Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen: In Graubünden beweist das Bonmot des Literatur-Nobelpreisträgers William Faulkner seine Gültigkeit. Zwei vergessen geglaubte Phänomene aus dem letzten Jahrhundert treiben unversehens hoch im Meer der Vergangenheit, ploppen an die Oberfläche, werden gegenwärtig und wirksam.
Einerseits erkennen wir dank einer Journalistin* mit einem Mal ein vergessenes, verwittertes Nazi-Monument auf dem Churer Friedhof Daleu wieder, das 1938 offenbar im Einvernehmen mit den Behörden und der Churer Gesellschaft erstellt und 1955 auch noch fachmännisch restauriert worden ist.
Anderseits ist dank der titanischen Anstrengung einer Historikerin** die willentlich verschleierte Geschichte der Ems-Chemie und ihren Nazi-Ingenieuren hell beleuchtet und transparent geworden. In eigenartiger Ironie der Historie gibt es zwischen den beiden scheinbar grundverschiedenen Fundstücken eine innere Verbindung.
(*Stefanie Hablützel, srf / **Regula Bochsler, freischaffende Historikerin)
Der Stein des Anstosses wird Politikum
Das kubische Nazi-Monument auf Daleu ist durch ein örtliches Steinmetz-Unternehmen in Chur installiert worden. Auftraggeberin war die einst neutrale «Deutsche Kriegsgräberfürsorge», die aber längst «gleichgeschaltet» war mit der NSDAP. Geehrt werden sollten damit internierte Soldaten, die in Graubünden im Gefolge des Ersten Weltkriegs verstorben waren. Das Nazi-Regime jedoch, seit 1933 im alleinigen Besitz der Macht in Deutschland, missbrauchte diese Gefallenen als Propaganda-Material zur Legitimation seines politischen Handelns.
Das müsste auch der Churer Bürgerschaft klar gewesen sein. In St. Gallen etwa war ein Jahr zuvor das Projekt für eine «Totenburg» vehement abgelehnt worden: «Das Volk hat verstanden, dass es sich (…) um eine raffinierte Propaganda handelt», sagte ein St. Galler Grossrat in der Debatte (NZZ vom 12. 11. 1937). Ein deutsches Mausoleum sei «eine Verletzung schweizerischen Fühlens und Denkens.»
Warum gestatteten die führenden Köpfe in Chur ein Jahr später – im Jahr der «Reichskristallnacht» – den Bau des Nazi-Steins? Diese historisch interessante Frage ist nun in der letzten Februarsession des Kantonsparlaments in zwei Vorstössen auch an die Regierung Graubündens gerichtet worden. Dabei geht es nicht um eine «Hexenjagd», wie ein sprachlich verirrter Bündner FDP-Politiker den Medien gegenüber meinte. Es geht um Einordnung, um Vollständigkeit unserer eigenen Geschichte. Nur so ist ab jetzt ein aufgeklärter Umgang mit dem Stein des Anstosses auf Daleu möglich.
Ein Werk von preiswürdiger Qualität
Dieser historische Auftrag ist im Fall der «Emser Werke» in hervorragender Weise weitgehend erfüllt. Das Forschungsprojekt des «Instituts für Kulturforschung Graubünden» ist durch die Historikerin Regula Bochsler realisiert worden. Das Ergebnis ist von preiswürdiger Qualität. Was nur den Besten im Fach Geschichtsschreibung gelingt, ist mit dem Buch «Nylon und Napalm» greifbar: Haarklein recherchiert, über die ganze Strecke von fast 600 Seiten packend geschrieben, nie den Überblick verlierend, sauber die nicht mehr rekonstruierbaren Vorgänge bezeichnend, enthüllt die journalistisch erfahrene Historikerin die oft inkriminierenden Fakten zu diesem für Graubünden relevanten Unternehmen. Vom Start 1941 bis in die Gegenwart.
Die «Holzverzuckerungs AG» (Hovag), aus der die heutige «Ems Chemie» entstand, ist ein Kind der Kriegswirtschaft. Es sollte aus Holz ein Treibstoff-Ersatz gewonnen werden. Allein, das «Emser-Wasser», wie der Volksmund das Produkt nennt, es tröpfelt nur, das Unternehmen bleibt quantitativ weit hinter den Vorgaben zurück. Diese Vorgaben macht der Staat, die öffentliche Hand bezahlt (teuerungsbereinigt 1 Milliarde Franken), und die «Hovag» glänzt mit falschen Versprechungen.
Der Glänzer hat einen Namen: Werner Oswald. Diese manchmal schillernde, immer breitspurig, gern grob auftretende Figur entsteht bei Bochsler in Lebensgrösse. Erstaunlich, wie lange dieser sinistere Mann seine Geschäfte treiben und so vieles, was an die Öffentlichkeit gehört hätte und seitens der Politik auch aktiv einverlangt worden war, geheim halten konnte. Als die Treibstoffproduktion mit dem Kriegsende 1945 hinfällig zu werden drohte, verstand es Oswald, die Behörden hinzuhalten, Geldpolster anzulegen und mit diesen Mitteln das Unternehmen neu auszurichten.