierter, für Normalsterbliche unbesiegbar gemacht. Sie war sich sicher, dass die Betrüger ihr Smartphone gehackt und ihre Chats mitgelesen hatten. Wie sonst konnte jemand den Tonfall ihrer Tochter in den Unterhaltungen mit ihr so perfekt imitieren? Damit wäre ihr Versagen kein Versagen mehr gewesen. Doch nach schmerzhaftem Nachlesen des Chatverlaufs musste sie zugeben, dass diese Unterhaltungen weit weniger einzigartig waren, als sie immer dachte. Ein paar gängige Schlüsselwörter und das eine oder andere Emoji haben gereicht. Auch diese Erkenntnis musste sie erst einmal schlucken.

Zweite Versuch: Gemeinsam haben wir ihre vorübergehende Blindheit mit der Situation erklärt, in der wir uns alle grade befanden. Wir waren viel beschäftigt. Wir hatten wenig Kontakt. Sie hatte ausserdem das Gefühl, in unserer Schuld zu stehen, weil wir ihr auch schon geholfen hatten. Diese Mischung, verbunden mit der Liebe zu ihrer Tochter und der Sehnsucht nach einem Wiedersehen, haben ihren kritischen Blick von vornherein verstellt. Das war nachvollziehbar und in moralischer Hinsicht etwas Gutes. Wer will es ihr verdenken? Damit konnte sie einigermassen weiterleben. Auch wenn uns allen klar ist, dass erfolgreiche Enkeltrick-Betrüger genau auf solche Effekte zielen.

Es hätte noch einige andere Möglichkeiten gegeben, die Kontrolle über die eigene Geschichte zurückzugewinnen. Sie hätte das Missgeschick zum Beispiel komplett verschweigen können. Niemand hätte davon erfahren müssen. Es wäre nie geschehen. Betrugsopfer neigen häufig zu dieser Lösung. Sie tauchen in die Dunkelziffer ab und verzichten auf eine Anzeige. Aus Scham, wie es heisst. Anders ausgedrückt: Sie wollen die Hauptfigur in ihrer Story nicht beschädigen. Und sie wollen vergessen. Wenn niemand davon weiss, wird sie niemand jemals daran erinnern.

Der Steuermann im Sturm

Politiker:innen stehen permanent im Licht in der Öffentlichkeit, kaum einer ihrer Schritte bleibt unbeobachtet. Auch Brüche in ihren Storys lassen sich selten verbergen. Mehr als andere müssen sie aber ihr Gesicht wahren bzw. in ihrer Geschichte bleiben. Wem das nicht gelingt, der fliegt raus. Um so mehr lohnt es sich, ihr Storytelling im Umgang mit Rissen und Brüchen zu betrachten.

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck beispielsweise macht vor, wie meisterhaftes Storytelling geht. Vor dem Hintergrund von Pandemie und Ukraine-Krieg verkauft er mit viel Empathie und ohne Scheu vor dem Eingestehen von Fehleinschätzungen seinen Wählerinnen Entscheidungen wie die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine oder ein Revival der Kohlekraftwerke. Weiter weg von den eigenen Wahlversprechen und den Kernpositionen der Grünen könnte er kaum sein. Bis jetzt gelingt es ihm, dabei als fähiger Steuermann zu erscheinen, der das Schiff durch stürmische See navigiert und immer weiss, was er tut.

Es gäbe unzählige andere Beispiele. Stellvertretend dafür picke ich hier zwei Extreme raus:

Alles, nur nicht Looser sein

Donald Trump hat mit seinen «alternative facts» eine breite Masse überhaupt erst für die Macht des Storytellings sensibilisiert. Bis heute spaltet er ein ganzes Land. Wir alle haben noch vor Augen, wie er einen beispiellosen Angriff auf die stolze US-Demokratie initiiert hat. Warum hat er das getan? Ganz offensichtlich, um sich als Heldenfigur nicht durch eine Looser-Geschichte zu beschädigen.

Wladimir Putin ist ebenfalls ein ambitionierter Geschichtenerzähler. Längst nutzt er das Storytelling als Waffe und überzieht den Erdball mit Millionen Geschichten aus seinen Story-Factorys. Überall gären sie, richten Schaden an, vergiften das demokratische Miteinander. Wir wurden alle Zeugen davon, wie er vor einigen Monaten «dem Westen» den Krieg erklärt hat, den er mit seinen Storys schon lange führt. Nun bombt er die Ukraine in Schutt und Asche. Warum tut er das?

Ein gewichtiger Aspekt ist sicher: Wegen seiner persönlichen Heldengeschichte. Er muss den Mythos des unbeugsamen, gerechten Führers eines grossartigen Landes, das vom Westen so schmählich missachtet wird, weitererzählen. Bevor er womöglich von innenpolitischen Problemen oder einer Erkrankung überlagert wird.

Meine Schwiegermutter hat sich übrigens sofort als das «dumme Betrugsopfer» geoutet. Sie verbrachte Stunden bei der Bank und auf dem Polizeiposten. Grade noch rechtzeitig, wie sich herausstellen sollte. Ihr Geld konnte zurückgeholt werden. Auch so kann man sich als Heldin wieder in ein positives Licht rücken.