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Victorine Müller nimmt den Reporter von FRIDA mit auf einen Waldspaziergang bei Göschenen.

Kunst und Performance

Picknick unterm Wasserfall

Der letzte Gast in unserer Serie «Mach’s» ist Victorine Müller. Sie hat uns auf einem Spaziergang bei Göschenen ihre Kunst nähergebracht und eine Performance geschenkt. Eine Wanderung in eine Zone, wo die Natur Inspirationsquelle und Bühne zugleich ist.

Von Mathias Balzer

Göschenen, 16.05.2023

14 min

Göschenen. Alle sagen, sie kennen diesen Ort bloss vom Vorbeifahren. Einmal aus dem Zug gestiegen, ist das Dorf erst gar nicht zu sehen. Nur die Schienen der Bahn verlieren sich zwischen steil himmelwärts schiessenden Felswänden im Gotthardmassiv. Erst der Aufstieg auf eine Kuppe eröffnet den Blick auf den Ort, wo sich Gebäude aus allen möglichen Epochen, inklusive Stadtmauerresten, um eine grosse Kirche scharen.

An einem Ende des Dorfs, hinter dem Elektrizitätswerk, liegt ein altes Zeughaus, das der Zuger Kunstsammler Christoph Hürlimann in ein Kunstdepot mit drei Gastateliers für Künstler verwandelt hat. Neben dem militärischen Zweckbau steht mittlerweile eine in Beton gegossene Erweiterung der Kunstenklave, die bald eröffnet wird.

Victorine Müller winkt. Sie hat mich erwartet, mir bereits per E-Mail mitgeteilt, dass sie für uns eine kleine Wanderung mit Apéritif plane, falls das Wetter mitmache, was es an diesem Freitag tut. Auf der Fahrt hatte mich eine Whatsapp-Nachricht erreicht, mit der Frage, ob Grüner Veltliner OK sei. Natürlich ist er das. Die Aussicht auf einen Bergluft-Apéritif mit dieser Künstlerin befeuert meine journalistische Neugierde.

Performances zum Selbermachen

FRIDA schenkt ihren Leser:innen elf Performances zum Selbermachen. In unserer vom Künstler Chris Hunter kuratierten Serie «Mach’s» stellen wir zwölf Performance-Künstler:innen aus der Schweiz vor. Wir laden sie dafür zum Essen ein. Im Gegenzug präsentieren die Künstler:innen jeweils eine Performance-AnleitungDiejenige von Victorine Müller findest Du am Ende dieses Artikels.

Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt. Es ist ganz einfach: «Mach’s!»

Am 27. Juni 2023 wird die Publikation zum Projekt im Museum Tinguely in Basel präsentiert.

International bekannt geworden ist Victorine Müller mit ihren aufblasbaren, transparenten Objekten, riesigen Ballons sozusagen, in die sie sich hineinplatziert, mal stehend, mal sitzend, mal liegend. Oder sie auch als Objekte für Installationen verwendet. Die imposanten Figuren, durch raffinierte Lichtführung zum Schillern gebracht, sind meist Tiere oder Fabelwesen, Tiger, Elefant, Pegasus, archaische Göttin oder Tintenfisch. Die Künstlerin ist mit diesen luftigen «belebten Skulpturen» seit den Nullerjahren weltweit an Kunstorten und Festivals zu Gast.

Victorine Müller bei der Performance «Timeline» 2018 in Seoul, Korea.

Victorine Müller bei der Performance «Timeline» 2018 in Seoul, Korea.

Bild: Suna Kim

Die grossgewachsene 62-jährige Frau empfängt mich herzlich. Sie spricht, aus Grenchen stammend, einen warmen Solothurner Dialekt. In der Gemeinschaftsküche des Atelierhauses kredenzt sie einen Espresso für den Gast. Victorine Müller ist erst vor zwei Tagen hier angekommen. Genau wie Otgonbayar Ershuu, der Gastkünstler aus der Mongolei, ansonsten in Berlin lebend, der mir auf Deutsch erklärt, warum ihn die Tunnels hier faszinieren:

In seiner Heimatstadt Ulan Bator werde eine intensive Diskussion darüber geführt, wie die von Bergen eingekesselte Millionenmetropole vergrössert werden könnte. Pragmatiker schlagen vor, Tunnels zu weiteren Ebenen zu bohren, was auf Widerspruch stösst, denn die Berge sind geschützt und heilig. Da bohrt man keine Löcher rein.

