Der Künstler Pascal Lampert lebt und arbeitet seit über zehn Jahren im Val Müstair.

Der Künstler Pascal Lampert lebt und arbeitet seit über zehn Jahren im Val Müstair.

Bild: Mathias Balzer

Zu Besuch bei Pascal Lampert

Arte Povera, die aus dem Baumarkt kommt

Der neunte Gast in unserer Serie über Performance-Künstler:innen ist Pascal Lampert, ein «Werktätiger in Sachen absurder Poesie». Der Besuch bei ihm hat uns in sein Labor im Val Müstair und über die Grenze nach Italien geführt und zeigt: Die Peripherie kann ein inspirierender Nährboden für urbane Kunst sein.

Von Mathias Balzer

Chur/Basel, 22.02.2023

10 min

Pascal Lampert erwartet mich an der Postautohaltestelle Santa Maria Cumün. Die Fahrt zu ihm hat sich angefühlt, wie die Fahrt in ein verheissungsvolles Land. Mit dem Zug durchs Prättigau, durch den Vereina nach Zernez. Von dort mit dem Postauto über die wilde, verschneite, menschenleere Landschaft am Ofenpass.

Am Dorfrand oberhalb von Santa Maria haben sich Lampert und seine Partnerin, die Malerin Vera Malamud, vor sechs Jahren ein Haus gebaut. Zuvor lebten sie vier Jahre in einem der alten, traditionellen Häuser im Dorf. Nach zwanzig Jahren in Zürich sind sie 2012 in das Tal im fernen Südosten der Schweiz gezogen. Malamuds Eltern hatten hier schon ein Maiensäss, ein Feriendomizil auch für Lampert, Malamud und deren Tochter. Als diese mit zwanzig von zu Hause auszog, kam für das Künstlerpaar der Moment, Zürich zu verlassen.

«Wäre es nach mir gegangen, wäre ich nie hierhergezogen», sagt Pascal. «Es war Veras Wunsch. Aber letztendlich war das mein Glück. Die Themen, die mich bereits in Zürich beschäftigt haben, liegen hier vor der Haustüre.»

Performances zum Selbermachen

FRIDA schenkt ihren Leser:innen zwölf Performances zum Selbermachen. In unserer vom Künstler Chris Hunter kuratierten Serie «Mach’s» stellen wir zwölf Performance-Künstler:innen aus der Schweiz vor. Wir laden sie dafür zum Essen ein. Im Gegenzug präsentieren die Künstler:innen jeweils eine Performance-AnleitungDiejenige von Pascal Lampert findest Du am Ende dieses Artikels.

Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt. Es ist ganz einfach: «Mach’s!»

Am 27. Juni 2023 wird die Publikation zum Projekt im Museum Tinguely in Basel präsentiert.

Im Val Müstair leben rund 1400 Menschen. Weltberühmt sind das romanische Kloster und Donna Leon, die hier ein Domizil hat. Der Schweizer Autor Tim Krohn lebt mit seiner Familie ebenfalls seit 2014 in Santa Maria. Das Tal definiert sich als Biosphärenreservat. Das klingt nach grünem Pioniergeist. Politisch ist das Müstair aber SVP-Land. Lampert schneidet das Thema nur kurz an: «Wir waren schon lange nicht mehr an einer Gemeindeversammlung.» Aber der tägliche Kontakt im Dorf sei angenehm. «Man lässt einander leben.»

An das Wohnhaus angebaut ist der Atelier-Trakt. Eine Schichtung: Zuoberst das Atelier von Vera, dann dasjenige von Pascal, unten ein Gastatelier, das monatlich an Künstler:innen vergeben wird. Sie kommen aus der ganzen Welt hierher. Zurzeit meines Besuches ist es eine Künstlerin aus Belgien. Die Peripherie kann eben auch Zentrum sein.

