Ruedi Häusermann, Musiker, Regisseur. Fotografiert in der Alten Reithalle im Aarau für Frida Magazin

Der Musiker und Regisseur Ruedi Häusermann im Gespräch über seinen Werdegang, Humor und die ungebrochene Kraft der Kunst.

Bild: Roland Schmid

Gespräch mit Ruedi Häusermann

«Kunst schenkt einem etwas, was man nicht kennt, aber auch nicht gerade den Tod bedeutet»

Ruedi Häusermann ist einer der wichtigsten Figuren in der Schweizer Musiktheaterszene und über die Schweiz hinaus. Gerade feiert sein aktuelles Stück «Schauplatz der Kunst» Premiere an der Bühne in Aarau und gibt Einblick ins Leben derer, die als Flaneure oder als Nichtsnutze wahrgenommen werden: Ins Leben von Künstler:innen also.

Von Anja Nora Schulthess

Aarau, 07.09.2022

18 min

In Aarau sprach ich mit Ruedi Häusermann über sein künstlerisches Selbstverständnis, Selbstausbeutung in der freien Szene, und was es braucht, damit Musik und Kunst mehr ist als eine Verdoppelung dessen, was man schon kennt. Oder wie Häusermann lachend sagt: «Eine Verdoppelung des Elends».

Ruedi Häusermann, in Ihrem aktuellen Stück «Schauplatz der Kunst» geht es ums Flanieren als Lebensentwurf. Was ist ein Flaneur und sind Sie einer?

Ruedi Häusermann: Der Flaneur ist ein Beobachter, der herumzieht. Er hat seinen Beruf selber gewählt, ist zum Beispiel Schriftsteller und schult mit dem Flanieren seine Wahrnehmung. «Flaneur» ist bei uns nahe am Wort «Nichtsnutz»: Das ist einer, der nichts macht. Und das ist bei uns das Thema, dass der Flaneur einen anderen Beruf hat. Das war Robert Walsers Thema, dessen Texte mich seit je her begleiten: Wie werde ich wahrgenommen von der Gesellschaft? Walser hat einmal geschrieben: «Die Wirtin sagt: Man sieht sie immer spazieren. Ich habe nicht so gerne Leute, die eigentlich nichts tun, als den ganzen Tag Pläne schmieden.» Es ist für Menschen, die so leben, teilweise schwer in dieser Gesellschaft zu bestehen. Wenn man nicht gleichzeitig Erfolg hat. Und es gibt nur wenige Künstler, die so viel Erfolg haben, dass eine breite Gesellschaftsschicht das überhaupt wahrnimmt.

Hat das Flanieren etwas Subversives?

Es hat natürlich schon etwas Subversives. Wenn man der Beobachter ist, hält man die Wirtschaft nicht in Gang. Es geht darum, für sich selbst, die Selbstverständlichkeit zu erarbeiten, dass das, was man macht, auch ein Beruf ist und nicht ein Hobby. «Ja, was machen sie denn sonst noch?» – Diese Frage kenne ich gut. Man fragt das einen Maurer niemals. Am «Schauplatz der Kunst», wie ich es jetzt nenne, wohnen diese Flaneure, dort wohnt die Literatur, die Lichtkunst, die Szenerie, die Musik und die Schauspielkunst. Also alle Leute, die etwas produzieren, das keinen direkten Wert hat. Also nicht: Dieses Brot ist gebacken und du kannst das Brot haben und zahlst dafür.

Bei einer solchen Produktion, bei der verschiedene Flaneure zusammenkommen, braucht es aber auch einen, der das alles zusammenbringt – einen mit einem Plan.

Klar. Das ist dann das Theater selber. Die Flaneure im echten Leben, die will niemand. Der Flaneur möchte eben nicht im Militär sein, der will alles selber machen. Wir erzählen vom Flaneur. Und ich bin der Regisseur, also der Erfinder von diesem Theaterstück und der Musik. Es ist für mich ein Traum, das zu machen, meine Welt so darstellen zu können.

