Geboren 1981 in Santos, Brasilien, lebte Renata Carvalho bis vor sechs Jahren dort. Heute ist sie in São Paolo zuhause, reist aber gerade kreuz und quer auf dem europäischen Kontinent herum, hält Vorträge und zeigt ihr Stück «Manifesto Transpofágico». So auch am Zürcher Theater Spektakel und in der Kaserne Basel.
In diesem Stück verhandelt die mittlerweile mehrfach ausgezeichnete Schauspielerin und Theaterregisseurin ihren eigenen Körper als Transfrau, stellt ihre Sexualisierung, die Stereotypen, die Kriminalisierung und Gewalt und die strukturelle Transphobie aus. Eine Ablehnung, die sie selbst durch die eigene Familie erfahren musste, zu welcher sie den Kontakt bis heute auf das Minimum beschränkt.
Selbst ist die Frau*
Schon seit Jahren sorgt Renata Carvalho mit ihren Inhalten auf brasilianischen Bühnen für Aufsehen, in Europa für breite Begeisterung. Das war um die Jahrtausendwende noch anders, erzählt die Künstlerin, die seit 27 Jahren im Theaterbereich arbeitet und sich im Jahr 2007 als Transfrau outete: «Um 2000 war das Interesse nicht vorhanden, mich für Rollen auf den Theaterbühnen von Santos zu besetzten. Ich war viel zu feminin und eine homophobe Grundstimmung dominant. Engagements gab es kaum – also gründete ich mein eigenes Ensemble: Cia Ohm.» So funktioniert Renata Carvalho. Wenn über etwas geschwiegen wird, dann spricht sie es an, wenn etwas noch nicht existiert, dann baut sie selbst es auf.
2017 gründete sie in Brasilien die Trans-Künstler*innenbewegung Monart, in welcher sich mittlerweile hunderte Transpersonen aus allen Sparten der Künste vernetzen, aktivistisch engagieren, Diskurse anregen. Auch in Portugal und Italien sind durch die Besuche und das Engagement von Carvalho Ableger von Monart entstanden. Als Performerin und Künstlerin entwickelte sie ihre eigene Forschung: die «Transpologie» (Transgender Anthropologie).
Unterwegs ist sie dafür mittlerweile besonders in Europa. Gerade besuchte sie Stockholm, davor war sie in Lille, in Paris und Rom – nahm teil an Podien, entwickelte mit Studierenden ein Stück, spielte ihre Show. Nach dem Auftritt in Zürich wird sie nach Portugal weiterreisen, ihren Film und ihre Show zeigen und anschliessend im September für eine Residenz in der Kaserne Basel sein. Dann endlich geht es wieder nach Hause.
Im Kampf gegen das Unwissen
«Manifesto Transpofágico», das sie in Zürich zeigt, ist eine Performance, kombiniert mit direktem Austausch mit dem Publikum. Carvalho tritt dabei in einen Dialog über die soziale Konstruktion von Geschlechtern, über Sexualisierung, Stereotype und strukturelle Gewalt – explizit am Beispiel ihres eigenen Körpers.
Carvalho beantwortet dabei Fragen, erklärt, erzählt und fordert auf, hinzuschauen. Die Lecture-Performance wird von einer Transfrau verdolmetscht, das Publikum wird angesprochen und ist eingeladen, Fragen zu stellen. Egal welche Fragen. Denn es gibt keine dummen Fragen. Oder?
Carvalho grinst. «Natürlich muss ich dazu nein sagen, es gibt keine dummen Fragen. Aber doch, natürlich gibt es die», sagt sie. «Es gibt auch Leute, die versuchen, in meiner Show eine Plattform für ihre transphoben Ansichten zu bekommen.» Die werden von ihr schnell in die Schranken verwiesen. Müde werde sie nicht, Fragen zu beantworten – denn es gebe viele Menschen, die – sei es durch fehlenden Kontakt oder durch Scham – bisher wenig über das Thema wissen würden. «My fight is pedagogical.» «Mein Kampf ist ein pädagogischer», sagt sie.
