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Sandro Lunin bei der Eröffnung des Theaterfestivals Basel 2022.

Bild: Katharina Seibt

Sandro Lunin im Porträt

«Eine Matratze zum Schlafen reicht mir »

Sandro Lunin hat den internationalen Austausch von Tanz- und Theaterproduktion in der Schweiz die letzten Jahrzehnte massgeblich mitgeprägt. Nun läuft in Basel das vorerst letzte von ihm kuratierte Festival. Ein Rückblick auf den Werdegang dieses Spezialisten für globales Theaterschaffen.

Von Mathias Balzer

Basel, 25.08.2022

11 min

Den Rentner würde man ihm nicht geben. Aber doch ist es so: Sandro Lunin empfängt 2023 seine erste AHV-Zahlung. Dann wird er auf gut 40 Jahre Theaterarbeit zurückblicken. Aber im Schaukelstuhl in Erinnerungen schwelgend, so kann man ihn sich schwer vorstellen. Auf die Zukunft befragt, beginnt der einnehmend freundliche Mann denn auch gleich loszusprudeln. Davon aber später mehr.

Wir treffen uns in der Gartenbeiz der K-Bar auf dem Kasernenareal in Basel, eine Woche bevor das Theaterfestival startet. Das letzte unter Lunins künstlerischer Leitung. Obs die Sonne ist, ein sonniges Gemüt oder einfach die Gelassenheit des Routiniers – Lunin wirkt locker: «Ich lass mich nicht mehr von allem nervös machen.» Auch wenn es grad Probleme beim Aufbau des neuen Festivalpavillons gibt.

Er freut sich auf den baldigen Start. In unzähligen Zoom-Sitzungen haben er und fünf Kuratorinnen und Kuratoren aus Japan, Indien, der Schweiz und Südafrika gemeinsam das diesjährige Programm zusammengestellt. «Es wird spannend, das Resultat jetzt endlich gemeinsam sehen zu können.»

Er hat nicht nur Fans

Klar, dass die diesjährige Festivalausgabe seine Handschrift trägt. Von 17 Produktionen sind gerade mal drei aus der Schweiz. Lunin ist mittlerweile einer der versiertesten Kenner der Theater-, Tanz- und Performance-Szenen in Europa und im globalen Süden. Als er vom Zürcher Theater Spektakel ans Rheinufer wechselte war Vielen klar: Wo Lunin draufsteht, sind der Mittlere Osten, Afrika, Südamerika und zeitgenössischer Zirkus drin. Freund:innen des europäischen Theaterkanons oder der Schweizer Theaterszene kann das schon mal zu viel werden.

Als Lunin die Kasernenleitung übernahm, wetterte Andreas Tobler in der «Sonntagszeitung»: «Das Beste am Theater Spektakel war in den letzten zehn Jahren die Gastronomie. Und das Wetter, wenn es mitspielte. (…) Dem hiesigen Theaterschaffen konnte der 1958 geborene Lunin zuletzt keine wichtigen Impulse geben. Weder in Bern noch in Zürich. Seine Berufung an eines der wichtigsten Produktionshäuser der Schweiz entspricht deshalb einer Niederlage fürs Theater.»

Darauf angesprochen reagierte Lunin damals mit einem Achselzucken. Er weiss, dass die Präsenz der Basler Theater- und Tanzszene in seinem Spielplan ein anderes Bild vermittelt. Die Zahl hiesiger Produktionen, die er als Theater- und Festivalleiter in den vergangenen Jahrzehnten ermöglicht hat, würde genauso ein Buch füllen, wie die von ihm geförderten internationalen Produktionen.

Postkolonialist von der Wiege an

Er sieht sich selbst mehr als Gastgeber und Förderer, denn als Lieferant künstlerischer Impulse. Polemik ist nicht sein Feld. Er redet lieber in unscheinbaren Tönen. Austausch, Kooperation, Freundschaft sind Worte, die er oft gebraucht. In Gesprächen mit ihm entsteht der Eindruck, dass da einer im Stillen konsequent Netzwerke aufbaut, ohne seine dezidiert linke, vom postkolonialen Diskurs durchtränkte Haltung wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Im politisch links geprägten internationalen Festivalbetrieb ist das auch kaum nötig. Seine klare politische Haltung hat aber vielleicht auch einen anderen Hintergrund als diskursive Moden: Lunin wurde eine gehörige Portion Postkolonialismus bereits in die Wiege gelegt.