Die drei lichtdurchfluteten Atelier-Etagen werden durch eine weitere Schicht vervollständigt: Das Holzhaus der Künstler steht auf den Überresten einer spätmittelalterlichen Kapelle. Vor dem Bau wurden sie dokumentiert und dann wieder zugeschüttet.

Lamperts Atelier gleicht mehr dem Labor eines Tüftlers als dem eines klassischen Künstlers.
Da steht beispielsweise eines seiner «Stempelinstrumente» – dazu später mehr.

Oder eine Schaltafel, verdrahtet mit speziellen Mini-Lautsprechern, liegt auf Tischböcken, darauf ein Text, der gerade in Bearbeitung ist. Lampert zerlegt ihn in Fragmente – bis zur Unkenntlichkeit – oder bis er eine ganz neue Bedeutung offenbart.

Teile eines Schlagzeugs sind durch eine Konstruktion verbunden und erzeugen vibrierende Geräusche. Ein Klangexperiment.

Videoscreens lehnen an einer Wand, ein Triptychon mit dem Titel «MIAtlantis», in dem Wasser überlange bearbeitete Fotografien der Ausgrabung der Kapelle unter dem Haus fliessen.

An einer anderen Wand hängen Teile der Arbeit «Tuot in uorden» (dt. «Alles in Ordnung»). Verwittertes Holz der alten Aussenwand vom Familienmaiensäss. Hier haben die Natur und die Zeit «gemalt». Daneben sind aquarellierte Initialen platziert, schablonenhaft, eine Hommage an Künstlerpersönlichkeiten, eine neue Arbeit.

«Im Grunde sind das hier diverse Schichtungen von Themen, Techniken, Medien», erklärt Lampert. Ein Archiv, in dem sich ältere Arbeiten, neue Ideen, Materialrecherchen, Klang- und Formexperimente überlagern und immer neue Kombinationen eingehen. «Mit der Zeit fliessen diese Dinge ineinander. Manchmal arbeite ich wochenlang an einer Idee und lege sie dann weg. Oft taucht sie dann Jahre später in anderen Zusammenhängen wieder auf. Im Grunde setze ich Vorhandenes immer wieder neu zusammen, verdopple es, versuche es zu spiegeln.»

Performance, Klanginstallationen, Malerei, Video, Sprache – in Schrift und Ton – verschränken sich immer wieder neu.

«Ich versuche für Dinge, eine neue Sprache zu finden, dehne Bedeutungen ins Offene. Was natürlich das Risiko birgt, dass sie gänzlich auseinanderfallen»,

sagt er und lacht. Experimente und die damit verbundene Gefahr des Scheiterns sind hier Teil des Spiels. «Ich sehe mich auch mehr als Laborarbeiter denn als Konzeptkünstler.»

Wir gehen raus und steigen ins Postauto Richtung Italien. «Hier zu leben, bedeutet auch, viel unterwegs zu sein», sagt Lampert, der ausschliesslich per ÖV reist. Sei es Richtung Norden, wo die Schweizer Kunstszene überlebenswichtiges Netzwerk ist. Oder eben Richtung Süden. Die Grenze liegt bloss ein paar Kilometer von seinem Haus entfernt, die Strasse führt entlang des Roms.

Der Bach wurde auf der italienischen Seite vor ein paar Jahren zwecks Stromproduktion teilweise in eine unterirdische Röhre verlegt. Lampert hat die Baustelle, die Wunden und Narben in der Landschaft, filmisch dokumentiert. Die Installation «StROM» wurde 2019 im Bündner Kunstmuseum präsentiert und mit dem Preis des Bündner Kunstvereins ausgezeichnet.

Dem Wasser auf der Spur

Landschaft ist für Lampert immer auch Atelier. Das Thema Wasser beschäftigt ihn seit einem Aufenthalt in der Fundaziun Nairs bei Scuol im Jahr 2002. Wasser, das unfassbare Element, immer in Bewegung, bloss scheinbar immer gleich. Für Lampert ist es Performance-Material, Untersuchungsgegenstand, Klangerzeuger, rätselhafte Sprache, Sinnbild für das ewig Fliessende, für ständige Veränderung, für das Ephemere, das aber auch kristallisieren oder gefrieren kann. Für die Installation «Archiv der getrockneten Tropfen» sammelte der Künstler Wassertropfen aus allen Gewässern Graubündens und fotografierte diese unter dem Mikroskop.

