Sofia Durrieu in FRIDAs Serie «Machs»

Sofia Durrieu sagt: «Kunst ist mehr Frage als Antwort. Sie ist ein offenes System, in dem sich Systeme neu denken lassen.»

Bild: Mathias Balzer

Essen mit Sofia Durrieu

«Kunst ist das System, in dem sich Systeme neu denken lassen»

Sofia Durrieu hat 2022 den Swiss Art Award gewonnen. Wir treffen die Argentinierin für unsere Performance-Serie «Mach’s». Bei einem japanischen Essen erzählt sie uns ihren Werdegang als Künstlerin und spricht darüber, was es mit ihrer Kunst der «Berührung» auf sich hat.

Von Mathias Balzer

Basel, 31.01.2023

12 min

Sofia Durrieu trägt ein japanisches Kleid. Sie hat für unser Mittagessen das «Miake Izakaya» im Basler Gundeli gewählt. Das Lokal erinnert sie an ihren Atelieraufenthalt 2020 in Tokio. Dort gäbe es unzählige solcher «Izakayas», einfache Kneipen, ähnlich einer italienischen «Taverna», einfach ohne Chianti.

Die 42-Jährige strahlt eine ungezwungene Eleganz aus, trotz der schwarz geränderten Fingernägel. Sie habe sich gefreut, dieses Kleid anzuziehen, endlich aus den Arbeitskleidern herauszukommen. Sie giesst gerade Bronzen in Frankreich, nahe der Grenze. Die Skulpturen sind für eine Ausstellung an der Arco, der internationalen Kunstmesse in Madrid bestimmt. «Eine richtig anstrengende und richtig faszinierende Arbeit.»

Wir wählen beide gebackene Aubergine mit Miso-Glasur, dazu Miso-Suppe, Salat und Reis, grünen Tee.

Performances zum Selbermachen

FRIDA schenkt ihren Leser/-innen zwölf Performances zum Selbermachen. In unserer vom Künstler Chris Hunter kuratierten Serie «Mach’s» stellen wir zwölf Performance-Künstler/-innen aus der Schweiz vor. Wir laden sie dafür zum Essen ein. Im Gegenzug präsentieren die Künstler/-innen jeweils eine Performance-AnleitungDiejenige von Sofia Durrieu findest Du am Ende dieses Artikels.
Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt.
Nach einem Jahr werden die zwölf Performances samt Euren Erlebnissen in einer Publikation dokumentiert.
Es ist ganz einfach: «Mach’s!»

Kindheit in Frankreich und Argentinien

«Meine frühesten Erinnerungen, sind solche an grüne Natur», erzählt sie. 1980 in der argentinischen Hauptstadt geboren, hat sie, ein Einzelkind, die ersten vier Jahre mit ihren Eltern in einem Haus im Wald von Fontainebleau unweit von Paris gelebt. Der Vater war Journalist und Literat, die Mutter Französisch- und Deutschlehrerin.

Zurück in Buenos Aires konnte Sofia schon bald einen ersten Berufswunsch formulieren: «Eigentlich wollte ich Synchronschwimmerin werden. Aber dafür hätte man die halbe Stadt durchqueren müssen, und so fing ich mit Ballett an.» Sie sei eine talentierte Ballerina gewesen und wäre gerne Tänzerin geworden. «Aber leider bin ich zu gross für diesen Beruf», sagt sie und lacht. Jahre später studierte sie Bildende Kunst, Philosophie und Grafikdesign – ohne die Studiengänge abzuschliessen.

«Die Kunst war mir damals suspekt»

Vater und Mutter trennten sich irgendwann. Die Mutter war psychisch schwer erkrankt – und die junge Tochter begann für sie zu sorgen. Fast zehn Jahre lang habe sie gutes Geld als Grafikerin verdient. Geld, das auch die Mutter brauchte. In dieser Zeit sei sie viel auf Reisen gegangen. «Die Kunst war mir damals suspekt», sagt Durrieu, «weil zu wenig konkret, zu wenig zielgerichtet. Für mich, als rational erzogener Mensch, machte das alles zu wenig Sinn. Schliesslich kann alles Kunst, und jeder und jede Künstler:in sein…»

Was sie damals als knapp Zwanzigjährige wirklich interessiert habe, seien Drogen. Welche denn? «Denk Dir, was immer Du willst», antwortet sie. «Meine Freunde und ich haben das damals sehr ernsthaft praktiziert, haben Bücher über Drogenerfahrungen, entsprechende Philosophie, Filme, Literatur konsultiert. Es war ein Ideenaustausch, der manchmal tagelang dauerte – und natürlich haben wir auch viel gefeiert.»

