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Eigentlich wäre dies der Zugang zum Paradies: Die Fleugenmatt im Hinterrheintal.

Bild: Samuel Herzog

Unterwegs in Graubünden

Schlagbaum vor dem Paradies

Im Mai 2022 findet der Journalist Samuel Herzog 16 Postkarten aus dem Jahr 1966, geschrieben von einer Osamine, adressiert an Schaki Bùfftù, wohnhaft in Port-Louis, der Hauptstadt der fiktiven Insel Lemusa. Im Sommer 2022 unternimmt er eine Reihe von Ausflügen in die Gegenden, die auf den Postkarten von Osamine abgebildet sind. Er fotografiert und schreibt jeweils einen kurzen Text über das, was er selbst vor Ort erlebt.

Von Samuel Herzog

Hinterrheintal, 23.11.2022

10 min

Der Zugang zum Paradies ist mir verwehrt. Ein junger Mann mit einem Maschinengewehr steht mir im Weg und schüttelt den Kopf. Direkt hinter ihm, zwischen dem Wachhäuschen und dem Schlagbaum, lächelt ein mannshoher Schneemann mit Karottennase. Die Wache zieht bedauernd die Schultern hoch, dabei wölbt sich wie ein nutzloser Muskel die weisse Lederbinde auf ihrem Arm: «Es tut mir leid, aber ich kann Sie hier nicht durchlassen. Es ist zu Ihrem eigenen Schutz. Bei uns findet gleich eine grosse Übung statt.»

«Aber ist das hier denn nicht der Wanderweg?»

«Schon, aber nur am Wochenende. Wir haben eine Homepage, auf der steht immer, wann wir hier Manöver machen.»

«Na in dem Fall: Mea culpa!»

Ein zweiter Soldat eilt mit schnellen Schritten herbei. Er hat eine Glatze, einen Bart und ein Funkgerät in der Hand: «Was will er?», fragt er den Wachmann. Ich zeige an ihm vorbei in die Tiefe des Tals: «Ich will ins Paradies, das liegt dort, hinter der nächsten Biegung.»

«Du kannst da nicht durch. Gleich wird hier geschossen, scharf, und gesprengt, mit Granaten.»

Als habe er eine Illustration zu seiner Erklärung bestellt, rattert in dem Moment ein Panzer um die Ecke, stösst eine schwarze Dieselwolke aus und bremst. Die Wolke schwebt auf mich zu, fährt mir wie eine Gaze übers Gesicht, ein E-Panzer ist das auf jeden Fall nicht. Die Wache hebelt den Schlagbaum hoch, wobei das Gegengewicht den Schneemann umstösst.

«Ou, ou», lacht der Soldat mit der Glatze.

«Was für ein Drama, schon das erste Opfer», sage ich, doch meine Bemerkung geht im ohrenbetäubenden Brummen des Panzermotors unter. Ich springe von der Strasse und halte mir schnell die Ohren zu. Auch die Wache hält sich die Ohren zu. Der Mann mit der Glatze zieht nur die Augenbrauen hoch, wahrscheinlich ist er ein Profi, ein Instruktor, der sich von so einem kleinen Panzerkrach nicht aus der Ruhe bringen lässt.

Diesmal schwebt die schwarze Dieselwolke knapp an mir vorbei. Erst als das Ungetüm durchgefahren ist, merke ich, dass ich mit beiden Füssen in einer Lache aus Eiswasser stehe. Ich unterdrücke einen Fluch, lasse mir nichts anmerken.

«Wow, das ist ganz schön laut», sage ich. Der Glatzkopf lacht: «Siehst du. Gleich wird es hier noch sehr viel lauter. Besser, du gehst jetzt.»

Ich frage ihn, ob es wirklich keinen Weg am Schiessplatz vorbei ins hintere Tal gäbe, ins Paradies. Aber eigentlich habe ich keine rechte Lust mehr, hier weiterzugehen. Auch die Militärambulanz, die ein paar Meter weiter steht, verheisst nichts Gutes.

Alpenaustern schlürft man nicht, Samuel Herzog, FRIDA Magazin

Rückseite der Postkarte, die Osamine aus dem Hinterrheintal geschrieben hat.

