Historische Aufnahme der Emser Werke nahe Chur.

Historische Aufnahme der Emser Werke nahe Chur.

Bild: zvg Verlag «Hier und Jetzt».

Graubünden und die Nazis

Napalm und Nazistein

In Graubünden werden nicht nur die Skipisten mit strahlend weissem Kunstschnee präpariert. Es werden auch historische Ereignisse unter den Teppich gekehrt – oder eben plötzlich hervorgeholt. Jost auf der Maur darüber, was der Nazistein auf dem Friedhof Daleu in Chur und der Aufstieg der «Emser Werke» zum global tätigen Unternehmen miteinander zu tun haben.

Von Jost Auf der Maur

Chur, 07.03.2023

7 min

Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen: In Graubünden beweist das Bonmot des Literatur-Nobelpreisträgers William Faulkner seine Gültigkeit. Zwei vergessen geglaubte Phänomene aus dem letzten Jahrhundert treiben unversehens hoch im Meer der Vergangenheit, ploppen an die Oberfläche, werden gegenwärtig und wirksam.

Einerseits erkennen wir dank einer Journalistin* mit einem Mal ein vergessenes, verwittertes Nazi-Monument auf dem Churer Friedhof Daleu wieder, das 1938 offenbar im Einvernehmen mit den Behörden und der Churer Gesellschaft erstellt und 1955 auch noch fachmännisch restauriert worden ist.

Anderseits ist dank der titanischen Anstrengung einer Historikerin** die willentlich verschleierte Geschichte der Ems-Chemie und ihren Nazi-Ingenieuren hell beleuchtet und transparent geworden. In eigenartiger Ironie der Historie gibt es zwischen den beiden scheinbar grundverschiedenen Fundstücken eine innere Verbindung.

(*Stefanie Hablützel, srf / **Regula Bochsler, freischaffende Historikerin)

Der Stein des Anstosses wird Politikum

Das kubische Nazi-Monument auf Daleu ist durch ein örtliches Steinmetz-Unternehmen in Chur installiert worden. Auftraggeberin war die einst neutrale «Deutsche Kriegsgräberfürsorge», die aber längst «gleichgeschaltet» war mit der NSDAP. Geehrt werden sollten damit internierte Soldaten, die in Graubünden im Gefolge des Ersten Weltkriegs verstorben waren. Das Nazi-Regime jedoch, seit 1933 im alleinigen Besitz der Macht in Deutschland, missbrauchte diese Gefallenen als Propaganda-Material zur Legitimation seines politischen Handelns.

Das müsste auch der Churer Bürgerschaft klar gewesen sein. In St. Gallen etwa war ein Jahr zuvor das Projekt für eine «Totenburg» vehement abgelehnt worden: «Das Volk hat verstanden, dass es sich (…) um eine raffinierte Propaganda handelt», sagte ein St. Galler Grossrat in der Debatte (NZZ vom 12. 11. 1937). Ein deutsches Mausoleum sei «eine Verletzung schweizerischen Fühlens und Denkens.»

Warum gestatteten die führenden Köpfe in Chur ein Jahr später – im Jahr der «Reichskristallnacht» – den Bau des Nazi-Steins? Diese historisch interessante Frage ist nun in der letzten Februarsession des Kantonsparlaments in zwei Vorstössen auch an die Regierung Graubündens gerichtet worden. Dabei geht es nicht um eine «Hexenjagd», wie ein sprachlich verirrter Bündner FDP-Politiker den Medien gegenüber meinte. Es geht um Einordnung, um Vollständigkeit unserer eigenen Geschichte. Nur so ist ab jetzt ein aufgeklärter Umgang mit dem Stein des Anstosses auf Daleu möglich.

Ein Werk von preiswürdiger Qualität

Dieser historische Auftrag ist im Fall der «Emser Werke» in hervorragender Weise weitgehend erfüllt. Das Forschungsprojekt des «Instituts für Kulturforschung Graubünden» ist durch die Historikerin Regula Bochsler realisiert worden. Das Ergebnis ist von preiswürdiger Qualität. Was nur den Besten im Fach Geschichtsschreibung gelingt, ist mit dem Buch «Nylon und Napalm» greifbar: Haarklein recherchiert, über die ganze Strecke von fast 600 Seiten packend geschrieben, nie den Überblick verlierend, sauber die nicht mehr rekonstruierbaren Vorgänge bezeichnend, enthüllt die journalistisch erfahrene Historikerin die oft inkriminierenden Fakten zu diesem für Graubünden relevanten Unternehmen. Vom Start 1941 bis in die Gegenwart.

Die «Holzverzuckerungs AG» (Hovag), aus der die heutige «Ems Chemie» entstand, ist ein Kind der Kriegswirtschaft. Es sollte aus Holz ein Treibstoff-Ersatz gewonnen werden. Allein, das «Emser-Wasser», wie der Volksmund das Produkt nennt, es tröpfelt nur, das Unternehmen bleibt quantitativ weit hinter den Vorgaben zurück. Diese Vorgaben macht der Staat, die öffentliche Hand bezahlt (teuerungsbereinigt 1 Milliarde Franken), und die «Hovag» glänzt mit falschen Versprechungen.