Sein Grossvater mütterlicherseits stammt von polnischen Juden ab, die 1905 vor Pogromen in die Schweiz flüchteten. Als holländische Kolonialisten waren die Mitglieder der Familie seiner Grossmutter mütterlicherseits Jahrzehnte in Indonesien tätig. «Die Grossmutter mütterlicherseits war eine sehr vergeistigte Frau, hat sich mit indischen Religionen auseinandergesetzt, hat Mandalas mit Seide gestickt und Teezeremonien veranstaltet.»

In den bewegten 1980igerjahren begann Lunin seine Theatertätigkeit als Techniker und Regieassistent am Theater Neumarkt. Anschliessend leitete er in der kollektiv geführten Roten Fabrik in Zürich die Sparte Theater für Junges Publikum und gründete mit Franco Sonanini Blickfelder, das damals grösste Schweizer Festival für junges Publikum. Bereits in der Roten Fabrik hat er einen Schwerpunkt mit Theater von Menschen mit Migrationshintergrund veranstaltet.

Die Jahre in Bern

Die alternative Zürcher Kulturszene, das Theater der Roten Fabrik, ein Festival: Erste starke Fäden für den Aufbau eines Netzwerks waren schon geknüpft, als Lunin 1997 die Ko-Leitung des Schlachthaus Theaters Bern übernahm.

Die neue Leitung des Theaters Altes Schlachthaus in Bern (v.l.n.r.) Stefan Schrade, Sandro Lunin, Urs Rietmann und Friedrich A. Roesner, aufgenommen im Ami 1997. Die kuenstlerisch-administrative Leitung des neukonzipierten Alten Schlachthaus in Bern ist am Donnerstag, 15. Mai 1997 vom Traegerverein Interessengemeinschaft Altes Schlachthaus bekannt gegeben worden. Das Haus des Freien Theaters fuer Erwachsene sowie fuer Kinder und Jugendliche im Alten Schlachthaus ist ein erstes konkretes Resultat des kulturpolitischen Konzepts des Berner Gemeinderats fuer die Jahre 1996 bis 2008. (KEYSTONE/FRANCOIS GRIBI)

Die neue Leitung des Theaters Altes Schlachthaus in Bern (v.l.n.r.) Stefan Schrade, Sandro Lunin, Urs Rietmann und Friedrich A. Roesner, aufgenommen 1997.

Bild: Francois Gribi/Keystone

«Mich interessierte damals, wie man ein solches Haus über die lokale und nationale Szene hinausdenken kann. Welche gesellschaftlichen Debatten spiegeln sich in dieser Kunst? Einerseits war damals der Palästina-Konflikt sehr präsent. Mich persönlich hat er immer beschäftigt, gerade wegen meiner jüdischen Herkunft.» Andererseits habe die Schweizer Hauptstadt anfangs Nullerjahre die erste grössere Migrationswelle von Menschen aus Afrika erlebt, verbunden mit den üblichen Vorurteilen, mit welchen die erste Einwanderergeneration meist zu kämpfen habe: Drogenhandel und Prostitution.

«Gleichzeitig existierten in dieser Zeit seltsame Vorstellungen über Theater, Kunst und Tanz vom afrikanischen Kontinent. Viele belächelten diese und dachten, die könnten etwas tanzen und vielleicht auch etwas `theöterlen`. Das waren völlig verfehlte und klischierte Vorstellungen, die mit der Wirklichkeit dieses Kontinents überhaupt nichts zu tun hatten.» Ihnen begegnete der Theaterleiter, indem er Programmreihen mit Produktionen aus dem globalen Süden einführte und Künstler:innen aus dem Nahen Osten, West- und Südafrika Residenzen in Bern ermöglichte. Lunin hatte den Ort gefunden, wo er seiner Passion nachgehen konnte.