Insofern würden Sie sich selbst als Flaneur bezeichnen, als einer, der beobachtend durch die Welt geht?

Wenn Sie meine Familie fragen würden, würde sie sagen: Der ist einfach immer unterwegs. Unterwegs im Denken, unterwegs im Kreieren, unterwegs im Machen. Ich verehre den Flaneur, aber ich glaub, ich bin keiner (lacht). Vielleicht interessiert er mich deshalb so.

Aus Ruedi Häusermanns neustem Stück «Schauplatz der Kunst _ Plädoyer für den Flaneur», Bühne Aarau_Frida Magazin

Aus Ruedi Häusermanns neustem Stück «Schauplatz der Kunst – Plädoyer für den Flaneur». Bild: Luca Schaffer

Wie kamen Sie zu Musik und Theater?

Ich habe über einen grossen Umweg zu den Sachen gefunden, die ich jetzt mache. Ich habe normale Schulen besucht, Ökonomie studiert und abgeschlossen, bis ich gemerkt habe: Das ist einfach nicht das Richtige. Dann habe ich Musik studiert. Aber dieses Szenische, etwas Ausdenken und Arrangieren, das war immer schon ein grosses Interesse. Schon in der Schule ging es mir hauptsächlich darum, dass ich irgendwo in der Mitte stehen und die anderen zum Lachen bringen konnte. Das war eigentlich meine grösste Anstrengung während der ganzen Schulzeit, und wenn wir in ein Lager gegangen sind, dann habe ich dort eine Band zusammengestellt und so leider alles andere in der Schule vernachlässigt. Das Szenische hat mich also immer begleitet, und dann nahm das immer mehr Platz in meinem Leben ein. Zusammen mit dem Maler Giuseppe Reichmuth haben wir jahrelang kleine Theaterstücke gemacht. Das war wie eine Lehre.

Ich war nie in einer Regelschule, ich war nie in einer Theaterschule, ich habe auch nicht gelernt, wie man eine Probe leitet.

1985 sind Sie (Giuseppe Reichmuth und Ruedi Häusermann) als Polizisten verkleidet, Hand in Hand durch Zürich spaziert. Was war die Motivation für diese Aktion gerade zu dieser Zeit in Zürich?

Natürlich, das war wichtig, das waren diese 80er, «Züri brännt». Aber wir waren keine politischen Menschen. Wir waren dort am Minimal Festival an der Oper Zürich, wo John Cage dabei war und «European Opera» aufführte. Wir wurden eingeladen, eine Produktion zu machen. Und wir haben eigentlich gar niemandem gesagt, was wir machen. Wir nannten unser Projekt damals «Bleu et gentil» – blau angezogen und sehr höflich – eine «Patrouillen-Performance». Niemand hat gewusst, was das sein soll. Wir hatten perfekte Polizistenuniformen. Uns dann am kleinen Finger einharken, das ist eine so kleine Veränderung und bedeutet so wahnsinnig viel. Wir haben eine Woche lang patrouilliert und dabei wahnsinnige Sachen erlebt.

In dieser Geste verschränkt sich dann das komische Detail mit dem Subversiven.

Ja, klar.

Also doch politische Menschen.

Klar, waren wir es trotzdem. Wir haben etwas getroffen. Das ist eben der Künstler, der trifft etwas, aber der muss dann nicht die politische Abhandlung schreiben. Und vor allem war es eben auch lustig.

Und wie war die Reaktion vom Auftraggeber? Fanden die das witzig?