Bevor die Diskussion ausufert und ich ihm erkläre, dass die Schweizer ihre Berge zwecks Reduit-Bildung bereits wie Emmentaler-Käse durchlöchert haben, brechen wir auf. Draussen auf der kleinen Brücke über die tosende Göschener Reuss steht Amitesh Shrivastava, der dritte Gastkünstler. Er kommt aus Mumbai und ist ein laut lachender, indisch-englisch radebrechender Vulkan von einem Mann.

Wir lassen ihn zurück, steigen hoch in den Wald – und betreten auf einen Schlag eine andere Welt. Es ist still und wir versuchen erstmal gehend einen Rhythmus zu finden. Victorine sagt:

«Ich dachte, wenn ich Dir das hier zeige, brauche ich Dir gar nicht mehr viel zu erklären.»

Und doch habe ich noch ein paar Fragen, zum Thema Haut beispielsweise. Eine der ersten Performances der Künstlerin war eine Art Häutung aus einer Latexschicht, die sie sich über den Körper gegossen hatte. Und die aufblasbaren Objekte, die sie bewohnt, sind ja auch eine Art zweite Haut.

Victorine hält kurz inne und erklärt, sie habe damals einen Weg gesucht, den Raum, der unsere Körper umgibt – sie umschreibt ihn mit ihren Armen – zu zeigen. «Nur, wie zeigt man etwas, das unsichtbar ist?» Viele Versuche und einige Zufälle später habe sie das Schneidern dieser PVC-Hüllen erlernt. Ein Handwerk, das sie bis heute verfeinere.

Noch immer arbeite sie ohne Computermodelle, entwickle die zusammengeschweissten Formen anhand von Prototypen, eins zu eins gefertigt. Daraus entstehen dann Schnittmuster aus möglichst wenigen Einzelteilen, damit die Figuren aus einem Guss daherkommen. «Eine Knochenarbeit, auch nach Jahren Erfahrung», wie sie sagt.

 

Schlafen in der zweiten Haut: Victorine Müller bei der Performance «Dalunsch» im Kunstmuseum Thun.

Schlafen in der zweiten Haut: Victorine Müller bei der Performance «Dalunsch» im Kunstmuseum Thun.

Bild: David Aebi

Bei meinen Recherchen zu diesem Treffen hatte ich gesehen, dass sie in dieser Landschaft hier bereits Performances auf Video aufgezeichnet hat. Hüllenlos, nur mit etwas Moos belegt auf einem Stein liegend. Oder von einer luftigen Hülle umflattert durch den Wald tanzend. Oder mit einem Rock aus Geäst über Waldlichtungen hüpfend und in einem Bergbach sitzend.

Die Entdeckung des Freiluftateliers

Victorine erklärt, dass sie nicht zum ersten Mal in diesem Atelier zu Gast sei, und – dank Corona – einmal sogar beinah ein halbes Jahr bleiben durfte, da die Künstler:innen aus dem Ausland gar nicht anreisen konnten. So sei diese Landschaft hier zu ihrem neuen Atelier und Inspirationsort geworden, weit grösser als der kleine Raum, den sie zu Hause in Zürich zur Verfügung habe. Und während sie dies erzählt, verwandelt sich eben dieses Freiluftatelier.

Der Bergwald hat hier über Jahrhunderte geduldig einen massiven Bergsturz überwachsen. Mit Moos, Strauch und Baum bewachsene Felsbrocken, gross wie Ställe, liegen rum. Zwischen ihnen windet sich ein schmaler Weg über weiche Walderde, Wurzelwerk und Steinplatten bergwärts. Das durch die alten Bäume in einzelne Strahlen aufgefächerte Sonnenlicht lässt da und dort das dunkle Grün hell aufleuchten.

«Das ist doch der Stein, auf dem Du im Video liegst», sage ich. Ein Felsbrocken wie ein Altar. «Ja, das ist der Stein», antwortet Victorine. Wir machen kurz Rast, berühren das Moos, das aus der Oberseite des Brockens eine weiche Liege macht.