Der Mann der Netzwerke

Damals begann seine intensive Reisetätigkeit, die bis heute nicht nachgelassen hat.  Wie viele Male er auf dem afrikanischen Kontinent gewesen sei? «Keine Ahnung», er habe nie gezählt. Worauf er jedoch zählen konnte, war ein bereits bestehendes Netzwerk. Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia betreibt seit 1988 Verbindungsbüros auf anderen Kontinenten. Für den afrikanischen waren damals die Büros in Kairo und Johannesburg wichtig. Pro Helvetia habe bereits damals sehr innovativ agiert, weil die Stiftung begann, die Leitungspositionen dieser Büros mit Kulturexpert:innen aus den jeweiligen Ländern zu besetzen, so Lunin. «In diesem Netzwerk gab es immer spannende Auskunftspersonen, die einen an spezielle Orte brachten und mich mit interessanten Künstler:innen verknüpften.»

Der Schweizer Theater- und Festivalkurator, der mit gefüllter Kasse Entwicklungsländer bereist: Ist das nicht auch eine problematische Ausgangslage?

«Es besteht ein gigantisches ökonomisches Gefälle. Das ist nicht zu leugnen. Es gibt in sehr wenigen Staaten Subventionen in unserem Sinne. Wenn etwas gefördert wird, dann wird in das kulturelle Erbe, aber nicht in die zeitgenössische Kunst investiert. Damit muss man umgehen», sagt Lunin. Der beste Weg sei Transparenz in Sachen Budget und Produktionsbedingungen. Und es brauche hundertprozentiges gegenseitiges Vertrauen. Wichtig sei, dass sich das ökonomische Gefälle nicht als Machtgefälle innerhalb einer Produktion wiederhole.

Für Lunin geht es bei seiner Tätigkeit um mehr, als den Einkauf interessanter, hipper oder exotischer Produktionen. Er sieht sich nicht als Jäger auf der Suche nach der im europäischen Festivalbetrieb noch unbekannten, genialen Theaterproduktion. «Es geht nicht darum, schnell, schnell etwas zu veranstalten.» Vielmehr gehe es um den Aufbau langfristiger Arbeitsbeziehungen. «Einige dauern nun bereits über 15 Jahre an. Etwa mit dem südafrikanischen Choreografen Boyzie Cekwana oder der ägyptischen Autorin und Regisseurin Laila Soliman, um nur zwei Beispiele zu nennen.»

Wenn nicht Theater-Jäger, dann eher kultureller Entwicklungshelfer? Da kommt ein entschiedenes «Nein!». Entwicklungshilfe sei ein gefährliches Wort. «Diese Künstler:innen brauchen keine Entwicklungshilfe, ihr kultureller Reichtum ist gross genug! Ich suche Formen der Kooperation, der Entwicklung gemeinsamer Plattformen, des intellektuellen Austausches. Das hat mit klassischer Entwicklungshilfe nichts zu tun.»

Brosamen für den Kulturaustausch

Und doch: Gehören diese Künstler:innen nicht zu einer Elite, die per Flugzeug an europäische Festivals reisen kann, währenddessen alle anderen Migrant:innen das Schlauchboot nehmen müssen?

Lunin findet den Vergleich äusserst problematisch: «Gerade während den Kriegen in Syrien oder Afghanistan mussten viele Künstler:innen auf beschwerlichen Routen die Heimat verlassen. Und Viele müssen dies immer noch auf diesem Weg tun, weil sie unter politischer Verfolgung leiden und das Botschafts-Asyl abgeschafft wurde.» Zudem sei es ja auch so, dass dieser internationale Austausch auf universitärem und vor allem wirtschaftlichen Level ebenfalls laufe. «Unsere Volkswirtschaft, die Pharma- oder Rohstoffindustrie, wird ja auch durch Gelder gespiesen, die in diesen Ländern verdient werden. Im Vergleich zu diesen Geldflüssen fallen für die Förderung des kulturellen Austausches immer noch nur ein paar Brosamen ab.»

Haltung, fundierte Kenntnisse und langer Atem sind dem Theatermann nicht abzusprechen. Rote Fabrik, Schlachthaus Bern, Zürcher Theater Spektakel und nun seit 2018 die Kaserne Basel. Lunin hat seine Berufung an so einflussreiche Stellen genutzt, um kontinuierlich an seinem internationalen Netzwerk, seinen weitläufigen Kooperationen und letztendlich auch an künstlerischen Freundschaften zu arbeiten.

Sandro Lunin und sein team eröffnen das Theaterfestival Basel

Sandro Lunin und sein Team eröffnen das Theaterfestival Basel 2022.

