Charmion von Wiegand die Künstlerin im Porträt beim FRIDA Magazin

Das Kunstmuseum Basel würdigt die Arbeit von Charmion von Wiegand mit der ersten institutionellen Präsentation ihres Werks ausserhalb der USA.

Foto: zVg

Frau in der Kunstwelt

Unter Machos

Die Journalistin und Künstlerin Charmion von Wiegand arbeitete zeit ihres Lebens mit bedeutenden Künstlern wie Piet Mondrian und Hans Richter zusammen, dennoch wurde ihre Arbeit von der amerikanischen Kunstwelt des 20. Jahrhunderts weitgehend ignoriert.

Von Helena Krauser

Basel, 20.04.2023

12 min

«Warum ist sie zehn Jahre nach ihrem Tod nicht bekannter?» Diese Frage stellte ein Rezensent zu Beginn der 1990er-Jahre anlässlich einer Ausstellung der Werke von Charmion von Wiegand in Hartford, Connecticut. Die Antwort darauf ist vielschichtig und ein bisschen deprimierend.

Sie hat einerseits mit der facettenreichen Begabung und Tätigkeit der Künstlerin, Schriftstellerin und Journalistin zu tun und mit ihren teilweise anachronistischen künstlerischen Interessen und Anliegen, andererseits aber auch mit der Überheblichkeit und Ignoranz einer von Männern dominierten US-amerikanischen Kunstwelt des 20. Jahrhunderts.

Obwohl sie zeit ihres Lebens für und mit den grossen Namen der damaligen Künstler:innenszene wie Hans Richter, Frederick Kiesler, Hans Arp, Louise Bourgeois, Peggy Guggenheim und allen voran Piet Mondrian arbeitete, wurden ihre Publikationen und redaktionellen Tätigkeiten kaum erwähnt, ihre Expertise ignoriert und ihre Kunst nur selten ausgestellt. 

Das Kunstmuseum Basel würdigt die Arbeit von Charmion von Wiegand nun, im Frühjahr 2023, mit der ersten institutionellen Präsentation ihres Werks ausserhalb der USA und einer umfangreichen Publikation, die die gesamte Arbeitsbiografie der Künstlerin umfasst.

Ominous Form (Bedrohliche Form), 1946 Öl auf Leinwand, 88.9 × 63.2 cm

Ominous Form (Bedrohliche Form), 1946

Öl auf Leinwand, 88,9 × 63.2 cm

Charmion von Wiegand wurde 1896 in Chicago geboren, verbrachte ihre Kindheit in Arizona und San Francisco und ihre Jugend, aufgrund des Berufs ihres Vaters, des Journalisten Karl von Wiegand, in Berlin. Auch sie selbst war später als Journalistin und Kritikerin tätig und sah in der Wechselwirkung zwischen Kritik und Kunstschaffen einen hohen Wert. «Tatsächlich spielt Kritik die erste schöpferische Rolle in der Kunst», erklärte Charmion von Wiegand 1936. 

Der soziale Nutzen von Kunst

Ab 1929 war sie als einzige weibliche Korrespondentin für die amerikanische Nachrichtenagentur Hearsts Universal Service in Moskau tätig. Als sie in den 1930er-Jahren zurück in die USA kehrte, beteiligte sie sich mit ihren Artikeln in den Magazinen Art Font und New Masses an der Diskussion über den Status von Künstlerinnen und Künstlern und den sozialen Nutzen von Kunst vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise. 

Die Debatte um die Systemrelevanz der Kunst und die richtige Form, diese auszudrücken, drehte sich um die Frage, ob gegenständliche oder abstrakte Kunst zu bevorzugen sei. 

1936 war von Wiegand der Überzeugung, dass ein expliziter gesellschaftlicher Gegenstand erforderlich sei, um wirklich «revolutionäre» Kunst zu schaffen. 

Mondrian verändert alles

Für ihre Arbeit als Journalistin bei Art Front rezensierte Charmion von Wiegand 1935 das Pamphlet Five on Revolutionary Art. Herbert Read bezeichnet darin Piet Mondrian und Miró als die einzigen «wirklich revolutionären Künstler». Von Wiegand kritisiert zwar Reads Sicht auf die abstrakte Kunst, beschliesst aber, von dieser Zuschreibung inspiriert, Mondrian persönlich zu treffen.

Sie schlägt ihrem Verleger vor, ein Interview mit Mondrian zu führen. Zu diesem Zeitpunkt hat sie erst wenige seiner Werke im Original gesehen und ist nicht sonderlich begeistert von seiner Kunst. Sie erscheint ihr wie dekoratives Design. 

Das persönliche Treffen änderte ihre Meinung allerdings sehr. 

«Seit dieser ersten Begegnung war mein Blick verwandelt», stellte sie später fest. Von da an entwickelte sich eine prägende Freundschaft zwischen Mondrian und von Wiegand, die von intensivem Austausch und gegenseitiger Bereicherung geprägt war. 