Konfrontation scheut Carvalho nicht. 2012 brachte sie ihren ersten Monolog «Dentro de mim mora outra» («In mir wohnt eine Andere») über ihre Transidentität auf die Bühne. Es folgte 2016 das Stück «O Evangelho Segundo Jesus, Rainha Do Céu», in dem Carvalho Jesus Christus als Transperson spielt und in dem sie fragt:
Was, wenn Jesus heute leben würde und trans wäre?
Eine Arbeit, die Wellen schlug. Auch Wellen des Hasses.
«Ich erhielt täglich Todesdrohungen – über vier Jahre hinweg», sagt sie. Bundesstaaten verboten ihr Stück, es gab Proteste dafür und dagegen. «Brasilien ist ein Land mit viel Gewalt», sagt sie. Hat es am eigenen und vielen anderen Körpern erlebt. Über elf Jahre engagierte sie sich in ihrer Heimatstadt als ehrenamtliche Präventionsbeauftragte für sich prostituierende Transvestiten und für Transfrauen bei der Gesundheitsbehörde.
«I need to dream – we all need to dream.»
Als Transperson ernst genommen, akzeptiert zu werden, das sei in Brasilien noch vor wenigen Jahren extrem schwer gewesen. Arbeit fand man als Prostituierte, allenfalls im Beauty-Bereich – doch in anderen Bereichen, der Wissenschaft oder Politik gar hiess es, man sei dafür nicht geeignet.
Heute sitzen im nationalen Kongress Brasiliens zwei Transpersonen, am Tag vor unserem Treffen entschied das Oberste Gericht, Übergriffe auf Homo- oder Transsexuelle künftig wie rassistische Straftaten zu ahnden.
«Der Wandel passiert jetzt», sagt Carvalho, und mit ihrer Show ist sie Teil davon. So werde sie nach ihren Auftritten von emotional aufgewühlten Menschen angesprochen. Sie erhält Nachrichten von Personen, die, nachdem sie mit ihren Eltern in der Show waren, von diesen endlich mit den richtigen Pronomen angesprochen werden. «Die Kunst imitiert das Leben – das Leben imitiert auch die Kunst», sagt sie und nimmt einen Schluck ihrer Cola. Ihre Hände, ständig in Bewegung, streichen die langen Locken nach hinten, die ihr über die Schultern fallen.
Heute werden Renata Carvalhos Shows in Rio oder São Paolo von nationaler Prominenz besucht, sie gewinnt Preise, erhält Anfragen von Film und Fernsehen. «Denn sobald jemand aus Brasilien internationalen Erfolg hat, in Europa Shows spielt, dann wird die Arbeit auch zuhause wertgeschätzt.»
Nun wird sie selbst von Menschen gefeiert, die sie bisher nicht ernst genommen, geschweige denn akzeptiert hatten. Das ist neu für die Künstlerin, eine Entwicklung der letzten ein, zwei Jahre, und sie scheint zwischen Stolz, Erleichterung und Verwunderung zu schwanken. Lange war sie die Erste, stand vorne – allein im Rampenlicht aber auch im Kreuzfeuer.
Sich Zeit für sich zu nehmen, das fällt Carvalho bei allem, was noch zu tun ist, nicht leicht. «Ich gehe in Therapie, tue etwas für meinen Körper und meinen Geist.» Und sie träumt wieder. «Heute sehe ich eine Zukunft», sagt sie. Da sei die Universität, da seien ihre Bücher, die Bühnen.
Schon als Kind wollte Carvalho Schauspielerin werden. Heute lebt sie von ihrer Kunst. Sie sei geworden, was man ihr niemals zugestanden oder zugetraut habe – Frau und Schauspielerin.
Das Gespräch wurde auf Englisch – teilweise auch mit Händen und Füssen – geführt.
«Manifesto Transpofágico» wird nach Zürich am 28. und 29. September auch in der Kaserne Basel gezeigt.