Neben der Neugierde an den Weiten des Bewusstseins sei sicher auch die Krankheit ihrer Mutter Auslöser für dieses Interesse gewesen. «Ich wollte sie besser verstehen, wollte begreifen, wie es ist, in einer Welt zu leben, in der der allgemeine Konsens nicht der Norm entspricht, welche anderen Weltzugänge es gibt neben dem Rationalen.»

Einen weiteren Zugang zu nicht rationaler, körperlich-seelischer Selbstwahrnehmung erarbeitete sich Durrieu durch Yoga, das sie mehrere Jahre lang praktizierte und einige Jahre unterrichtete.

«Reflex Arch», Sofia Durrieu, Performatic installation / situation June 2022 Swiss Art Awards, Art Basel, CH

Sofia Durrieu bei der Performance «Reflex Arch», an den Swiss Art Awards 2022 an der Art Basel.

Bild: zvg Sofia Durrieu

Die Wiederentdeckung der Kunst

2010, Durrieu war 30, starb ihre Mutter an Krebs. «Sie war Französin, aber ein Teil ihre Familie stammte aus Italien, und sie hat immer von diesem Land geschwärmt. Dort sei sie frei und glücklich gewesen und habe sich zum ersten Mal verliebt.» Nach einem kafkaesken bürokratischen Hürdenlauf hat die Tochter die Asche der Mutter zurück an den Lago di Mergozzo gebracht, ein kleiner See nahe des Lago Maggiore, wo sie auch Verwandte der Mutter kennenlernte.

«Gleichzeitig mit dem Tod meiner Mutter ging eine Beziehung in die Brüche», erzählt Durrieu. Beides habe sie emotional total destabilisiert. «Ich hatte eine totale Sinnkrise und das wirklich physische Bedürfnis, mich zu erden, meine Hände buchstäblich in die Erde zu stecken. Deshalb fing ich an, Keramikkurse zu nehmen.»

An diesen Kursen lernte sie eine Malerin kennen. Mit der Zeit fing sie wieder an mit Kunst, besuchte Workshops, unternahm erste Gehversuche als Performerin und Installationskünstlerin, nahm an Gruppenausstellungen teil. «Dennoch brauchte ich mehrere Jahre, um mir einzugestehen, dass ich wieder mit der Kunst begonnen hatte», sagt Durrieu. Sprache, Design, Körper und Körperpolitik, Skulptur und Performance, Ratio und Unbewusstes – plötzlich begannen sich Dinge ineinander zu fügen, die zuvor unzusammenhängend gewesen waren.

Kulturschock in der Schweiz

Mit der gelungenen Erdung keimte auch der Wunsch, Argentinien für eine Zeit zu verlassen. «Ein Freund riet mir, mich in Basel an der Hochschule für Kunst und Gestaltung zu bewerben. Und plötzlich lief das alles wie am Schnürchen», erzählt Durrieu. «Ich erinnere mich noch, dass ich beim telefonischen Bewerbungsgespräch einen schweren Kater hatte und wohl nicht sehr eloquent gesprochen habe.» Sie lacht. «Trotzdem wurde ich aufgenommen.» 2018 begann sie in Basel ihr Studium.

Und wie war es, in die Schweiz zu ziehen? «Ein Kulturschock, anfangs war die Ruhe hier ohrenbetäubend! Argentinier sind Meister der Spontanität, die Schweizer Weltmeister in Organisation. Aber ich habe mittlerweile gelernt, dass in dieser Ordnung auch gewisse Freiheiten liegen.» Wenn sie nun wieder für vier Monate nach Buenos Aires reise, mache sie das nervös, weil die Rückkehr emotional immer sehr intensiv sei. An zwei Orten zu leben, bringe das mit sich. «Plötzlich ist das, was früher normal war, fremd, und umgekehrt. Ich habe gelernt, dass alle Dinge mindestens eine zweite Seite haben.»

Und sie hat gelernt, sich auf dem Schweizer Kunstparkett zu bewegen. Nach verschiedenen Auftritten und Ausstellungen und vor allem nach der Auszeichnung mit dem Art Award 2022 kann sie mittlerweile als selbstständig erwerbende Künstlerin in der Schweiz arbeiten.

