Daniel Hellman, alias Soya The Cow, anlässlich der Performance «Try Walking In My Hooves» am Schweizer Theatertreffen in Fribourg.

Daniel Hellman, alias Soya The Cow, anlässlich der Performance «Try Walking In My Hooves» am Schweizer Theatertreffen in Fribourg.

Bild: Mathias Balzer

Kommentar

Ist der Schweiz ihr Theaterschaffen nicht mehr wert?

Die zehnte Ausgabe des Schweizer Theatertreffens in Fribourg läuft noch bis Sonntag. Ein Besuch zeigt: Die seit 2020 neu konzipierte Werkschau des helvetischen Theaterschaffens ist inspirierend und wichtig. Und sie hätte das Potential für viel mehr.

Von Mathias Balzer

Fribourg, 02.06.2023

9 min

Nach zehn Jahren ist das Schweizer Theatertreffen unterwegs in eine neue Ära. Das jährlich durch die Schweiz tourende Festival will sich durch wiederkehrende Spielorte besser verorten und hat, wie Ute Haferburg, Ko-Präsidentin des Trägervereins im Interview mit FRIDA sagt, eine Vision: Jährlich eine Auswahl an aussergewöhnlichen, diversen und politisch bemerkenswerten Produktionen aus allen Sprachregionen zusammenzustellen.

Ein Besuch der ersten drei von fünf Festivaltagen in Fribourg, zeigt, wie das gehen könnte. Kuratorin und Festivalleiterin Julie Paucker hat ein dichtes Programm zusammengestellt: Von morgens um zehn bis spätabends laden Theaterproduktionen, Diskussionsrunden und Workshops zu einem Einblick in die Schweizer Szene.

Heilige Kühe, böse Klassiker und eine Ikone des Anstands

Mit einer Silberpailetten und Kuhhörner tragenden Drag Queen vormittags durch Fribourg spazieren – das ist an sich schon ein Erlebnis. Passanten bleibt der Mund offen, Kinder lachen, Hunde bellen, junge Männer pfeifen, Autos bleiben stehen. Daniel Hellmann, Drag Queen, Performer und Aktivist hat als Soya The Cow zu «Try Walking in my Hooves» geladen.

Das schillernde Wesen verführt uns zu einer Mischung aus Gehmeditation, Vortrag und Spektakel. Was als harmloser Spaziergang durch einen Park beginnt, wird zu einem Stationenweg ins finstere Herz des alltäglichen Massakers an der Schöpfung.

Hellmann haut uns mit sanfter Stimme alle wichtigen Fakten zum Artensterben, zur schwindenden Biodiversität und zur Massentierhaltung um die Ohren und lenkt unseren Blick auf die Tiere der Stadt, auf die lebenden, die bereits ausgestorbenen, auf Tiermotive in Werbung und Kinderbüchern – und auf die Überreste toter Tiere: im Mund Fleisch kauernder Restaurantgäste, auf Speisekarten, in Schuh- und Handtaschengeschäften. Umso länger der Rundgang dauert, umso stiller wird Soya The Cow, diese Anwältin aller fühlenden Lebewesen. Sie hinterlässt bleibende Eindrücke.

Das haben abends zuvor auch Patrycia Ziółkowska und Alicia Aumüller geschafft. In Nicolas Stemanns «Oedipus Tyrann» führen die beiden Schauspielerinnen als furios aufspielendes Duo das Publikum direkt ins Zentrum des antiken Dramas, beziehungsweise zu seiner so aktuellen Frage: Warum kann Oedipus, warum können wir, das Offensichtliche so schwer erkennen?

Patrycia Ziółkowska in «Oedipus Tyrann»

Patrycia Ziółkowska in «Oedipus Tyrann»

Bild: Philip Frowein

In der aufgeheizten Diskussion um das Zürcher Schauspielhaus musste gerade diese Inszenierung als Beispiel für ein moralisierendes, bloss der hippen Zeitgeistigkeit verschriebenes Theater herhalten. Dabei ist die Szene, in welcher das Publikum der Mitschuld bezichtigt wird, nur eine Zwischenstation auf einem Passionsweg. Denn es geht in dieser so klug gebauten Interpretation eben nicht um die Frage, wer schuld ist. Vielmehr zeigt sie, dass Selbsterkenntnis grausam, ihr helles Licht schwer zu ertragen ist. Mehr Klassik geht kaum.

Einen etwas harmloseren, wenn auch viel witzigeren Klassikunterricht bietet da Laura Gamberini an. In einem Schulzimmer im Belluard-Quartier erklärt sie ihren Schülern, dem Publikum, in 43 Minuten ein rund tausendseitiges Werk, die Nibelungen.

Laura Gambarini erzählt die Nibelungen in 43 Minuten.

Laura Gambarini erzählt die Nibelungen in 43 Minuten.

Bild: Vincent Guignet

Das Epos wird bei ihr zu einem Schlachtfeld, auf dem Thermosflasche, Putzlappen, Sonnenbrille oder Handyhülle zum Personal werden. Und auch wenn dieses Prinzip, die Verdichtung grosser Stoffe mittels Alltagsgegenständen, bereits von der englischen Gruppe Forced Entertainment in virtuoser Meisterschaft auf das Gesamtwerk Shakespeares angewandt wurde, ist diese Schulstunde doch die ideale Vorbereitung auf die kommenden Ring-Inszenierungen in Basel.

Das Theater Neumarkt wiederum thematisiert mit «EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz» ein Stück Geschichte des Landes. 2007 verdrängte Eveline Widmer Schlumpf ihren Parteiboss Christoph Blocher aus dem Bundesrat. Ein Eklat, der das Land und letztendlich auch die SVP spaltete. Julia Reichert und Piet Baumgartner inszenieren diese Ereignisse in einem Kammerspiel mit einer multiplen Eveline.

