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Marc Chagall malte das Bild «La Guerre» Mitte der 1960ger Jahre. Es ist derzeit in der Sammlung des Kunsthaus Zürich zu sehen.

Bild: zvg Kunsthaus Zürich

Kunst-Kolumne

Auch Chagall ist kein Quickfix

In der Kolumne «Staub und Häppchen» schreibt Naomi Gregoris jeden Monat über ein Kunstwerk aus dem Archiv eines Schweizer Museums – und stellt es in Bezug zur Gegenwart. So schwer wie in diesem Monat fiel es ihr noch nie, in der Kunst eine Lebenshelferin zu finden.

Von Naomi Gregoris

Basel, 08.11.2023

3 min

Keine Kolumne ist mir bisher so schwergefallen wie diese. Wie kann sich Kunst zur Gegenwart verhalten, erleuchtende Momente ermöglichen, Verständnis und womöglich sogar Trost spenden? Das sind die Fragen, mit denen ich mich jeden Monat auseinandersetze. Fragen, auf die ich seit dem 7. Oktober mit Verbitterung schaue.

Der Verzweiflung, die wir momentan über die unentwegt liefernden Nachrichtenkanäle betrachten  – und ich sage bewusst betrachten, denn das ist es, was wir tun: Erstarrt betrachten, aus der sicheren Ferne scrollen, mit weit aufgerissenen Augen –, dieser Verzweiflung ist keine Linderung vergönnt, und das ist gut so.

Die Verzweiflung ist das, was uns zu Menschen macht, empathischen, verbundenen Menschen.

Aber es macht mich auch zynisch, denn in meinem Bedürfnis nach Lösungen und Frieden scheint mich die Kunst nicht abholen zu können. Mir scheint es lächerlich, in Zeiten wie diesen in Archive hinunterzusteigen, wenn ich doch auch auf die Strasse könnte, meinen israelischen und arabischen Freund:innen beistehen könnte, etwas tun könnte.

Ich wünsche mir einen Quickfix, denn das ist das, was mir die Gesellschaft, in die ich privilegierterweise hineingeboren wurde, immerzu versprochen hat. Wer krank ist, nimmt Medizin, wer dick ist, soll ins Fitnesszentrum. Geht was kaputt, kauft man sich‘s neu. Eine Situation auszuhalten, deren Schrecken so omnipräsent und doch so unkörperlich ist, habe ich nie gelernt.

Ich habe gelernt zu schauen und zu denken. Damit kann ich meine Verzweiflung und mein Mitgefühl gegenüber meinen betroffenen Freund:innen zwar in Worte kleiden, geholfen ist uns damit aber nicht. Ich will mich nicht in meiner Unfähigkeit wälzen, sondern mich ermächtigen können, um in Aktion zu treten.

Aber in Aktion wofür?

Nach langem Ringen ist meine Wahl auf Marc Chagall gefallen. Chagall war in Russland geborener Jude und erlebte zwei Weltkriege – allerdings beide nicht an der Front. Den ersten Weltkrieg verbrachte er als Angestellter des Büros für Kriegswirtschaft in Petrograd, den zweiten mit seiner Familie im Exil in New York. Es ist überliefert, dass er unter seiner Situation gelitten habe, weit weg von seiner Heimat Paris, wo der Krieg wütete. Zu der Zeit malte er einige Bilder, die den Schrecken und die Zerstörung durch den Krieg aufgreifen.

Das Bild «La Guerre», von dem hier die Rede ist, gehört nicht zu denjenigen der frühen Vierzigerjahre. Chagall malte es zwischen 1964 und 66. Zu sehen ist ein brennendes Dorf und verzweifelte, fliehende Menschen. Gelbe Flammen speien empor, auch helles Blutrot ist zu sehen, und tiefes, schluckendes Blau. Auf der rechten Bildseite jagt eine grosse weisse Ziege ins Bild und erst wollte ich mich an ihr festhalten, vielleicht ist sie ja sowas wie die Rettung, oder zumindest der Trost in der Flucht.

Aber wer genau hinschaut, sieht die Soldaten auf dem Rücken der Ziege, mit Speeren, die wie Stacheln hinter ihren Körpern emporragen.

Es gibt kein schönes Bild vom Krieg, keinen Ausweg, keine Rettung.

Krieg bedeutet Zerstörung und auch wir sollen das verstehen, die uns sicher wähnen in der Rolle der Betrachtenden.

Ein Bild ist immer auch ein Portal in eine Welt, für die Worte nicht ausreichen. Sich in diese Welt hineinzubegeben und der eigenen Verzweiflung zu stellen, ist ein mutiger Akt. Es hat wenig mit dem entgrenzten Scrollen zu tun, in dem ich mich zusehends verliere. Es ist ein Vergegenwärtigen, ein Materialisieren der Angst. Meiner Angst.

Meine Verbitterung der Kunst und meiner Tatenlosigkeit gegenüber ist noch längst nicht gewichen.

Auch Chagall ist kein Quickfix, so wenig wie alles in diesem schrecklichen Moment der Weltgeschichte. Aber die Kunst kann vielleicht einen kleinen Teil dazu beisteuern, sich zu vergegenwärtigen, mit welchen Ängsten wir es zu tun haben und im besten Fall: Mit welchen Werten wir uns durch die Welt bewegen wollen.