Bild: Mathias Balzer

Auch wenn es sich um gut bezahlte Jobs handelt: Ständig auf Achse zu sein, Orte wie den Iran, den Nahen Osten, die Länder südlich der Sahara zu bereisen, ist nicht nur ein Zuckerschlecken. Da braucht es als Motor mehr als etwas Reiselust. Was also treibt ihn nun seit vierzig Jahren an? Die Antwort kommt in so leidenschaftlichem Ton, dass man sie ihm gerne abnimmt:

«Die grandiose Arbeit der Künstler:innen! Dass ich das Glück habe, ihnen zu begegnen, vor Ort, im Kontext, in dem sie arbeiten, einen Austausch zu entwickeln und zu sehen, wie sich das gegenseitig auswirkt.» Für ihn seien diese Begegnungen immer wieder riesige Augenöffner. «Dazu brauche ich keinen Komfort. Eine Matratze zum Schlafen reicht mir.»

Und ja: Sein Interesse an dieser Arbeit speist sich klar auch aus gesellschaftlich politischen Anliegen. «Für mich ist die schlimmste Vorstellung, wenn Staaten und Menschen nicht mehr kommunizieren. Wir erleben in Europa ja gerade, was es heisst, wenn nationalistische Abschottungsprozesse und Vernichtungskriege in Gang gesetzt werden.»

Die Anforderungen sind gestiegen

Und obwohl in Theater, Tanz und Kunst der internationale Austausch zugenommen habe, werde dieser eher wieder schwieriger. Gerade seit der Pandemie seien die Anforderungen, den europäischen und schweizerischen Grenzwall zu passieren, grösser geworden. «Wenn immer mehr Schweizer Botschaften zusammengelegt werden, bedeutet das konkret, dass Künstler:innen hunderte von Kilometern reisen müssen, um nur schon einen Visa-Antrag stellen zu können.» Für viele Veranstalter:innen werde dieser Aufwand zu gross, sowohl organisatorisch wie finanziell.

Wie den Austausch zu organisieren ist die eine Frage. Ob dieser auch das hiesige Publikum interessiert, die andere. Die guten Verkaufszahlen am laufenden Festival in Basel oder auch am Theater Spektakel Zürich sprechen seit Jahren eine deutliche Sprache. Das Theater- und Tanzpublikum nimmt die Gelegenheit zum Austausch sehr wohl war, auch wenn es nicht immer einfach ist, Codes aus anderen Kulturen zu entschlüsseln. Natürlich sei Vorwissen über kulturelle oder politische Eigenheiten einer Region von Vorteil, so Lunin. «Aber letztendlich geht es auch um verschiedene Schichten der Wahrnehmung. Vorwissen ist keine Grundvoraussetzung. Im Gegenteil kann uns die Kunst ja dazu animieren, uns mit der Kultur, mit Politik- oder Gesellschaftsthemen anderer Weltregionen näher zu beschäftigen.»

Flugzeugsitz oder Schaukelstuhl?

Mit Blick auf den Spielplan des aktuellen Festivals zeigt sich auch: Die Zeiten, in denen globaler kultureller Austausch noch von Exotismus geprägt war, sind definitiv passé. Die Begegnung findet mittlerweile auf Augenhöhe statt, denn auch die Themen haben sich globalisiert: Menschenrechte, Sexualpolitik, Identitätskonstruktion, aber auch der Kampf um Mitbestimmung oder die Verarbeitung von Kriegen gehen uns alle etwas an. Und in Zeiten, in denen totgeglaubte Spielarten des Nationalismus wiederauferstehen, braucht es weiterhin Expert:innen für den kulturellen Austausch. Was aber macht Sandro Lunin in Zukunft mit seiner Erfahrung und seinem Wissen?

Er werde seine Kontakte und Freundschaften sicher weiterpflegen, sagt der baldige Rentner. «Mich interessiert vor allem, wie es gelingt, kulturelle Zentren, Produktions- und Residenzräume an Orten zu betreiben, wo keine staatliche Unterstützung fliesst. Es geht um die Frage, wie wir diese Orte nachhaltig sichern können.»

Also doch eher Flugzeugsitz als Schaukelstuhl. Auch wenn Letzteres durchaus auch angesagt wäre. Sandro Lunin hat eine Tochter, die wiederum Mutter geworden ist. «Eine sehr schöne Erfahrung, noch einmal eine ganz neue Generation erleben zu können.»