Mach's Titelbild mit San Keller.

Essen mit San Keller

Unterwegs im Atelier des Pop-Art-Buddha

San Keller ist der erste Gast in unserer Performance-Reihe «Mach’s». Er schenkt unseren Leser:innen eine Performance-Anleitung, und wir haben ihn zum Essen eingeladen. Der Künstler wählt dafür einen Fussmarsch in unbekannt-vertrautes Terrain – sowohl konzeptuell wie künstlerisch und kulinarisch.

Von Mathias Balzer

Basel, 31.03.2022

14 min

Die Künstler:innen, die Kurator Chris Hunter einlädt, in diesem Magazin eine Performance-Anleitung zu veröffentlichen, treffen wir alle zum Gespräch. Die Gäste dürfen wählen, wo wir sie zum Essen einladen. Gourmettempel, Lieblingsbeiz, Kebab-Stand, Picknick oder selber kochen: alles ist möglich. San Keller, der erste Gast, schreibt: «Wow, freue mich auf das Essen! Mir ginge am 8.3. am Abend gut! Sollen wir uns in Basel treffen? Habe das GA und bin mobil. Du holst mich am Bahnhof ab und wir spazieren so lange, bis wir ein passendes Lokal gefunden haben ;-).»

San Keller erscheint pünktlich. 18.32 Uhr. Er trägt Kappe und Daunenjacke, ein Bein der Cordhose länger als das andere. Schweres Schuhwerk. Es geht die Biese. Und es ist Fasnachtsdienstag. Im Vorfeld hatte er angekündigt, dass wir noch die Ausstellung von Ramon Feller im «Mayday» kurz anschauen werden. Ein Ausstellungsraum im Hafengelände, Höhe Dreiländereck, 2,5 Kilometer vom Bahnhof entfernt. Keller ist unter anderem Spezialist dafür, unkonventionelle Situationen für das Publikum zu entwerfen. Er mag Kontrollverlust. Spontanität. Sein Werk ist immer mit der Frage verknüpft, in welchem Kontext es erscheint. Keller findet, der Künstler habe die Aufgabe, eben diesen Kontext mitzubestimmen und dadurch auf bestehende Systeme in der Kunstwelt, aber auch in der Gesellschaft einzuwirken.

Performances zum Selbermachen

FRIDA schenkt ihren Leser:innen zwölf Performances zum Selbermachen. In unserer vom Künstler Chris Hunter kuratierten Serie «Mach’s» stellen wir zwölf Performance-Künstler:innen aus der Schweiz vor. Wir laden sie dafür zum Essen ein. Im Gegenzug präsentieren die Künstler:innen jeweils eine Performance-AnleitungDie erste Performance-Anleitung hat San Keller verfasst. Du findest sie am Ende dieses Artikels.
Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt.
Nach einem Jahr werden die zwölf Performances samt Euren Erlebnissen in einer Publikation dokumentiert.
Es ist ganz einfach: «Mach’s»!



«Lass uns da lang gehen», sagt er vor dem Bahnhofsgebäude und biegt links ab. Wir marschieren nicht durch die karnevaleske Innenstadt, sondern aussen rum, über die Schützenmatt, Kannenfeld und Volta bis über die Dreirosenbrücke, um von dort an den Hafen zu kommen.

Der Schweizer Regisseur Stephan Kaegi, Mitglied von Rimini Protokoll, schreibt über diesen Künstler: «San Keller ist die Pop-Art-Version eines Buddhas. Er stellt eine Frage und schaut dem Opfer beim Rätseln zu. Wer das Rätsel nicht löst, hat gewonnen.» Andere nennen den gebürtigen Berner, Jahrgang 1971, einen Dienstleistungskünstler. Berühmt seine Performance Mitte Neunzigerjahre, als er neben der Tagesschausprecherin bei – damals noch – SRG auf dem Fussboden schlief, während sie die Nachrichten verlass. Andere Dienstleistungen Kellers sind (eine kleine Auswahl): ein Coiffeur-Salon im Museum mit Keller als Haareschneider. Ein Beichtstuhl für Protagonisten der Kunstwelt. Das Vergraben von Design-Stücken, die den Schweizer Designpreis gewonnen haben. Eine Fitness-Liege, bei der die Hanteln mit Büchern über Konzeptkunst bestückt sind.

