Olga Borisova, hatten Sie heute Kontakt nach Russland?
Ja, klar. Es ist nicht verboten, dorthin zu telefonieren. Das Internet funktioniert noch.
Und was hören sie?
Depression. Die Stimmung für mich und meine Freundinnen ist verzweifelt. Aber obwohl es eine dunkle Zeit ist, gibt es neuen Aktivismus. Viele westliche Journalist:innen fragen mich, warum protestiert in Russland niemand? Aber nur weil man hier nichts davon hört, heisst das nicht, dass keine Proteste stattfinden. Die Anti-Kriegs-Bewegung lebt.
Wie sieht der Anti-Kriegs-Protest aus?
Es gibt eine relativ neue Gruppe, sie lässt sich als «feministische Anti-Kriegs-Widerstandsbewegung» übersetzen. Sie arbeitet wie eine Guerilla. Eine der Aktivistinnen nahm sich den Supermarkt als Plattform vor, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie riss die Preisschilder von den Produkten und ersetzte sie durch Aufkleber mit neuen Zahlen. Daneben stand: «Russland begeht Kriegsverbrechen in der Ukraine, so viele Kinder wurden von der russischen Armee getötet».
Was ist mit der Frau passiert?
Sie wurde verhaftet und unter einem der neuen Strafgesetze angeklagt, die erlassen wurden. Es gibt viele solcher neuer Gesetze. Als Minimalstrafe sind fünf Jahre Gefängnis vorgesehen, aber es können auch fünfzehn Jahre sein. Doch es gibt weitere Aktionen. Kritische Graffiti, Informationen, Flugblätter. Viele Menschen, die vorher nicht politisch aktiv waren, sind beunruhigt. Manche von ihnen werden zu Aktivist:innen.
Gibt es Kontakte zwischen Russ:innen und ukrainischen Geflüchteten in Russland?
Es gibt offizielle Geflüchteten-Aufnahmelager, aber das ist Bullshit. Die Leute, die dort arbeiten haben den Auftrag, die Ukrainer:innen auf die russische Linie zu bringen. Indem sie zum Beispiel mit den Kindern nur Russisch sprechen. Aber es gibt auch versteckte, inoffizielle Hilfe für Geflüchtete.
Auf Telegram organisieren sich Leute um Ukrainerinnen zum Beispiel gratis die Haare zu schneiden. Oder mit Ihnen ins Museum zu gehen.
Freundinnen von mir beteiligen sich an dieser Hilfe.
Was erzählen ihre Freundinnen über den Kontakt mit ukrainischen Geflüchteten?
Das sind schlimme Geschichten. Eine Freundin hat Kontakt mit einem älteren Ehepaar aus Mariupol, das über einer Woche unter den russischen Bomben im Bunker sass. Diese Menschen sind traumatisiert. Viele haben Gewicht verloren wegen dem Hunger.
Sie sprechen vor allem von Freundinnen. Was sind das für Leute, die sich an den versteckten Kriegsprotesten beteiligen?
Es sind in der Tat vor allem Frauen, so weit ich das überblicke. Es ist schwer, sie zu beschreiben, aber aufgrund der Instagram-Accounts, die die Aktionen dokumentieren, würde ich sagen, das findet überall in Russland statt. Sie haben Koordinatorinnen in jeder Stadt. Basierend auf den Fotos von den Aktionen würde ich sie als eher jung beschreiben. So alt wie ich vielleicht. Ich bin 27.
Kriegen wir darum wenig mit über die Proteste in Russland, weil sie im Versteckten stattfinden?
Das ist einer der Gründe, viele Aktionen finden sozusagen zwischen den Zeilen im Alltag statt. Manche trauen sich auch mehr. Ein Mann hielt auf dem roten Platz in Moskau ein Schild in die Luft, auf dem stand: «Nein zum Faschismus». Er wurde festgenommen. Im Protokoll hiess es, das sei eine Diskreditierung der russischen Armee. Das ist auch so ein neuer Strafartikel. Es gibt aber praktisch keine unabhängigen Medien mehr, die über Proteste berichten könnten. Auch darum weiss man im Rest der Welt nichts darüber.
Verändern die Proteste etwas in den Köpfen der Menschen?
Ich glaube an Protest auf der Strasse. Aber wir können den übrigen Kontext nicht ignorieren.
Welchen Kontext?
Zum Beispiel, dass immer noch viel Geld nach Russland fliesst für Gas und Öl. Dieses Jahr ist aus russischer Sicht profitabler als das vergangene, wenn man alleine die Umsätze aus dem Verkauf dieser Ressourcen zum Massstab nimmt. Und das trotz drei Monaten Krieg. Wie können die Leute auf der Strasse die Lage ändern, wenn das System auf Geld gebaut ist?
Ist es heuchlerisch, im Westen nach russischen Protesten zu fragen, wenn wir weiterhin Geld ausgeben für russisches Öl und Gas?
Auf jeden Fall. Ich verstehe, dass man nicht alle Leitungen zu den Ressourcen auf einmal kappen kann. Aber es ist Zeit, Menschenleben an erster Stelle zu setze. Nicht das Gas zum Kochen oder Benzin.
Die Schweiz hat die Sanktionen der Europäische Union übernommen. Das hat Diskussionen bezüglich der Neutralität ausgelöst. Was ist davon in Russland zu spüren?
Ich war überrascht, als ich las, dass die Schweiz Stellung bezog und die Sanktionen übernahm. Gut so, aber man hätte die Sanktionen schon 2014 erlassen sollen, als Russland die Krim annektierte. Zur Wirkung kann ich nur so viel sagen: Die Schweiz ist ein sehr begehrtes Land für russische Bonzen. Ein bisschen mehr Tiefenforschung zu den Verbindungen wäre gut.
Wie meinen Sie das?
Die Schweizer Banken sollen wirklich alle Konti preisgeben und einfrieren. Die Villen müssen enteignet werden. Man muss diesen Leuten wehtun. Die Eliten sind eine wichtige Gruppe in dieser besonderen Situation. Putins Gang ist eine wehleidige Truppe.
Wie kann Putin gestoppt werden?
Es braucht eine Konsolidierung von Kräften. Externe plus interne. Putin ist keine One-Man-Show. Er ist ein System, das er um sich herum gebaut hat. In diesem System dreht sich alles um Geld. Und der Angst, das zu verlieren. Putin ist getrieben von Angst. Manche Menschen zeichnen ihn als ein riesiges psychologisch komplexes Monster. Ja, er ist ein Monster.
Aber ich glaube in erster Linie hat er einfach eine Scheissangst, seine Macht und sein Geld zu verlieren.
Sehen Sie eine Bedrohung für Putin?
Russland produziert nichts, was die Welt braucht. Ausser Gas und Öl. Das ist dumm. Denn wegen der Sanktionen fehlt es jetzt an allem, wir haben nicht einmal Papier. Wir haben zwar viel Wald, aber ein Teil der Maschinen, die es braucht, um daraus Papier herzustellen, kommt aus dem Ausland. In den ehemaligen Renault-Fabriken sollen jetzt Moskwitsch-Autos hergestellt werden. Das sind diese alten Kisten aus der Sowjetunion. Offenbar ist Russland nicht in der Lage, neue Autos zu bauen.
Ihre Hoffnung liegt auf einem Volksaufstand?
Ich finde nicht, dass die einfachen Menschen die politische Führung stürzen müssen, für die sie teilweise nicht einmal gestimmt haben. Man muss auf die Oligarchen fokussieren. Sie haben die Macht. Sie müssen geschwächt werden.