Was wäre wohl passiert, wenn ich mit der jungen Chinesin hier aufgekreuzt wäre, die ich beim Nordeingang zum San-Bernardino-Tunnel auf dem Parkplatz kennengelernt habe? Ich war eben aus dem Bus gestiegen, als sie mir entgegentänzelte, eine Thermosflasche aus Glas in der einen Hand, ein riesiges Mobiltelefon in der anderen und ein seliges Lächeln im Gesicht, als sei ihr gerade das Glück selbst begegnet.

«Sie sehen ja unglaublich happy aus», rief ich ihr zu. Sie strahlte mich an und breitete dann tatsächlich die Arme aus, drehte sich einmal im Kreis, den Kopf leicht in den Nacken gelegt – wie im Film.

«Es ist der Schnee! Ich habe noch nie in meinem Leben Schnee gesehen! Es ist sooo schön! Ich habe sooolches Glück!»

«Ja, es ist wirklich hübsch, das frische Weiss, ein paar Sonnenstrahlen …», versuchte ich ihr beizupflichten. Es fällt mir immer schwer, auf so viel Begeisterung adäquat und nett zu reagieren.

Da schien ihr plötzlich etwas einzufallen und sie begann vor mir herumzuzappeln: «Ei, ei, ei, können Sie ein Foto von uns machen?»

Ich sah sie fragend an: «Uns?»

«Wait», rief sie, trippelte schnell zu ihrem Auto, einem kleinen weissen Mercedes mit einer deutschen Nummer, öffnete die Beifahrertüre, zog einen grossen Teddybären mit einem rosaroten Halstuch heraus, drückte mir ihr kirschblütenfarbenes Mobiltelefon in die Hand und stellte sich mit ihrem Tier vor dem Eingang zum Tunnel auf, die Serpentinen zum San Bernardino im Rücken. Sie stand leicht im Gegenlicht, doch das schien sie nicht zu stören. Ich machte ein paar Bilder und streckte ihr das Telefon hin.

Doch sie hüpfte wie elektrisiert zu ihrem Auto zurück, um ihren Compagnon wieder ins Warme zu setzen. Also trug ich ihr das Smartphone hinterher. Bevor Teddy wieder einsteigen durfte, machten wir noch ein Selfie zu dritt. Nun mit dem Restaurant hinter uns, einer Lieblosigkeit aus den Achtzigerjahren, mit einem Campanile, verbarrikadierten Türen und eingeschlagenen Fensterscheiben. Mia Colpa oder Colpa Mia hiess das Lokal zuletzt, so steht es noch vertikal auf dem Turm geschrieben, «meine Schuld».

Ich war einen Moment lang verführt, die Chinesin auf meinen Spaziergang einzuladen. Sicher hätte es ihr gefallen, da hinten im Tal, im «Paradies, wo der Rhein entspringt», wie Osamine die Gegend auf ihrer Postkarte nennt. Die Besucherin aus Port-Louis erzählt von einer «eisigen Fläche, über deren Glas das Sonnenlicht tausend Tänze aufführt». Das klingt wie die Beschreibung eines Gletschers. Ich frage mich, wo sie genau war. Der Wanderweg führt nämlich in einiger Distanz am Paradiesgletscher vorbei und biegt dann nach Norden in Richtung Zervreilasee ab.

Ob man das Eis von dieser Route aus sieht? Der Pfad führt auch an einer kleinen Hochebene vorbei, die auf meiner Karte ebenfalls Paradies heisst. Ob Osamine davon spricht? Zu gerne wüsste ich auch, wer Osamines «neuer Freund» wohl war. Er wird nur auf der Postkarte vom 15. Juni erwähnt. War er ein Bergführer? Eine Zufallsbekanntschaft aus dem Bus? Der Geliebte einer Nacht – immerhin waren das die Sechzigerjahre.

Plötzlich kam mir auch die junge Chinesin wie eine Osamine vor. Vielleicht würde sie am Abend per WeChat nach Hause schreiben, ein «neuer Freund» habe ihr heute das Paradies gezeigt.

Möglicherweise verzichtete ich deswegen dann doch darauf, sie auf meine Wanderung einzuladen. Oder weil ich befürchtete, sie würde es nicht tun?

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Vorderseite der Postkarte, die Osamine aus dem Hinterrheintal geschrieben hat.

Es knallt. Ein Schuss? Eine Explosion? Das Echo wird von den Felswänden hin- und hergeworfen, verzittert weiter hinten im Tal. Es klingt wie eine Lawinensprengung, aber dafür hat es zu wenig Schnee.