Ich frage sie, was diese neuen Videos sind: Die Herstellung eines Bildes oder mehr performative Selbstversuche? «Im Grunde geht es mir schon um das Bild», sagt sie. «Aber kaum hatte ich mich hier hingelegt, fühlte ich mich, als ob ich in der Natur versinke, vollkommen in diese Stille eintauche, obwohl es kühl war. Eine tiefe Empfindung.»

Wir machen ein Foto. «Gestern Abend», sagt Victorine, «habe ich mir überlegt, Dich zu fragen, ob wir diesen Weg schweigend gehen sollen.» «Kein Problem», sage ich. Performance mit Performerin, denk ich mir, freue mich und schreite voran, bei jeder Abzweigung per Geste klärend, wohin des Weges. «Zauberwald», überleg ich mir, sei ein zu kitschiges Wort – da springt die Künstlerin plötzlich an mir vorbei, biegt links vom Weglein ab, und verschwindet durch eine Art Felsspalt. Ich folge natürlich und stehe mit ihr vor einem wohl sechs Meter hohen Felsen, der mit einer hellgrün fluoreszierenden Flechte bewachsen ist.

«Ich dachte, ich mache hier eine Performance für Dich», sagt Victorine. «Ich habe minimales Equipment mitgenommen, meine zweite Körperhaut hab ich schon an. «Wunderbar», stammle ich und schaue ihr zu, wie sie einen luftig-leichten Malerplastik aus dem Rucksack zieht. Sie erklärt mir ihre Handykamera, die Einstellung, die sie möchte, «hoffentlich kommt noch etwas Sonnenlicht» – und klettert neben der Wand bergan auf einen Stein.

Und da ist es wieder, dieses engelhafte Wesen, dessen Hülle in Wind und Licht tanzt, das ich bereits auf Video gesehen hatte. Der frisch gebackene Assistent verwackelt den ersten Film, wir machen einen zweiten – und packen wieder zusammen.

Meditation vor aller Augen

Während Victorine ihre Schuhe anzieht, bestaune ich das Moos an einem Stein und sehe winzige rote Beeren, die an einer türkisfarbenen Flechte wachsen. «Was das wohl ist?» «Was wohl passieren würde, wenn wir die essen?»

Wir lassen den Hexenflug aus und gehen weiter, das Schweigegelübde nicht mehr allzu streng auslegend, und unterhalten uns über Drogen, meine wenigen und eher homöopathischen LSD-Erfahrungen, über die Wahrnehmung körperlicher Feinstofflichkeit und landen beim Thema Meditation.

Im Buch «Victorine Müller, A Moment in Time, Performances, Installationen und plastische Werke 1994–2014» schreibt der Religionswissenschaftler Jens Schlieter, dass in Victorins Arbeiten «die konzentriert-meditative Performance spirituelles Wissen zu aktualisieren scheine». Es lasse sich religionsästhetisch von einer Meditation vor aller Augen sprechen.

Victorine Müller, Performance, Wald bei Göschenen. 16. Mai 2023. Kamera: Mathias Balzer

Die Künstlerin selbst formuliert es anders. Sie gehe zwar seit Jahren in die Yoga-Stunde, und würde eigentlich auch gerne einmal Mediation erlernen, aber irgendwie entgleite ihr das immer wieder im Alltag. Wenn sie bei ihren Performances eine festgelegte Zeit still stehe, sitze oder liege, dann versuche sie einfach, ganz präsent zu sein, wach, in stummer Kommunikation mit dem Publikum. «Oder vielmehr ist es so, dass sich dieser ‹meditative› Zustand jeweils einstellt. Übrigens auch, wenn ich hier oben nur für die Kamera agiere. Es passiert einfach.»

«Wir haben etwas gesucht, das Sinn macht.»

Mittlerweile haben wir den Wald verlassen und spazieren das Tal hinan. Weiter hinten würden wir auf den Stausee der Göschener Alp treffen. Aber so sportlich ist unser Tempo nicht. Ich frage Victorine, ob sie von ihrer Kunst leben könne. «Ich finde die Frage seltsam, weil sie niemandem sonst, nur Künstler:innen, gestellt wird, als ob wir wie offene Bücher über alles Auskunft zu geben hätten.»

