Die Hütte über dem Aujiweg bei Saas im Prättigau.

Die Hütte über dem Aujiweg bei Saas im Prättigau.

Bild: Samuel Herzog

Mit Herzog durch Graubünden

Saas im Prättigau (Schweiz) Aujiweg

Im Mai 2022 findet der Journalist Samuel Herzog 16 Postkarten aus dem Jahr 1966, geschrieben von einer Osamine, adressiert an Schaki Bùfftù, wohnhaft in Port-Louis, der Hauptstadt der fiktiven Insel Lemusa. Im Sommer 2022 unternimmt er eine Reihe von Ausflügen in die Gegenden, die auf den Postkarten von Osamine abgebildet sind. Er fotografiert und schreibt jeweils einen kurzen Text über das, was er selbst vor Ort erlebt.

Von Samuel Herzog

Saas, 17.08.2022

8 min

«Bist du Günther?», höre ich eine knorrige Stimme hinter mir. Ich drehe mich um. Vier ältere Leute stehen da in einer Reihe, zwei Frauen und zwei Männer in farbiger Outdoorkleidung, das Neuste vom Neuesten, aber mit Hüten wie aus einer anderen Zeit. Wegen des lauten Windes, der heute von der Weissfluh her durch das Prättigau knattert, habe ich sie nicht kommen hören. Mir ist das Quartett allerdings vor ein paar Minuten schon am Rande des Spazierwegs aufgefallen, der von Saas der Landquart entlang bis nach Klosters hinaufführt. Schenkel an Schenkel sassen sie auf einer kleinen Bank, etwas steif, als warteten sie auf eine Anweisung. Sie sahen mir aufmerksam entgegen. Ich nickte ihnen zu, als ich an ihnen vorüberging, und hatte das Gefühl, dass ihre Blicke mir folgten.

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Rückseite der Postkarte, die Osamine aus dem Prättigau geschrieben hat.

Dann aber entdeckte ich über dem Weg einen alten Walser Stadel, der malerisch unter dem gewittergrauen Himmel lag. Das Häuschen sah ähnlich aus wie das Hüttchen, das Osamine auf die Rückseite ihrer Postkarte aus dem Prättigau gezeichnet hatte. War es denkbar, dass sie hier die Begegnung mit dem «Garçon avec les yeux d’un Japonais» hatte, der ihr ein Stück «glasiges Rinderherz mit Erdbeeressig» offerierte? Kleine Walderdbeeren wachsen zuhauf am Ufer der Landquart. Etwas weiter oben im Tal habe ich eine junge Frau beobachtet, die sich konzentriert durchs Gebüsch kämpfte und schon eine ganze Tüte voll der süßen Früchtchen gesammelt hatte, sicher ein Kilogramm.

Auch eine Rinderherde habe ich gesehen, bei Klosters, schöne, pechschwarze Kühe, Kälber und ein massiger Stier. Sie wirkten völlig ruhig. Auch wenn sie sich bewegten, geschah es ohne Geräusch. Einen Moment lang kam ich mir vor wie in einem Film, wenn die Tonspur fehlt. Dann krähte auf dem nahen Bauernhof ein Hahn.

Rund um den Stadel allerdings sieht es nicht aus, als habe hier in letzter Zeit Vieh gegrast, zu viele Büsche und kleine Bäume. Keine Spur also von den «braunen, wie mit dem Pinsel angemalten Kühen», die Osamine hat grasen sehen.

Ich kletterte durch kniehohes Gras die Böschung hinauf bis zu einem Absatz, von dem aus ich den Stadel gut fotografieren konnte. Er schien schon länger unbenutzt, das Dach war eingefallen, überwuchert. Ich wartete, bis die Sonne sich wieder zeigen würde, um ein schönes Foto zu machen. Vom Gebirge her war dann und wann Donner zu hören und ich begann mich zu sorgen, ob ich es wohl noch trocken bis zum Bahnhof von Saas schaffen würde.

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Vorderseite der Postkarte, die Osamine aus dem Prättigau geschrieben hat.

«Günther? Bist du Günther?». Der Sprecher schaut mich an, hoffnungsvoll und vielleicht auch etwas böse. Wie ein Soldat beim Appell ist er einen Schritt vorgetreten. Er hat einen rötlichen, brustlangen, eckig zugeschnittenen Bart und trägt einen Tirolerhut, aus dessen Band statt einer Feder eine Art Badeente am Stiel ragt, leuchtend gelb mit rotem Schnabel.

«Nein, ich bin nicht Günther.»

«Du hast also nichts mit dieser Hütte zu tun?»

«Nein, habe ich nicht, nicht wirklich.»

«Das ist doch die Hütte von Günther.»

«Das kann ich Ihnen nicht sagen, sieht eher unbewohnt aus.»

«Sie müssen wissen, wir warten schon zwei Stunden», beginnt sich der Mann jetzt plötzlich aufzuregen. Sein Gesicht wird rot und die Ente auf seinen Hutrand wackelt gefährlich. Die Frau zu seiner Linken tritt nun ebenfalls einen Schritt vor und legt beruhigend ihre Hand auf seinen Unterarm.

«Ich glaube, der Herr hat nichts mit der Sache zu tun?»

