Den Rentner würde man ihm nicht geben. Aber doch ist es so: Sandro Lunin empfängt 2023 seine erste AHV-Zahlung. Dann wird er auf gut 40 Jahre Theaterarbeit zurückblicken. Aber im Schaukelstuhl in Erinnerungen schwelgend, so kann man ihn sich schwer vorstellen. Auf die Zukunft befragt, beginnt der einnehmend freundliche Mann denn auch gleich loszusprudeln. Davon aber später mehr.
Wir treffen uns in der Gartenbeiz der K-Bar auf dem Kasernenareal in Basel, eine Woche bevor das Theaterfestival startet. Das letzte unter Lunins künstlerischer Leitung. Obs die Sonne ist, ein sonniges Gemüt oder einfach die Gelassenheit des Routiniers – Lunin wirkt locker: «Ich lass mich nicht mehr von allem nervös machen.» Auch wenn es grad Probleme beim Aufbau des neuen Festivalpavillons gibt.
Er freut sich auf den baldigen Start. In unzähligen Zoom-Sitzungen haben er und fünf Kuratorinnen und Kuratoren aus Japan, Indien, der Schweiz und Südafrika gemeinsam das diesjährige Programm zusammengestellt. «Es wird spannend, das Resultat jetzt endlich gemeinsam sehen zu können.»
Er hat nicht nur Fans
Klar, dass die diesjährige Festivalausgabe seine Handschrift trägt. Von 17 Produktionen sind gerade mal drei aus der Schweiz. Lunin ist mittlerweile einer der versiertesten Kenner der Theater-, Tanz- und Performance-Szenen in Europa und im globalen Süden. Als er vom Zürcher Theater Spektakel ans Rheinufer wechselte war Vielen klar: Wo Lunin draufsteht, sind der Mittlere Osten, Afrika, Südamerika und zeitgenössischer Zirkus drin. Freund:innen des europäischen Theaterkanons oder der Schweizer Theaterszene kann das schon mal zu viel werden.
Als Lunin die Kasernenleitung übernahm, wetterte Andreas Tobler in der «Sonntagszeitung»: «Das Beste am Theater Spektakel war in den letzten zehn Jahren die Gastronomie. Und das Wetter, wenn es mitspielte. (…) Dem hiesigen Theaterschaffen konnte der 1958 geborene Lunin zuletzt keine wichtigen Impulse geben. Weder in Bern noch in Zürich. Seine Berufung an eines der wichtigsten Produktionshäuser der Schweiz entspricht deshalb einer Niederlage fürs Theater.»
Darauf angesprochen reagierte Lunin damals mit einem Achselzucken. Er weiss, dass die Präsenz der Basler Theater- und Tanzszene in seinem Spielplan ein anderes Bild vermittelt. Die Zahl hiesiger Produktionen, die er als Theater- und Festivalleiter in den vergangenen Jahrzehnten ermöglicht hat, würde genauso ein Buch füllen, wie die von ihm geförderten internationalen Produktionen.
Postkolonialist von der Wiege an
Er sieht sich selbst mehr als Gastgeber und Förderer, denn als Lieferant künstlerischer Impulse. Polemik ist nicht sein Feld. Er redet lieber in unscheinbaren Tönen. Austausch, Kooperation, Freundschaft sind Worte, die er oft gebraucht. In Gesprächen mit ihm entsteht der Eindruck, dass da einer im Stillen konsequent Netzwerke aufbaut, ohne seine dezidiert linke, vom postkolonialen Diskurs durchtränkte Haltung wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Im politisch links geprägten internationalen Festivalbetrieb ist das auch kaum nötig. Seine klare politische Haltung hat aber vielleicht auch einen anderen Hintergrund als diskursive Moden: Lunin wurde eine gehörige Portion Postkolonialismus bereits in die Wiege gelegt.
Sein Grossvater mütterlicherseits stammt von polnischen Juden ab, die 1905 vor Pogromen in die Schweiz flüchteten. Als holländische Kolonialisten waren die Mitglieder der Familie seiner Grossmutter mütterlicherseits Jahrzehnte in Indonesien tätig. «Die Grossmutter mütterlicherseits war eine sehr vergeistigte Frau, hat sich mit indischen Religionen auseinandergesetzt, hat Mandalas mit Seide gestickt und Teezeremonien veranstaltet.»
In den bewegten 1980igerjahren begann Lunin seine Theatertätigkeit als Techniker und Regieassistent am Theater Neumarkt. Anschliessend leitete er in der kollektiv geführten Roten Fabrik in Zürich die Sparte Theater für Junges Publikum und gründete mit Franco Sonanini Blickfelder, das damals grösste Schweizer Festival für junges Publikum. Bereits in der Roten Fabrik hat er einen Schwerpunkt mit Theater von Menschen mit Migrationshintergrund veranstaltet.
Die Jahre in Bern
Die alternative Zürcher Kulturszene, das Theater der Roten Fabrik, ein Festival: Erste starke Fäden für den Aufbau eines Netzwerks waren schon geknüpft, als Lunin 1997 die Ko-Leitung des Schlachthaus Theaters Bern übernahm.