«In-Tact», Sofia Durrieu, Performative sculpture / situation December 2017 Uv studios, Buenos Aires, Argentina

«In-Tact»: Performance von Sofia Durrieu (Mitte) 2017 in den Uv studios in Buenos Aires.

Ein zentraler Begriff im Schaffen von Sofia Durrieu ist «Berührung». Wie im Englischen «to touch» oder «being touched» ist das Wort auch im Deutschen doppeldeutig. Wir können berühren, aber auch berührt sein. Durrieu hat für ihre Arbeit das Feld von «Berührungen» erweitert. Einerseits gehe es ihr wirklich darum, dass Kunst berühren soll, vor allem das Herz «auch wenn das kitschig tönt». Berührung ist für die Künstlerin aber nicht bloss ein körperlicher Akt. «Alles, was hier zwischen uns beiden existiert – das Essen, der Tisch, der Tee, das ganze Lokal – ist Teil unserer ‹Berührung›, alles kommuniziert mit.»

In ihrem seit 2016 rasant wachsenden Werk hat sie unterschiedlichste Formen von «Berührung» durchdekliniert. In «Corrida» liess sie sich vom Publikum mit einem Tuch, einem Seil oder einer Eisenstange über den Boden eines Kunstraumes schleifen. In «In-Tact» lädt sie das Publikum zu einer direkten Berührung mit ihr. In Nahaufnahme gefilmt, wird diese in einem anderen Raum überdimensional projiziert.

Videostill aus «Corrida», von Sofia Durrieu aufgeführt im Februar 2017 im CCK in Buenos Aires.

Videostill aus «Corrida», von Sofia Durrieu aufgeführt im Februar 2017 im CCK in Buenos Aires.

Bei der Arbeit «Magenmund» fordert sie die Besucher in einer Art Arztstudio dazu auf, ihren Bauch nackt an denjenigen der Künstlerin zu drücken. «Man warnte mich: Die Schweizer würden sich auf so etwas nicht einlassen, sie würden sehr ungern körperlich berührt, das Setting sei zu sexuell aufgeladen. Aber das stimmte nicht. Die meisten Besucher haben mitgemacht. Und es war nicht die Erotik, die im Vordergrund stand. Vielmehr war es eine fundamentale Begegnung, Zentrum zu Zentrum, Atem zu Atem.»

Für den Zyklus «Reflex Arch» entwickelt Durrieu komplexe Instrumente aus Metall, mittels derer sie das Publikum auf unterschiedlichste Weise «berührt». Künstlerin und Besucher werden so Teil einer komplexen Struktur, die eine aussergewöhnliche Begegnung herausfordert.

Die metallenen Installationen und Geräte Durrieus erinnern an medizinische Instrumente oder an Folterwerkzeuge, dienen jedoch der vorsichtigen Annäherung oder zärtlichen Berührung. Natürlich sei sie von den zahllosen Klinikbesuchen mit ihrer Mutter geprägt, sagt die Künstlerin. Orte des Grauens, aber auch der Hilfe und Heilung.

bildschirmfoto-2023-01-31-um-105757

Ihre Instrumente können als Symbole für all die sicht- und unsichtbaren Systeme, die unsere Gesellschaften prägen, gelesen werden. Für Durrieu sind diese Systeme, wie sie beispielsweise Foucault in «Überwachen und Strafen» analysiert hat, ambivalent. «Sie beinhalten immer auch die Möglichkeit der Veränderung, der persönlichen Aneignung», erklärt sie. «Was uns prägt und Macht über uns hat, ist nie nur negativ. Ich sehe meine Kunst auch als Einladung, die Poesie und die Möglichkeit der Freiheit inmitten all dieser Zwänge zu finden. Um das zu erreichen, müssen wir aber Verantwortung übernehmen und uns auf diese Strukturen einlassen, die so einengend erscheinen – und es oft auch sind.»

Anders als früher beunruhigt Durrieu die Offenheit der Kunst nicht mehr, im Gegenteil: «Kunst ist mehr Frage als Antwort. Sie ist ein offenes System, in dem sich Systeme neu denken lassen.»

Zum System der Kunst selbst hat Durrieu ebenfalls eine beeindruckende Arbeit realisiert. Sie liess sich im Basler Performance-Raum Kaskadenkondensator von den Knien abwärts in einen Sockel giessen, wurde so selbst zur Skulptur, die sich mit Hammer und Meissel in schmerzhafter Arbeit wiederum aus dem selbst gewählten Kunstsockel befreit.

anleitung-new