Museumsbesuch
Natur im Kopf und nichts an den Füssen
Die neuste Ausstellung im Stapferhaus Lenzburg fragt nach unserem Verhältnis zur Natur. Der vielschichtige, informative Parcour durch unterschiedlichste Themenräume fasziniert, wühlt auf – und lässt unsere Autorin mit einer beunruhigenden Frage abreisen.
Luzern, 09.11.2022
Dass sich das Stapferhaus nicht scheut, die grossen Themen anzupacken, sollte nach den vergangenen Ausstellungen zu Geld, Heimat oder Geschlecht klar geworden sein. Und dass es das mit witzigen, überraschenden Einfällen, mit viel Interaktion und Tiefgründigkeit tut, ebenfalls. Dass das Haus im Jahr 2020 den Europäischen Museumspreis erhielt: nur verdient. Nun jedoch hat sich das Stapferhaus dem wohl grössten Thema überhaupt angenommen: der Natur.
«Was ist eigentlich Natur? Und wem gehört sie?» Mit diesen Fragen schickt uns das Stapferhaus barfuss in die Ausstellung. Während die Aufforderung, Schuhe und Socken ins Regal zu stellen, die Füsse mit einem äusserst gut riechenden Desinfektionsmittel einzusprayen, bei den einen mit Belustigung angenommen wird, hält sich die Begeisterung bei anderen, gelinde gesagt, in Grenzen.
Besonders auf der männlich sozialisierten Seite scheint eine Fussscham weit verbreitet zu sein. Für drei Franken fünfzig kaufen sich mehrere Herren vor uns in der Schlange Spezialsocken, wollen die eigene Natur lieber nicht atmen lassen. Vielleicht boomt bald die Podologie in Lenzburg.
Vom Ausrotten und Schützen
Als Erstes tritt man auf feinsten Sand, die Wahrnehmung über die Füsse wird angeregt. Der Kopf startet mit dem Versuch, die Zeit zu begreifen, die diese Sandkörner auf ihre heutige Grösse schliff.
Bild: Anita Affentranger
Im ersten Raum trifft man dann auf eine Sammlung ausgestopfter Tiere. Hühner hinter Vitrinen und Schlangen eingelegt in Gläsern. Hier lernen wir, in welchen Formen der Mensch die Natur benutzt, beherrscht, verwertet und verkauft.
Wir erfahren mehr über das Edelweiss, die Anfänge des Erdölhandels, warum Vater tausend Franken «Ameisen» nannte, und warum Wölfe nur ganz selten in einer entspannten, nicht aggressiven Pose ausgestopft werden.
Das warme Holz der Vitrinen und die ausgestopften Tiere, die an Berghütten und kindliche Museumsbesuche erinnern, prallen hier auf Fakten über die Haltung des Menschen der Natur gegenüber. «Macht euch die Erde untertan», in der Bibel, «Wissenschaft hat das Vermögen, uns zu Herren und Eigentümern der Natur zu machen», bei Descartes. Zitate und Geschichten führen an die grossen Fragen heran.
Wie wir Menschen aus dem «aufgeklärten Westen» die Natur, die Tiere in Kategorien wie exotisch, wertvoll, in Schädlinge und verwertbare Produkte sortieren.
Entscheide dich und stell dir vor…
Weiter geht es die kühle, gerippte Treppe hinauf. Einen Kompass an einer Schnur, den man nun an sich nimmt, wird zum Abstimmungsgerät im weiteren Verlauf der Ausstellung.
Wen soll die Feuerwehr zuerst retten? Menschen, danach Haustiere und danach Nutztiere? Menschen und Haustiere zuerst, dann Nutztiere? Erste Menschen, danach Haus- und Nutztiere zusammen? Oder sollte man gar keinen Unterschied machen?
Der grosse Ausstellungsraum ist dunkel, Filme werden auf fast transparente Vorhänge projiziert, die Orientierung fällt nicht nur leicht.
Roboter und Taubendreck
«Stell dir vor… » – immer wieder wird man von diesem Satz in Räume gelotst, um in eine neue Fragestellung, eine neue Thematik einzutauchen.
Man wird selbst zum Fuchs, isst Maden – wenn man mag – beobachtet Roboter im Gespräch über ihre Natürlichkeit und die Künstlichkeit des Menschen und entdeckt Mikroben, die man lieber nicht gesehen hätte. 80 Millionen Bakterien wechseln beim Küssen die Besitzer.
Bild: Anita Affentranger
Wir erfahren, weshalb Taubendreck so klebrig sein muss und fragen uns, warum der Esel eigentlich immer der Depp ist. Doch neben den kleinen Räumen mit immer neuen Blicken auf die Natur dominiert ein grosser Kreis in der Mitte der Ausstellung, voll mit Stellwänden und übersät mit Informationen dazu, wie wir Menschen die Natur zerstören.
Müll, noch mehr Müll, Ausrottung von Millionen Tierarten, Müll, Ausbeutung, Müll, überfischte Meere, Schwermetalle im Wasser, Müll. Beinahe 8000 Tonnen Mikroplastik entstehen in der Schweiz jährlich nur von Reifenabrieben, die Hälfte der produzierten Kleider weltweit wird gar nie verkauft.
Und nun?
Die nackten Füsse bleiben bald unbeachtet. Erst im Hunderaum, wo man auf Fellen sitzt und steht, werden die Sinne wieder angeregt. Oder erneut auf der rauen Struktur des Raums über den Rio Atrato, den ersten Fluss, der als Lebewesen und Rechtssubjekt gilt. Natur ist hier Kopfsache.
Zum Ende erwartet die Besucher:innen eine Projektion von vier verschiedenen Personen, die über die Zukunft diskutieren. Darüber, wie es weitergehen soll, welche Lösungen parat stehen, welche noch nicht, und das Publikum darf wieder abstimmen, die eigene Haltung kundtun.
«Natur. Und wir?» ist eine vielfältige Ausstellung mit unerwarteten Fokussen, witzigen Einfällen, komplexen Inhalten und einfach vermittelten Fakten. Etwas anderes würde man vom Stapferhaus nicht erwarten.
Der Kopf raucht – Moral, Ethik, die Zerstörung der Erde vermischen sich zu einem doch recht deprimierenden Wirbel. Bedrückt von all dem, was sich die Menschen herausgenommen haben, sich anmassen, wie sie die Natur zu unterwerfen versuchen, wie viel sie auslöschen, für die Zukunft unwiederbringlich zerstören.
Und klar ist es nicht möglich, eine Ausstellung über dieses Thema zu machen, ohne die Zerstörung durch den Menschen stark zu thematisieren. Wie wollen wir unseren Umgang mit der Natur künftig gestalten? Diese Frage soll man für sich in der Ausstellung erkunden. Das erfüllt die Ausstellung auf jeden Fall. Doch sie entlässt mich auch mit dem Gefühl, dass es eigentlich zu spät ist. Mit diesen Gedanken fahren wir weg aus Lenzburg, blicken aus dem Zug auf Felder voller grasender Kühe – dahinter die Rauchsäule von Gösgen.
«Natur. Und wir?», Stapferhaus Lenzburg, bis 29. Oktober 2023.