Jürg Woodtli, der das Theaterspektakel leitete, er ist mittlerweile verstorben, hat gewusst, was wir machen und damals in der Präsidialabteilung der Stadt gearbeitet. Das wurde ein kleiner Skandal, weil die Polizei sich natürlich wahnsinnig beschwert hat, sie hätten es ja sowieso schon schwer genug, und nun stelle die Stadt praktisch jemanden an, um sie zu verarschen. Aber wir blieben recht verschont. Wir sind natürlich dauernd angefragt worden, das wieder zu machen, im Fernsehen und Werbung und so weiter. Aber wir haben es nie mehr gemacht. Das war schön, aber das war eine von vielen kleinen Sachen. Dann kam mein erstes Stück «Schritt ins Jenseits» zusammen mit Giuseppe Reichmuth, der mir geholfen hat. Das war der Anfang meiner Musiktheaterwelt.

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Ruedi Häusermann (links) und Giuseppe Reichmuth bei der Performance «Bleu et gentil», Zürich, 1985. Bild: zvg

Was waren Ihre Inspirationsquellen?

Ich habe klassische Musik studiert. Nach dem Studium war ich schon 25, das war eigentlich schon alt, um Musik zu studieren. Auch dort musste ich meinen eigenen Weg finden. Ich habe dann mit irrsinnig tollen Jazzmusikern gespielt, aber das war Free Jazz, das war einfach eine Befreiung von Konventionen. Wir mussten uns selbst lösen. Das würde ich nie mehr machen, jetzt.

Warum?

Wenn man älter wird und seinen Weg gefunden hat, dann hat man es gar nicht mehr nötig, solche Anti-Musik zu machen. Free Jazz ist eine Art Anti-Musik. In der DDR beispielsweise war das eine hoch entwickelte Szene. Oder in Amerika die Afroamerikaner, die diese Musik einfach deshalb gemacht haben, weil sie nicht denen gefallen wollten, die sie im Grunde nicht richtig leben liessen. Aber wir waren ja in einer Luxuswelt, bei uns war das eher eine persönliche Geschichte. Natürlich ist Free Jazz ein wichtiger Rucksack geworden. Aber das waren natürlich auch ganz spezielle Grüppli von Leuten, die das überhaupt hören wollten. Und die meisten professionellen Musiker hatten wenig Zeit, wir konnten gar nicht wirklich proben. Das war mit ein Grund, warum ich mich gefragt habe: Wie könnte man mit dem musikalischen Bewusstsein noch einmal in eine andere Welt hineinkommen und so hat das mit dem Theater wieder angefangen.

Gab es Vorbilder in der Theaterszene?

Nein.

Anti-Vorbilder?

Nein. Es war reines Interesse: Gibt es für das, was ich musikalisch denke, eine Entsprechung in Bildern und Szenen? Am Theater Neumarkt habe ich meine ersten Sachen gemacht. Dort waren tolle Leute, die mir freie Hand liessen, auszuprobieren – immer mit Musik. So kam ich mit Schauspielern zusammen, und wir haben Szenen entwickelt. Plötzlich entwickeln sich Geschichten, die vor einem liegen. Ich habe bis heute nie eine Projektionsfläche gesucht, ich wollte nicht über Nazis reden, ich wollte auch nicht über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg reden. Sondern ich habe versucht, über das zu reden, was bei mir ist, was ich weiss. Das, was links und rechts ist, weiss ich ja sowieso nicht gut.

Wie wichtig ist die eigene Herkunft?

Ein grosser Rucksack war auch die Welt, in der ich aufwuchs. Ich bin in einer Handwerkerfamilie aufgewachsen, ich war viel mit Leuten zusammen, die eine ganz andere Sprache hatten als diejenige, die wir jetzt sprechen. Das ist aber eine tolle Sprache. Ich hatte Freunde in den Tälern oben, im «Wynetal», wo ich an den Stammtisch in diese Beizen konnte, dort haben diese Leute geredet miteinander – dieses Luzernische, wo man sich denkt: Das ist zwar meine Sprache, aber worüber reden die? Und das war so eine eigenartige Welt und eine eigenartige Mischung aus Freundschaft und Feindschaft und Intelligenz und Dummheit und Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit und dann doch wieder grosse Herzlichkeit. Das war eine Mischung, die mich wahnsinnig fasziniert hat.