Er gewährte ihr Einblick in seinen Schaffensprozess und die Theorien hinter seinen Werken. Mondrian profitierte von Beginn an von Charmion von Wiegands Erfahrungen als Journalistin und Kunstkritikerin. Sie wurde zur wortgewandten Vermittlerin seiner Ideen, redigierte und korrigierte seine Notizen, die der niederländische Künstler in fehlerhaftem Englisch verfasst hatte.

In einem Artikel bezeichnete von Wiegand Mondrians Werke als «Neubeginn» für die amerikanische Kunst. 

Von Wiegand soll nicht malen

Neben ihrer journalistischen Arbeit war Charmion von Wiegand bereits in jungen Jahren auch selbst künstlerisch tätig. 

Ihre frühen Gemälde zeigen organische Formen und eine reduzierte Farbpalette. Bei Werken wie «Ominous Form» und «The Nuptial Form» wird die Inspiration durch Hans Richter und Frederick Kiesler deutlich.

The Nuptial Form (Hochzeitsform), 1946/47 Öl auf Leinwand, 71.1 × 55.9 cm

The Nuptial Form (Hochzeitsform), 1946/47

Öl auf Leinwand, 71.1 × 55.9 cm

Sie war überzeugt, dass «der Künstler dank der Kritik zu einer notwendigen Klärung gelange, die es ihm ermöglicht, den nächsten Schritt in Richtung seines schöpferischen Wirkens zu tun». 

Piet Mondrian war allerdings nicht sonderlich begeistert davon, dass von Wiegand selbst künstlerisch arbeitete. In einem Brief fragt sie im Sommer 1941 scheu nach, ob er ihr das technische Handwerk beibringen könne, mithilfe dessen er seine Werke anfertigt. So könne sie diese für ihn erledigen und er hätte Zeit, sich der eigentlichen künstlerischen Arbeit widmen. Ihren Tagebüchern ist zu entnehmen, dass Mondrian daraufhin schrieb, dass er sie schon selbst gefragt hätte, wenn er sie unterrichten wollte. 

Ein Jahr später berichtete von Wiegand Mondrian in einem Brief davon, dass sie voller Aufregung Farbtuben gekauft und wieder begonnen hat zu malen. Sie habe sogar eine Komposition gefunden, die ihr gut gefalle, erzählte sie ihm. Seine Reaktion darauf war laut ihrem Tagebuch sehr schroff.

«Du bist eine Autorin, und ich will nichts von Deinem Malen wissen. Finde Deinen eigenen Weg.» 

Von Wiegand liess sich nicht von Mondrian abhalten und verfolgte ihren Weg als Künstlerin weiter. Die Beziehung zu ihm kühlte aber ab, insbesondere als von Wiegand feststellte, dass er ihre Übersetzungen seiner Texte nicht mehr als zufriedenstellend erachtete und einen anderen Autor dafür engagierte. Der Kontakt bestand aber weiterhin bis zu seinem Tod im Februar 1944. 

City Lights (Grossstadtlichter), 1947 Öl auf Leinwand, 81.9 × 61.8 cm

City Lights (Grossstadtlichter), 1947

Öl auf Leinwand, 81.9 × 61.8 cm

In einem Brief an Mondrian schreibt sie, dass sie seine Zurückweisung zutiefst verletzt habe, wie sehr das Zusammentreffen mit ihm ihr Denken und ihr Arbeiten beeinflusst habe, und fragt: «Warum sind Sie gegenüber jemandem, der versucht, die Bedeutung der Fläche (in der Kunst) zu verstehen? Worin besteht der Unterschied, wenn ich das Bild mit der Farbe oder dem Wort suche? […] Wem schadet dies?» Mondrian hat ihre Worte allerdings nie gelesen, da sie den Brief nicht abgeschickt hat. 

Im Schatten des berühmten Künstlers

Trotz der Kürze hat die Freundschaft zu Mondrian von Wiegands Arbeit geprägt, sichtbar wird dies beispielsweise bei Werken wie «City Lights» und «Night Rhythm». Einen grossen Einfluss hatte die Beziehung aber auch auf die Rezeption ihrer Kunst. Taucht ihr Name auf, wird der des grossen Künstlers früher oder später auch erwähnt. 