«Ich glaube, du gehst jetzt besser», sagt der Glatzkopf noch einmal, freundlich, aber bestimmt. Das war wohl die letzte Gelegenheit, dieses Jahr noch ins Paradies zu kommen. Für morgen sind vierzig Zentimeter Neuschnee angekündigt, dann sind die Wanderwege nicht mehr zu begehen.

Ich schlendere den Hinterrhein entlang zurück in Richtung ­Hauptstrasse – schön langsam, denn es soll ja nicht aussehen, als sei ich auf der Flucht. Meine Füsse fühlen sich wie Eisklumpen an, links kann ich meine Zehen schon nicht mehr spüren. Der Sommer ist definitiv vorbei.

Nach etwa hundert Metern kommt mir in den Sinn, dass ich vor lauter Panzerlärm und toten Schneemännern ganz vergessen habe, bei dem Schlagbaum ein Foto zu machen. Da kann ich jetzt nicht mehr zurück, sonst werde ich noch als Spion verhaftet. Ich steige durch Schneematsch auf eine Brücke und mache von da aus ein Bild, mit dem Hinterrhein im Vordergrund. Dabei habe ich das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun. In anderen Ländern ist das Fotografieren von Militäranlagen streng verboten, in der Schweiz sicher ebenso. Das wäre wohl auch eine interessante Perspektive: eine Reise durch Graubünden als – nun, warum nicht? – chinesischer Spion.

***

 

Sellerie

Bevor Osamine den Paradiesgletscher sichtet, geht sie durch eine «Schlucht mit Wänden, deren raue, nur da und dort mit etwas Gebüsch bewachsene Oberflächen» sie an Sellerieknollen erinnern. Mich haben auch die frisch mit Schnee behauchten Abhänge beim Schiessplatz Breewald schon an die Haut von Sellerie erinnert – aber ich hatte natürlich die Worte von Osamine im Kopf.

Im Alpenraum war Sellerie vielleicht schon in römischer Zeit bekannt. Im Mittelalter wurde er vor allem als Heilpflanze angesehen. Das Wissen um die kulinarische Verwendung der Knolle dürfte im Verlauf des 17. Jahrhunderts gleichzeitig mit neuen Sorten aus Italien in die Schweiz gelangt sein. Heute wird Sellerie allerorts in Graubünden angebaut und gehört zu den obligatorischen Zutaten einer echten Gerstensuppe.

 

 

Alpenaustern schlürft man nicht

Im Mai 2022 findet Samuel Herzog, Künstler und Journalist aus Zürich, bei einem Pariser Brocanteur einen Stapel von 16 Postkarten, geschrieben von einer Osamine, adressiert an Schaki Bùfftù, wohnhaft Rue de Bendalis 7 in Port-Louis, der Hauptstadt der fiktiven Insel Lemusa.

Die Vorderseiten der Postkarten sind mit unbeholfenen Aquarellen versehen, die verschiedene Gegenden im Graubünden zeigen. Auf den Rückseiten schildert Osamine ihre Abenteuer en route und oft auch ihre kulinarischen Erfahrungen. Über die Verfasserin ist so wenig bekannt wie über den Adressaten. Aufgegeben wurden die Karten allesamt am 27. Juni 1966 auf dem Postamt der Gemeinde Leumasnun. 

Im Sommer 2022 unternimmt Samuel Herzog eine Reihe von Ausflügen in die Gegenden, die auf den Postkarten von Osamine abgebildet sind. Er fotografiert und schreibt jeweils einen kurzen Text über das, was er selbst vor Ort erlebt.

Für das Kunsthausfest im Bündner Kunstmuseum am 26. November 2022 (mehr Informationen) entwickelt Herzog aus den kulinarischen Spezialitäten, die Osamine auf ihren Karten anspricht, eine Reihe von 16 verschiedenen Tischbildern. Tischbilder sind ornamentale oder narrative Arrangements aus verschiedenen Nahrungsmitteln, inszeniert auf schwarzen Unterlagen. Diese Bilder werden im Anschluss an ihre Erschaffung sofort verzehrt.

Die Postkarten von Osamine, die Texte und Bilder von Herzog und Fotografien der Tischbilder werden im Dezember 2022 zu einem Buch zusammengeführt, das kurz vor Weihnachten in der Edition Frida erscheint.