Kein Atelier, dafür ein eigenes Museum

Meist sind die Werke vergänglich wie Theaterstücke. Keine Kunstware für den Markt. Dafür hat Keller seit 2008 ein eigenes Museum. Es befindet sich in der Wohnung seiner Eltern Marianne und Fritz Keller im bernischen Köniz, in einem unscheinbaren dreistöckigen Mehrfamilienhaus, und beinhaltet lückenlos das gesamte Frühwerk von 1985 bis 1995 sowie wichtige Werke aller Schaffensphasen bis heute. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Dienstleistungsangebote, wie «San Keller demonstriert mit ihrer Botschaft in New York» (1999), oder «San Keller tanzt in Paris zu ihrer Musik» (2000).

Er müsse nun aber eine Lösung für das Museum finden, erzählt er beim Fussmarsch. Seine Eltern ziehen nach Interlaken und seien dabei, ihren Hausrat zu entrümpeln. Das Aargauer Kunsthaus biete vorerst einmal Hand, so Keller. «Die gesamte Sammlung wird dort gezeigt. Aber nur in einem verpackten Zustand.» Dann soll sie auf Reisen gehen. «Privatpersonen können sich melden, um das Museum bei sich zu Hause zu präsentieren. Dabei mache ich keine Auflagen. Es muss einfach öffentlich zugänglich sein.»

Keller hat zwar ein Museum, aber ein Atelier hat er nicht. «Für kurze Zeit hatte ich eines in der Roten Fabrik in Zürich, aber das war mehr eine vorgezogene Midlife-Crisis.» Sein Atelier sei sein Kopf. «Und vielleicht noch dieser kleine Rucksack mit Laptop. Oder das hier.» Er zeigt in die Umgebung, den urbanen Raum, spricht vom Reisen und Unterwegssein. Wir wandern durch sein Atelier.

San Keller versteht seine Kunst als Dienstleistung. Dafür betätigt er sich auch mal als Friseur.

San Keller versteht seine Kunst als Dienstleistung. Dafür betätigt er sich auch mal als Friseur.

Bild: Sandino Scheidegger

Keller lebt und arbeitet seit seinem Kunststudium in Zürich, und hat mit seiner Partnerin einen Sohn, der eben gerade ausgezogen ist. Und natürlich lebt Keller nicht nur von Liebe, Kunst und Spass. Seit fünf Jahren leitet er an der Hochschule Luzern den Lehrgang Kunst & Vermittlung. «Gemeinsam mit Sebastian Utzni. Zusammen sind wir San Sebastian.» Solche Humoresken streut Keller in einen Exkurs zur Frage, wie er, der leidenschaftliche Kritiker und Verspotter jeglicher Strukturen und Systeme, sich im Bildungssystem zurechtfindet.

Beispielsweise, wenn er ein Diplom in Hochschul-Didaktik nachholen muss. «Dann wird daraus ein Projekt. Teil desselben sei eine Neujahrskarte gewesen, die er und Co-Leiter Sebastian allen anderen Dozent:innen persönlich vorbeigebracht oder zumindest persönlich in den Briefkasten geworfen haben. «Eine wichtige Frage, in der Kunst und im Leben, ist ja, wofür wir unsere Zeit verwenden, wofür wir welchen Aufwand betreiben.» Natürlich hätten sie den Weihnachtsgruss auch per E-Mail verschicken können. So seien sie jedoch eine ganze Woche in der Schweiz unterwegs gewesen und hätten gesehen, wo Kunst-Dozent:innen wohnen (die meisten in der Stadt).