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Der Schlümpfe sind viele: «EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz» erntet auch am Schweizer Theatertreffen viel Applaus.

Bild: Philip Frowein

Bühnenbild, absurde Choreografien und Gesangs-Chörlein erinnern an Marthaler-Stücke; die Videoeinspielungen aus dieser turbulenten Zeit zoomen mitten in den Konflikt und hieven das Thema direkt in die Gegenwart. Wir werden daran erinnert, wie schwer und lange der Kampf der Frauen um einen Sitz im Bundesrat war. Und auch daran, dass es damals Grossdemonstrationen auf dem Bundesplatz gab, die von der SVP mehr politischen Anstand einforderten. Eveline Widmer Schlumpf erscheint in diesem Licht als Ikone des politischen Anstands.

Aus der Perspektive des gegenwärtigen Gender-Diskurses bot der Freitagabend dann einiges an Konfliktpotential. Das zeigten die Reaktionen der zahlreichen, mit dem Festival verbundenen Jugendlichen, die mit dem Bus nach Bulle gereist waren, um dort Carmelo Rificis Interpretation von «Les Liaisons dangereuses» zu sehen.

Carmelo Rifici inszeniert den französischen Bestseller des 18. Jahrhunderts, «Les Liaisons dangereuses», als theatrales Oratorium.

Carmelo Rifici inszeniert den französischen Bestseller des 18. Jahrhunderts, «Les Liaisons dangereuses», als theatrales Oratorium.

Bild: Luca Del Pia

Der italienische Regisseur, Dozent und Leiter des LAC in Lugano reichert den barocken Briefroman mit Texten von Pier Paolo Pasolini, Friedrich Nietzsche, Simone Weil und Antonin Artaud an, und stellt dieses Sprachgebirge ungefiltert auf die Bühne.

Opernhaft statisch rezitiert das italienisch sprechende Ensemble über zwei Stunden Wort für Wort in Mikrofone. Dank der Übertitelung können wir diesen Menschen folgen. Sie entstammen einer Zeit, in welcher sowohl die zartesten als auch die abgründigsten Gedanken in Sprache gegossen wurden. Es sind Menschen, die Gnade suchen vor ihrer eigenen Bösartigkeit; Menschen, die bereits vor 340 Jahren die Frage stellen, ob nun sie ihren Körper bewohnen oder der Körper sie.

Bei der anschliessenden Diskussion mit den Jugendlichen, stellte eine Teilnehmende die Frage, warum dieser stellenweise brutale Text nicht gendergerecht bearbeitet worden sei. Carmelo Rifici antwortete, er wolle eben gerade die Macht dieser Sprache aufzeigen, sie lesbar machen.

Wie wir mit dem Erbe dieser grandiosen Texte umgehen, diese Frage wird das Theater noch eine Weile beschäftigen.

Mangel und Vorteil eines tourenden Festivals

Die Krisen der Zeit, der radikale Umgang mit Klassikern, politische Vergangenheitsbewältigung – der Überblick über die ersten drei Tage am Schweizer Theatertreffen zeigt: Das Konzept, «aussergewöhnliche, diverse und politisch bemerkenswerte Produktionen aus allen Sprachregionen» zu bieten, kann auch mit der persönlichen Handschrift einer einzigen Kuratorin erfüllt werden. Die Klage, dass die ursprüngliche Idee einer Jury aus Theaterkritiker:innen fallengelassen wurde, ist müssig. Was zählt, ist das Resultat.

Dass das Festival auch in Zukunft jedes Jahr in einer anderen Sprachregion (dort aber jeweils am selben Ort) stattfinden wird, macht es ihm nicht leicht, das heimische Publikum zu aktivieren. Auch in Fribourg macht sich das bemerkbar, zumal hier die Hürde noch etwas höher liegt, da die Mehrzahl der Einwohner französisch spricht.

Der Nutzen eines sprachübergreifend tourenden Festivals wird aber ebenso ersichtlich. Das Programm macht nicht nur die jeweilige heimische Szene sichtbarer und bietet Vernetzungsmöglichkeiten. Für Angereiste gilt es neben einer interessanten, wunderschön gelegenen Stadt auch die vielen und erstaunlich gut ausgestatteten Theaterräume in der Umgebung von Fribourg  zu entdecken.

Vielleicht noch nicht ganz ins neue Konzept passt jedoch die aus früherer Zeit verbliebene Nennung einer Shortlist, also derjenigen Produktionen, die ebenfalls für eine Aufführung in Fribourg infrage gekommen wären, es aber nicht in die «Sélection» geschafft haben. Die Shortlist ist eigentlich ein Instrument jurierter Preise, nicht eines kuratierten Festivals. Die Liste suggeriert, die Einladung sei eine Auszeichnung, obwohl diese mittlerweile ja nurmehr von einer Person getroffen wird.

Kreisel oder Theater, lautet hier die Frage

Trotzdem ist der Blick auf ebendiese Liste erhellend. Er zeigt, wie viel mehr noch möglich wäre, was alles noch an Sehenswertem zwischen Bodensee und Lac Léman, zwischen Basel und Chiasso entdeckt wurde. Und man fragt sich: Wieso sind nur sieben, anstatt 21 Produktionen zu sehen?

Die Antwort: Die jährliche Schau des Schweizer Theaterschaffens wird hauptsächlich vom Bundesamt für Kultur und den austragenden Städten finanziert und ist derzeit mit einem Minimal-Budget von 700 000 Franken ausgestattet. Das entspricht etwa den Kosten eines durchschnittlichen Strassenkreisels. Ist der Schweiz ihr Theaterschaffen nicht mehr wert?


Schweizer Theatertreffen 2023, Fribourg, noch bis 4. Juni.