Bei Ihren Arbeiten gibt es oft diese Verschränkung von Humor und Poesie. Das feine Detail, ein falscher Ton, etwas Unerwartetes.

Mich interessiert einfach dieser Bierernst nirgends, nicht in der Musik, nicht in der Malerei, nirgends. Das heisst nicht, dass alles lustig sein muss. Aber es gibt keinen Ernst ohne Humor. Natürlich, das könnte man jetzt sicher auch widerlegen. Aber ich meine «bierernst» im volkstümlichen Sinne: Sektiererisch sein, nur das, nur Free Jazz machen, daneben gibt es nichts. So kapselt man sich dermassen ab, dass man gar nicht mehr richtig lebt und bei den Leuten ist.

Ruedi Häusermann, Musiker, Regisseur. Fotografiert in der Alten Reithalle im Aarau, Frida_Magazin

Der Musiker und Regisseur Ruedi Häusermann mit seinem Regieplan in der Alten Reithalle in Aarau.

Bild: Roland Schmid

Wie kommen Sie zu diesen skurrilen Einfällen? Zum Beispiel für das aktuelle Stück?

Ich habe jetzt natürlich lange an dem gearbeitet und vorbereitet (zeigt einen zusammengefalteten Szenenplan, Notizen, winzige Handschrift, farbige Zettelchen). Das ist ein Ablauf, den ich dauernd verändere, heute schreib ich das vielleicht neu. Wir erzählen eine Oberflächengeschichte: Eine Ausstellung entsteht. Das ist eine Scheingeschichte, die mir theatralische Handlungen schenkt, die die Musik nicht machen muss. Musik darf vollkommen ernst bleiben, sie hat nicht die Aufgabe, lustig zu sein. Und dann, wenn diese Menschen an der Ausstellung arbeiten, entsteht der Humor – das kommt einem einfach in den Sinn. Der Humor ist eigentlich immer etwas Gemeines. Es ist immer eine Demütigung: «Lueg, jetzt gheit sie de grad um!» Und dieser dort merkt nicht, dass die Leiter wackelt und man hat so eine Möglichkeit, das wieder zu brechen und in einen Ernst hineinzukommen und das muss sich nicht mischen. Das ist eben auch das Tolle daran, was ich hier machen darf. Einerseits Szenerie, die viel auffangen kann und auf der anderen Seite Texte und Musik, die nichts müssen, die keine Unterhaltung bieten müssen.

Wie sieht dieser Schaffensprozess aus, bevor die Proben beginnen?

Der erste und wichtigste Teil ist die Musik selber und meine Kompositionen, an denen ich seit Jahren arbeite. Durchs Theater habe ich die Möglichkeit, Leute einzuladen, Musiker:innen einzuladen, mit denen ich nachher einen Monat oder sechs Wochen zusammen bin. Das heisst, dass ich in diesen sechs Wochen einen Klang entwickeln kann, den ich sonst niemals entwickeln könnte. Die Musiker freuen sich, in eine szenische Welt hineinzukommen, die ihnen mehr oder weniger fremd ist, und die Schauspieler freuen sich, in eine musikalische Welt hineinzukommen, die ihnen mehr oder weniger fremd ist. Und das gibt irgendwie eine «Feinheit» miteinander – nicht der König und der «Under». Man hilft einander. Musik ist das Erste: Ich habe eine Musik und dann suche ich etwas dazu, und dann lese ich zwei Jahre im Hinblick auf eine solche Idee etwa Walser und lasse mir Zeit.

Ist es ein Luxus, Zeit zu haben als Künstler?

Das ist etwas, was mich wirklich beschäftigt: Wenn man Erfolg hat, hat man Glück und ist recht entlastet. Dann lassen sie einen und sagen: «Weisst Du, der braucht jetzt Zeit, lass den nur, der muss jetzt da nachdenken.» Aber von den allermeisten Künstlern hört man gar nichts, und es hat so tolle Leute, die wahnsinnig gut malen, denken, komponieren, schreiben. Und dieses Leben ist genauso wichtig.