Das Werk und gleich den Shop dazu

Was braucht denn eine junge Künstler:in, um in der Kunstwelt Fuss zu fassen? «Ein Werk und gleich den Shop dazu.» So Kellers knappe Antwort. Damit meint er nicht unbedingt eine Galerie oder die Selbst-Vermarktung auf Instagram. «Ich meine damit, dass ein:e Künstler:in heute das Umfeld, indem er sein/ihr Werk präsentiert, in dem sein/ihr Werk Wirkung entfalten soll, mitdenken muss. Wir fragen unsere Student:innen zuerst danach, was genau sie eigentlich interessiert, welche Themen brennen. Erst danach geht es um die Frage, wie etwas umgesetzt wird.» Die Kunstwelt biete da für vieles den richtigen Rahmen. Es müsse aber nicht ausschliesslich die Kunstwelt sein, in die ein Student oder eine Studentin nach dem Studium eintritt. Genauso interessant sei es, wenn eine Absolventin die Denkschule aus dem Kunstbereich, auf andere gesellschaftliche Bereiche ausdehne und diese dort anwende. «Wer lernen will zu malen, oder zu bildhauern, ist bei uns am falschen Ort.»

Sagt’s, überquert die Strasse und betrachtet den neuen Pavillon von Herzog&Demeuron am Rande des Novartis-Campus, bemerkt die «orientalische Spielerei» an der Fassade und macht sich zugleich Gedanken über eine gewisse Saturiertheit in der Basler Kunstszene, gefördert von zahllosen Stiftungen. Keller sagt:

«Da riecht es dann in vielen Ateliers nach frischem Parkett.»

Er ziehe die Rauheit und den Trash einer Roten Fabrik vor. Oder den dynamischen Austausch von Kunst- und kommerzieller Kreativszene. Stiftungen und öffentliche Förderungen seien oft durch konzeptuelle Korsetts eingeschränkt und würden der Aktualität hinterherhinken, die Kunsthochschulen ebenso. Sagt er, Mitglied der eidgenössischen Kunstkommission und Dozent. Keller bleibt in Bewegung, sucht die Reibung mit der Gegenwart, wendet sich auch hier gegen die Geschlossenheit und Trägheit von Systemen, die in ihrem eigenen Saft blubbern. Wir kommen im «Mayday» an.

Im Kunstraum an der Hafenstrasse brennt noch Licht. Rundherum «Industrie-Romantik», bemerkt Keller. Die Kuratorin Eva-Maria Knüsel hat extra für uns geöffnet, erklärt die Ausstellung «Before We Think» von Ramon Feller. Keller hat blitzschnell den Überblick über die Bilder und kynetische Objekte, stellt einige Bezüge her. Wir bekommen Wegzehrung. Bier und Pistazien. Reden über Kulturjournalismus und Keller kurz darüber, wie er noch an der in FRIDA veröffentlichten Performance-Anleitung arbeitet. Form und Inhalt, Konzept und Sprache, die Rolle des Künstlers, Bezug zur Tradition solcher Anleitungen: Keller durchdenkt alles minutiös.

«Jetzt müssen wir aber los. Es ist 20.45 Uhr.» Beim Ausgang sehen wir durch grosse Fenster in ein kleines Architekturbüro. «Auch eine Ausstellung», meint Keller und marschiert voran, aber nicht denselben Weg zurück in die Stadt, sondern erst durch eine vollgesprayte Fussgängerunterführung, vorbei an Industriegebäuden, wieder ins Quartier hinein. «Also, die erste Beiz, die kommt, die nehmen wir.»

Mit San Keller im Restaurant «Rheinhafen» in Basel.

Mit San Keller im Restaurant «Rheinhafen» in Basel.

Bild: Mathias Balzer

Die Fenster im «Rheinhafen» sind mit Vorhängen abgedunkelt. Keller öffnet trotzdem die Türe. «Hallo?» Es brennt Licht. Ein vollkommen leeres Restaurant. Klinkerboden. Gelb gedeckte Tische. Blaue Stühle träumen vom Meer. Die Wirtin meint mit slawischem Akzent: «Natürlich ist die Küche offen. Bis zehn Uhr.» Wir bestellen Fleischkäse mit Spiegelei und Pommes Frites, Keller noch einen Salat, französisch. Dazu trinken wir Bier und reden über Schlaf, ein grosses, wiederkehrendes Thema in Kellers Werk.