«Wenn ich Ihnen behilflich …»

«Sie sind aus der Gegend? Kennen Sie sich mit Pilzen aus?»

«Ich? Weder …»

Jetzt zückt der Mann ein kleines Messer und fuchtelt damit vor meiner Nase herum. «Wir sind Myc, Myc, Myc …», stottert er und läuft noch röter an.

«Pilzliebhaber, will mein Mann sagen. Wir haben uns hier mit einem Günther verabredet, der uns ein Cœur de Bœuf, ein Ochsenherz zeigen will.»

«Ein Herz?»

«Das ist ein grosser Baumpilz. Essbar, wenn er jung ist. Aber Sie sind ja nicht Günther – oder doch?»

«Nein, sorry.»

«Siehst du», sagt sie und schaut ihren Mann mit einem Lächeln an: «Wir müssen einfach noch etwas Geduld haben.» Dann wendet sie sich dem anderen Paar zu: «He is not Günther, he keeps saying, we have to wait.»

«Oh, we knew it», freuen sich die zwei im Chor: «He can certainly not be Gunther!»

Der Mann mit der Gummiente steckt das Messer weg, wendet sich grusslos ab und stampft wütend durchs Gras davon, gefolgt von dem englischen Paar. Die Frau lächelt mir etwas gequält zu, nuschelt «Sorry, Verwechslung» und eilt ihrer Gruppe hinterher.

Ich bleibe leicht verwirrt zurück und frage mich, warum ich nicht Günther sein kann? Was an mir ist so beschaffen, dass es zu einem Günther nicht passen könnte? Einen kurzen Moment lang überlege ich, ob ich nicht vielleicht doch Günther bin – und sei es nur aus Protest gegen das Verdikt, es «certainly» nicht sein zu können.

Doch dann kehre ich zu wichtigeren Fragen zurück. Wäre es möglich, dass Osamine hier gar nicht ein fleischliches Rinderherz gekostet hat, sondern einen in Essig eingelegten Baumpilz? Vielleicht sollte ich mich den vier älteren Herrschaften anschliessen, mit ihnen die Bäume nach einem Cœur de Bœuf absuchen. Andererseits: Wenn mich der Mann mit dem Pilzmesser aufkreuzen sieht, wird er wohl meinen, ich sei doch Günther und glauben, ich wolle mich über ihn lustig machen. Und wenn er mich in seiner gekränkten Wut totsticht, dann nützt es mir herzlich wenig, dass ich nicht Günther bin.

 

Ochsenherz

Ich habe in deutschen, französischen und englischen Pilzbüchern nach einem Rinderherz gesucht – vergeblich. Bekannt ist eine Tomate, die Ochsenherz heisst, und eine Ochsenzunge (Fistulina hepatica), bei der es sich tatsächlich um einen Baumpilz handelt, der jung essbar ist, aber unangenehm sauer schmecken soll. Möglich also, dass die vier Mycologen, aus welchen Gründen auch immer, auf einer doppelt falschen Spur waren.

In der Fleischabteilung gibt es beim Rinderherz weniger Missverständnisse. Das Herz ist ein fast völlig fettfreier Muskel und kann in feine Scheiben geschnitten auch sehr gut roh verzehrt werden. Nimmt man etwas Essig als Würze dazu und stellt sich dann noch einen «Garçon avec les yeux d’un Japonais» vor, dann sitzt man schon fast an einer Sushi-Bari in Tokio.

 

 

Alpenaustern schlürft man nicht

Im Mai 2022 findet Samuel Herzog, Künstler und Journalist aus Zürich, bei einem Pariser Brocanteur einen Stapel von 16 Postkarten, geschrieben von einer Osamine, adressiert an Schaki Bùfftù, wohnhaft Rue de Bendalis 7 in Port-Louis, der Hauptstadt der fiktiven Insel Lemusa.

Die Vorderseiten der Postkarten sind mit unbeholfenen Aquarellen versehen, die verschiedene Gegenden im Graubünden zeigen. Auf den Rückseiten schildert Osamine ihre Abenteuer en route und oft auch ihre kulinarischen Erfahrungen. Über die Verfasserin ist so wenig bekannt wie über den Adressaten. Aufgegeben wurden die Karten allesamt am 27. Juni 1966 auf dem Postamt der Gemeinde Leumasnun. 

Im Sommer 2022 unternimmt Samuel Herzog eine Reihe von Ausflügen in die Gegenden, die auf den Postkarten von Osamine abgebildet sind. Er fotografiert und schreibt jeweils einen kurzen Text über das, was er selbst vor Ort erlebt.

Für das Kunsthausfest im Bündner Kunstmuseum am 26. November 2022 (mehr Informationen) entwickelt Herzog aus den kulinarischen Spezialitäten, die Osamine auf ihren Karten anspricht, eine Reihe von 16 verschiedenen Tischbildern. Tischbilder sind ornamentale oder narrative Arrangements aus verschiedenen Nahrungsmitteln, inszeniert auf schwarzen Unterlagen. Diese Bilder werden im Anschluss an ihre Erschaffung sofort verzehrt.

Die Postkarten von Osamine, die Texte und Bilder von Herzog und Fotografien der Tischbilder werden im Dezember 2022 zu einem Buch zusammengeführt, das kurz vor Weihnachten in der Edition Frida erscheint.