Ich erkläre, dass ich glaube, die Lebensweise und ökonomischen Modelle von Künstler:innen seien für das Publikum interessant, gerade weil es Künstler ja schaffen, das zu tun, was ihnen entspricht und gefällt, auch wenn es ökonomisch unvernünftig ist.

Für sie, sagt Victorine, habe das Ökonomische nie an erster Stelle gestanden, aber das sei vielleicht auch eine Eigenart ihrer Generation. «Wir haben uns damals in den Neunzigerjahren als ich in Zürich die F&F besucht habe, schon auch überlegt, wie das Künstlerleben finanziell aussehen wird. Aber letztendlich wollten wir das leben, wofür wir brannten, haben etwas gesucht, das Sinn macht, und dies dann getan.»

Von den Eltern seien ihr auf diesem Weg nie Steine in den Weg gelegt worden. Im Gegenteil, sie seien ihrer Entscheidung, Künstlerin zu werden, immer mit Respekt begegnet. Der Vater, ein Archäologe und Biologe habe selbst auch gemalt, für sich. «Und natürlich haben wir auf Reisen Ausgrabungen und archäologische Sammlungen besucht.»

Ich muss daran denken, dass zu ihren aufblasbaren Objekten auch der Flügel eines Pegasus und eine archaische Göttin gehören. Aber da merken wir, dass wir schon recht weit ins Tal hinein gewandert sind, und es für ein richtiges Mittagessen in der Arbeiterkantine im Dorf zu spät ist. Aber was Victorine zum Apéritif mitgenommen hat, reicht bei weitem für ein satt machendes Essen zwischen Steinen und Gras.

Victorine schenkt den Grünen Veltliner in mitgebrachte Gläser und ich muss an ihre Performance denken, bei der sie nur mit einem Rock aus Ruccolasprossen bekleidet einer ganzen Gesellschaft Wein spendete, der aus ihren Brüsten zu fliessen schien.

Zum Wein gibt es Tomaten, Oliven, zwei Sorten Crackers, Mozarellakugeln. Über uns stürzt Schmelzwasser über eine spektakuläre Felswand zu Tal. Victorine zeigt auf Blätter, die weiter unten über dem Bach im Wind tanzen. «Schau mal, wie die Aufwind haben!» Und sie denkt wohl kurz daran, ihren luftigen Engelsplastik gleich in diesen Wind zu hängen.

Wir reden darüber, wie sie ihre Videos in ihrem neuen Freiluft-Atelier herstellt. Sie arbeitet dabei meist alleine, was bedeutet, dass sie die Kameraeinstellung minutiös planen muss. Sie nehme dabei auch eine gewisse technische Unperfektion in Kauf. Aber es sei intensiver, wenn sie alleine performe, als wenn noch jemand dabei wäre.

Das Unsichtbare erfahrbar machen

Wir streifen nochmals das Thema Meditation und Bewusstseinserweiterung – oder besser die Beschränkung unseres Bewusstseins. Schliesslich nehmen wir mit unseren Sinnen ja nur einen bestimmten Teil der Wirklichkeit war. Für mich verweisen Victorines ephemere Werke, ihre Darstellung des undarstellbaren Raumes auf eben diese Tatsache.

Sie selbst sagt es im Buch über sie so: «Ich möchte auch etwas erfahrbar machen, was man nicht sehen und berühren kann.» Und mich inspiriert dieses Picknick am Wasserfall zum Gedanken, dass wir eigentlich zu Lebzeiten schon äusserst feinstoffliche Wesen sind – ja, vielleicht sind wir ja bereits Geister?

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Den Abstieg nehmen wir zügig unter die Füsse. Bald sind wir wieder im Wald und unten beim Kunstdepot angelangt, wo Victorine mir noch die Schlafräume und die drei Ateliers im Dachstock zeigt. In ihrem Raum liegt eine Zeichnung von ihr auf dem Tisch. Sie zeigt eine Frau in einem Ballkleid. Ihr wachsen Hörner aus der Stirn. Ein luftiges Fabelwesen umgarnt sie.

Ich mach mich wieder auf den Weg in das Land, wo Züge durch Löcher in Bergen fahren.

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