Ihn hätte immer das Bild der Häuser interessiert, in welchen Menschen in scheinbar geschützten Rahmen schlafen, ein Bett haben, sich immer zur selben Zeit hinlegen. Ihn interessiere Schlaf als quasi rituelle Leerstelle, als Geheimnis in einem von Konventionen geprägten Alltag. Und wir sprechen über ihn als Dienstleister in der Kunstwelt.

«Ich misstraue der Figur des einsam Schaffenden, dem Künstler als Einzelgänger, als Genie.»

Keller versucht, Erfahrungen der eigenen Freiheit und sein Ringen um diese dem Publikum zugänglich zu machen. Als «effizientes» Werk sieht er beispielsweise die Performance «San Keller trägt sie hoch zur Kunst», in der er Menschen ins Museum trägt, letztmals 2018 im Museum Tinguely in Basel. Das Konzept sei klar und überschaubar: Der Künstler erscheint als Dienstleister einer Kunstinstitution. «Im Moment der Performance aber geschieht nochmals etwas ganz anderes: Zwischen ihm und der getragenen Person kommt es zu einem emotionalen Austausch, zu völlig unvorhersehbaren Reaktionen.»

Keller erzählt auch noch von einem seiner jüngsten Projekte «Was liest …», bei welchem er wieder einmal als Hausierer aufgetreten sei. Im bernischen Niederbipp, in der Grossüberbauung Lochergut in Zürich und im Urserental im Kanton Uri zog er von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung, klingelte und fragte, ob hier gelesen werde. Falls ja, bat er um Erlaubnis, die Doppelseite, wo das Lesezeichen im Buch drinsteckt, zu fotografieren. Diese Textstellen sammelte er in einer Publikation, die ausschliesslich am Ort des Geschehens besichtigt werden kann. Soziale Interaktion, Dorf- oder Hochhausporträt, Publikation, Performance und Installation überkreuzen sich in typisch kellerscher Manier.

Die Teller sind leer, Bier und Espresso getrunken, wir müssen bald los. Aber wir reden auch noch über ihn als Tänzer und Leiter der San Dance Company, die nur bei Regen tanzt. Keller selbst tritt in verschiedenen Performances als Tänzer, in einigen auch als Sänger auf. Er selbst sei in Sachen Musik nicht wählerisch, sicher auch von House und Techno tanzsozialisiert, aber zu wenig Drogenkonsument, um Raver zu sein.

Trams fahren wegen der Fasnacht keine durch die Innenstadt, dafür der Strecke entlang, die wir zuvor gelaufen sind. Bevor er einsteigt, sagt Keller: «Ich werde gut schlafen im Zug.»


San Keller empfiehlt diese Performance zum Selbermachen

Mach's Anleitung mit San Keller.

Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt.
Nach einem Jahr werden die zwölf Performances samt Euren Erlebnissen in einer Publikation dokumentiert. Es ist ganz einfach: «Mach’s»!

Anlässe mit San Keller:
Billing: Performance im Rahmen der Ausstellung «Entrepreneurship oder die Verheissung des brotlosen Glücks», Montag, 18.4.2022, 15 Uhr, Kunstraum Riehen, Baselstrasse 71, 4125 Riehen.

Was liest das Urserental? Lauch Reader mit Lesewanderung, Sonntag, 15.5.2022, 10.15 Uhr, Treffpunkt: Bahnhof Andermatt

Werden sie zum «Museum San Keller» auf Zeit: Infoanlass zum Museum San Keller mit abschliessendem Apéro, im Rahmen der Ausstellung «Davor Darin Danach», Donnerstag, 2.6.2022, 18.30 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, 5001 Aarau.

Bis auf Weiteres:
Was liest Niederbipp? Reader, Tea-Room Bieri, Dürrmühlestrasse 4, 4704 Niederbipp, zu den regulären Öffnungszeiten.

Was liest das Lochergut: Reader, Reseda-Lochergut, Badenerstrasse 230, 8004 Zürich, zu den regulären Öffnungszeiten.