Der Glänzer hat einen Namen: Werner Oswald. Diese manchmal schillernde, immer breitspurig, gern grob auftretende Figur entsteht bei Bochsler in Lebensgrösse. Erstaunlich, wie lange dieser sinistere Mann seine Geschäfte treiben und so vieles, was an die Öffentlichkeit gehört hätte und seitens der Politik auch aktiv einverlangt worden war, geheim halten konnte. Als die Treibstoffproduktion mit dem Kriegsende 1945 hinfällig zu werden drohte, verstand es Oswald, die Behörden hinzuhalten, Geldpolster anzulegen und mit diesen Mitteln das Unternehmen neu auszurichten.

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Oswald Werner, Gründer der «Emser Werke, ca. 1930.
Bild: zvg Verlag «Hier und Jetzt»

Damit beginnen die dunkelsten Kapitel des Unternehmens. Werner Oswald wäre zum Umbau fachlich nicht in der Lage gewesen, daher begann er die Kenntnisse von Wissenschaftlern aus Deutschland abzuschöpfen. Er holte als Spezialisten ehemalige NSDAP-Mitglieder und glühende Nazis nach Ems, die in Deutschland etwa in der Ersatzstoff-Chemie und der Waffenherstellung Erfahrungen gesammelt hatten – und die bereit gewesen waren, mit Zwangsarbeitern und KZ-Gefangenen zu produzieren.

Mit Hilfe der Bündner Politik

Diese Naturwissenschaftler waren nach Kriegsende auch bereit, deutsche Produktionsgeheimnisse zu entwenden und sich damit das Billet für die Einreise in die Schweiz zu erkaufen. Oswald kann sich bei den heiklen Einreise-Genehmigungen für die Nazi-Ingenieure auf Bündner Politiker verlassen. Allen voran setzt sich über viele Jahre Nationalrat Andreas Gadient für Oswald ein. Die Regierungsräte Graubündens wiederum gebärden sich als willfährige Erfüllungsgehilfen und kuschen unter den donnernden Auftritten Oswald und seinen Drohungen wegen der Arbeitsplätze.

Die Deutschen in Ems führen das grosse Wort, leben in Saus und Braus, sind bald verhasst, aber sie helfen dem Unternehmen: In Ems werden nun nicht nur Polyamide wie «Grilon» entwickelt, sondern auch Material für Waffen: Raketen, Anti-Personenminen, Munitionszünder und Flammöl, das dem Napalm ähnliche Opalm. Produziert wird oft nicht in Ems, sondern im Ausland. Geschäftet wird mit Staaten wie Ägypten, Burma, Chile oder Südafrika, die kaum über demokratische Legitimationen verfügen. Es entsteht ein unübersichtliches Firmen-Konglomerat, während Tausende Menschen im Opalm-Feuer verglühen. Und Oswald verdient.

 

Opalm-Test auf der Thuner Allmend

Opalm-Test auf der Thuner Allmend.
Bild: zvg Verlag «Hier und Jetzt»

1971 zieht ein gewisser Christoph Blocher in den Verwaltungsrat der Ems-Tochter und Zünder-Fabrik «Patvag» ein. Deren Verkaufsschlager heisst «Funkengeber 82». Bochsler schreibt: «Der rasante Aufschwung kommt Blocher zugute, der die Emser Werke 1982 kauft.» Wichtige Kundin für den «Funkengeber 82» ist die iranische Revolutionsarmee, die bald im Krieg mit dem Irak steht. Bochsler: «Dieser Krieg forderte eine Million Tote und liess bei der Ems-Patvag die Kassen klingeln.»

Heute gebärdet sich derselbe Blocher als Neutralitäts-Apostel. Regula Bochsler aber ist der Zugang zum Firmen-Archiv in Ems nicht gestattet worden. Doch wer mit anderen geschäftet, hinterlässt bei diesen Andern Spuren. Jenen Spuren ist Bochsler wissenschaftlich und journalistisch souverän gefolgt. Wer Bescheid wissen will über den Aufstieg und die verschleierten Hintergründe eines der bedeutendsten Unternehmen Graubündens mit internationaler Ausstrahlung, muss das Werk von Bochsler lesen. Es bringt endlich Licht ins Dunkel.


Regula Bochsler: «Nylon und Napalm. Die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald»; 592 Seiten, 160 Abbildungen. Verlag «Hier und Jetzt», 2022. Herausgegeben vom Institut für Kulturforschung Graubünden. 49 Franken. ISBN: 978-3-03919-569-5

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Podcast von SRF zum Thema:

Nazi-Stein in Chur #1: Vermoost und vergessen

Nazi-Stein in Chur #2: Sprengen oder erhalten?