Und es wäre wichtig, dass eine Gesellschaft diese Leute begrüsst und ihnen einen Platz einräumt.

Wir spielen jetzt hier viermal, da gehen 250 Leute hin. Natürlich haben wir immer Schiss: Hoffentlich kommen die Leute. Das ist nie sicher. Auch hier, im Theater, gibt es Stars, aber das sind ganz ganz wenige und wir sind in so einem Mittelfeld von einer garantierten Qualität – aber das ist immer noch eine Liebhabergeschichte, eine Nische.

Was soll Musik oder Theater leisten für eine Gesellschaft? Muss sie etwas leisten?

Es kommt natürlich darauf an, welche Musik. Es gibt Musik, die ist nur ein Kommentar und wickelt einen um den Finger. All die Leute, die den ganzen Tag Kopfhörer anhaben, spalten sich eigentlich ab von der Welt, und wenn ich höre, was die in den Autos für Musik hören, dann ist diese Musik eine reine Verdoppelung – eine Verdoppelung vom Elend (lacht). Nicht nur! Ich weiss schon, es gibt irrsinnig guten Hip-Hop, aber es gibt so viel Katastrophales. Die Musik, die einen braucht, bei der es Zuneigung und Hinneigung braucht, dort wird es interessant. Aber das ist gegenseitig, dass sich in der Zuneigung ein anderer Blick entwickelt. Das leistet Musik oder Theater, wenn es eben nichts will, sondern eine Atmosphäre schafft. Sie haben das vorher Poesie genannt. Aber Poesie ist nicht eine Abteilung, das muss man erschaffen. Und wenn Sie das mitmachen als Zuschauerin, dann ist das etwas, was nur die Live-Kunst leisten kann: Zwei Stunden sind reserviert. Das Licht geht aus. Und wir haben den Fokus. Und wir garantieren eine Qualität. Das ist für mich ganz wichtig in der modernen Kunst, dass die Leute, die diese moderne Kunst noch nicht kennen, sicher sein können, dass das Qualität ist und nicht «Bschiss».

Aus Ruedi Häusermanns neustem Stück «Schauplatz der Kunst __Plädoyer für den Flaneur»_Bühne Aarau_Frida_Magazin

Szene aus Ruedi Häusermanns neustem Stück «Schauplatz der Kunst - Plädoyer für den Flaneur» an der Bühne Aarau.

Bild: Christian Kaufmann

Oft hat das mit Unverständnis zu tun.

Auch das ist ein grosses Thema.

Mit der modernen Kunst kann man wahnsinnig bescheissen. Weil man verstehst nichts.

Und dort wird’s ganz gefährlich für die ganze künstlerische Gegenwart. Man musst vertrauen können, auch wenn es einem überhaupt nicht gefällt. Kunst schenkt einem etwas, was man nicht kennt, aber nicht grad den Tod bedeutet. Man sieht nicht grad den Abgrund, wo man ausrutschst und runterfällt. Es ist ein geistiges Kennenlernen und ein Testen: Schaff ich es oder muss ich nächstens weinen, und dann geh ich raus. Das habe ich natürlich viel erlebt. Dass die Leute sagen: «Wollt ihr uns verarschen? Ihr wollt uns doch verarschen.» Da kann man nichts machen. Wenn die Leute denken, der will mich verarschen, dann denken sie überall, sie werden verarscht. Und darum wollen sie nur die Verdoppelung dessen, was sie schon wissen. Darum bleiben sie stehen. Und wenn etwas Schlimmes passiert, jemand stirbt zum Beispiel, dann können sie das nicht auffangen.

Sie haben sehr viele verschiedene Bühnen und Häuser bespielt, auch grosse Häuser im Ausland. Wie war diese Erfahrung?