Night Rhythm (Nächtlicher Rhythmus), 1948 Öl auf Leinwand, 76 × 50 cm

Night Rhythm (Nächtlicher Rhythmus), 1948

Öl auf Leinwand, 76 × 50 cm

Die Kuratorin der aktuellen Ausstellung im Basler Kunstmuseum, Maja Wismer, greift diesen Umstand im Katalog zur Ausstellung auf. Sie thematisiert, dass sich Praxis und Werke Charmion von Wiegands gegen eine einfache Zuschreibung sträuben und schreibt:

«Dafür steht exemplarisch, dass der Vergleich mit Mondrians Ästhetik und der Verweis auf die Prägung ihres Kunstverständnisses durch diesen ikonischen Maler der transatlantischen Kunst des 20. Jahrhunderts Referenzen sind, die Charmion von Wiegand selbst bis zuletzt sorgfältig gepflegt hatte. Vor dem Hintergrund aktueller Museumsarbeit, die das Werk einer Künstlerin nicht in den Schatten eines (berühmten) männlichen Künstlers stellen möchte, bedeutet dies eine methodische Herausforderung. Gerade durch diese Herausforderung der Konventionen wird Charmion von Wiegand zur heute relevanten Künstlerin.»

Die Geschichte von Charmion von Wiegand erzählt nämlich nicht nur von ihrem persönlichen inspirierenden Leben, sondern auch von einer patriarchalen Erzählperspektive. Während die stilistische Nähe der Gemälde der Künstlerin zu Mondrians Werk von Journalisten und Kritikern immer wieder aufgegriffen wurde, kam den innovativen Denkanstössen und Inspirationen vonseiten von Wiegands keine Bedeutung zu.

Ein männliches Narrativ

Charmion von Wiegand gehörte zwar zu Mondrians New Yorker Welt, galt aber dennoch immer als Aussenseiterin in der überwiegend aus Männer bestehenden Gruppe von Künstlern um Mondrian. 

Eine entscheidende Rolle bei der Erzählung über Mondrians Leben und seine Beziehung zu von Wiegand spielt Harry Holtzman. Er hatte Mondrian 1935 in Paris kennengelernt und ihm bei der Emigration nach New York geholfen. Mondrian setzte ihn später als Alleinerben ein. Daher war Holtzmann nach Mondrians Tod in der Position, das Narrativ über Mondrians Leben zu beeinflussen.

Von Wiegand verschwieg er dabei häufig. So zum Beispiel, als er einen Band mit Aufsätzen des Künstlers auf Englisch herausgab und von Wiegand mit keinem Wort erwähnte, obwohl sie eine Reihe von darin enthaltenen Texten übersetzt und redaktionell bearbeitet hatte. 

Buddhistische Symbolik wird zentral

In den 1950er-Jahren entwickelte Charmion von Wiegand ein intensives Interesse an ostasiatischen Daseinstheorien, was zu einer Umorientierung in ihrer künstlerischen Arbeit führte. Zu dieser Zeit kursierte in New York für einige Jahre ein Hype für fernöstliche Theorien und Praktiken. In der Szene der Kunstschaffenden war sie durch ihre Beschäftigung mit der tantrischen und buddhistischen Symbolik dennoch eine Ausnahme. 

The Great Field of Action or the 64 Hexagrams (Der Altar der Ahnen aus dem I Ging), 1953 Öl auf Leinwand, 70.5 × 70 cm

The Great Field of Action or the 64 Hexagrams

(Der Altar der Ahnen aus dem I Ging), 1953

Öl auf Leinwand, 70.5 × 70 cm

Zu Beginn war Charmion von Wiegands Interesse kein religiöses. Durch die neue Inspirationsquelle fand sie künstlerisch überzeugende Lösungen, um ihre Vorliebe an geometrischen Abstraktionen inhaltlich aufzuladen.

Mit der Zeit vermischte sich aber ihre künstlerische Produktion mit der Suche nach geistiger Erfüllung. Sie besuchte Vorlesungen der Theosophischen Gesellschaft, beschäftigte sich mit den Lehren der Tantren, lernte bei einem der ersten indischen Lehrer modernen Yogas im Westen und beschäftigte sich mit der Ikonografie der Chakren.

1967 verfasste sie die Biografie des buddhistischen Lehrers Khyongla Rato Rinpoche und veranstaltete eine Ausstellung zu tibetischer Kunst in Nordamerika. 

The Wheel of the Seasons (Das Rad der Jahreszeiten), 1957 Öl auf Leinwand, 99.1 × 82.6 cm

The Wheel of the Seasons (Das Rad der Jahreszeiten), 1957

Öl auf Leinwand, 99.1 × 82.6 cm

Diese Auseinandersetzung führte zu einer produktiven Phase in ihrem Schaffen, die sich in Werken wie «The Great Field of Action or the 64 Hexagrams» oder «The Wheel of the Seasons» manifestierte und immer mehr von Ähnlichkeiten zu Mondrians Werk emanzipierte. 

Durch ihre Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Buddhismus entwickelt sich auch ihre Einstellung zu abstrakter Kunst. Nun ist sie der Auffassung: Die Geburt der abstrakten Kunst stellte eine grundlegende Verschiebung von einer sensorischen zu einer ideellen Kunst dar.


Kunstmuseum Basel

Charmion von Wiegand

NEUBAU / 25.03.–13.08.2023 / Kuratorin: Maja Wismer