Man wird plötzlich ein wenig gehypt. Man weiss gar nicht, wie das kommt und was das ist. Und dann kam ich an die Volksbühne Berlin oder ans Burgtheater in Wien. Und wenn man dort Regisseur ist, dann wird man auf Händen getragen, gehst drei Wohnungen anschauen (lacht). Ich kam eigentlich gar nicht «nache», ich hab immer nur meine Sachen gemacht und hatte immer Carte blanche. So hatte ich immer Glück. Das ist natürlich toll an so einem Theater, da sind manchmal 200 bis 300 Leute, die dort arbeiten, Ton, Licht, Requisiten, Kostümabteilung, Schlosserei, Schreinerei, das ist wahnsinnig, ein Ort, wo ich dann auch nie diese Geldsorgen hatte. Man hat ein Budget, das darf nicht überschritten werden. Das ist beruhigend. Weil einfach das Geld da ist.

Das ist bei freien Produktionen anders.

Diese Halle hier in Aarau ist ein Bijou, topausgerüstet, und dass wir das hier machen können, ist wahnsinnig toll. Aber als freie Gruppe muss man etwas erfinden, um dieses Volumen zu füllen, damit das nicht mickrig wird. Man musst ein Thema haben, das auch ein grosses Thema werden kann. Und dazu braucht es Geld. Man arbeitet und arbeitet und ist aber dauernd von der Unsicherheit begleitet, dass das Geld vielleicht nicht reicht. Noch bevor das erste Gesuch um Unterstützung gestellt werden kann, steckt schon sehr viel Arbeit im Projekt. Die Mitwirkenden reservieren ein Jahr im voraus die Probezeit, sagen andere Anfragen ab und wenns dann nicht klappt mit der Finanzierung, kann es wirklich ganz bitter aussehen.

Das ist immer auch ein schwelender Konflikt zwischen grossen Häusern und der freien Szene, die recht stark aneinander vorbei funktionieren, mal prekärer, mal weniger. Sie bewegen sich ja zwischen diesen Feldern.

Es ist eine politische Sache: Wenn man nicht halb sterben will vor lauter Arbeit, dann können freie Gruppen einfach kleine «Produktiönli» machen. Ich will nicht ins Jammern kommen, aber das ist kulturpolitisch eine wichtige Frage: Wie kann man das lösen, wenn der Kanton Aarau so ein Wahnsinnstheater hinstellt: Wie kann man das betreiben?

Wenn man da wirklich eine Qualität hineinzaubern will, dann muss diese Bettelei aufhören. Das ist tödlich, das mach ich nicht mehr.

Was kommt nach dem «Schauplatz der Kunst»?

Ich arbeite gerade fürs Kammerspiel München mit Gerhard Polt zusammen, das nächste Stück, «A scheene Leich». Übers Sterben und das Geschäft mit dem Sterben. An so einem grossen Haus ist die Öffentlichkeitsarbeit und die Weiterverbreitung eines Werks eine Selbstverständlichkeit, das gehört dazu. Aber was haben die freien Gruppen für eine Öffentlichkeit? Wir in unserm Fall hier hätten natürlich in den zwei Jahren Arbeit an «Schauplatz der Kunst» jemanden anstellen müssen, der sich darum kümmert, dass wir mit dem Stück an Festivals auftreten können. Wenn das nicht passiert, weil man diese Person gar nicht bezahlen kann, dann spielen wir dieses Stück viermal und dann heisst es: «Danke, war super». So ist es eben. Das grenzt manchmal fast an «Fledderei», dass man mit dem was in der Kultur passiert nicht wirklich umgehen kann, dass man so ein Werk nicht eine gewisse Zeit am Leben halten kann.

«Schauplatz der Kunst – Plädoyer für den Flaneur», Freitag, 9. bis Sonntag, 11. September 2022. Bühne Aarau.