Das Postauto hat die Grenze überquert und erreicht das Südtirol. Landschaft und Himmel weiten sich. Hat man bei der Anreise ins Münstertal das Gefühl, ans Ende der Welt zu gelangen, passiert hier das Gegenteil: eine neue Welt, der Süden, öffnet sich, Tal und Himmel werden weit. Lampert, der künstlerische Grenzgänger mag Grenzen, weil man sie überschreiten kann. Das Südtirol, die Landschaft, die kleine, aber aktive Kunstszene, mit der er sich regelmässig austauscht, hätten sein Leben bereichert. Und der nahe Süden verkürzt die Winter am Berg. «In Meran wachsen ja schon Palmen.» Und kulinarisch hat das Tal auch viel zu bieten.

Das «Flurin» in Glurns wurde von innovativen jungen Gastronomen gegründet. Neustes italienisches Design in einem uralten Gewölbe. Die Küche und der Wein sind exquisit, aber preiswert. Wir essen Gnocchi mit Wildragout und Kalbsbries mit Topinambur, später Dessert.

Pascal Lampert ist in der Industriestadt Winterthur geboren und aufgewachsen. Der Vater war Maschinenbauer, die Mutter Ernährungsberaterin, ein Grossvater Gärtner, ein Onkel Ingenieur in Davos und Hobbymaler, mit dem man oft die Museen Winterthurs besucht habe. Letztendlich alles frühe Prägungen eines Lebenswegs: Maschinen, Kunst und Natur.

Gärtner sei auch eine Weile auf der Wunschliste für Berufe gestanden, erzählt Lampert beim Essen. Aber bald war ihm klar, dass er an eine Kunstschule nach Holland wolle. Bloss fand der Vater, zuerst müsse eine solide Ausbildung her. Lampert entdeckte einen Zwischenweg: Er absolvierte die Lehre als Theatermaler im Schauspielhaus Zürich – und ging danach an die Hogeschool voor de Kunsten in Arnhem, Holland.

Aber wie es so ist, wenn Wünsche wahr werden: «Es begann eine sehr schwierige Zeit. Ich wusste plötzlich gar nicht, wie mit diesem Freiraum der Kunst umgehen, sackte beinah in eine Depression ab. Ich war nach einem Jahr nahe daran zu scheitern.» Geholfen habe dann das Experimentieren mit anderen Medien als Malerei, mit Fotografie etwa.

«Letztendlich war diese Erfahrung sehr prägend: Dass Zeit wichtig ist, und dass man als Künstler Offenheit und Nichtwissen aushalten muss.»

Sich dem Unbekannten, Unerwarteten radikal aussetzen: Das hat viel mit Lamperts Arbeit als Performer zu tun. Der Begriff «Arbeit» ist hier bewusst gesetzt, denn der Künstler tritt meist als eine Art Werktätiger in Sachen absurder Poesie auf. Er erfindet für seine Aktionen eigenartige Requisiten und Instrumente. Die Materialien sind allesamt kunstfern, Arte Povera aus dem Baumarkt oder der Landi, wie das blaue Obstfass oder die weissen Gummistiefel, die sonst nur Käser oder Schlachter tragen.

Nach dem Essen spazieren wir durch Glurns und umrunden Teile der Stadtmauer. Hier hat Lampert 2014 eine seiner typischen, ortsspezifischen Arbeiten realisiert. Auf Einladung eines kleinen Kunstraumes bot der schwarz gekleidete Mann an einem sonnigen Tag den zahlreichen Touristen im Städtchen ein seltsames Schauspiel. Ohne eine Miene zu verziehen, stempelte er mit einem offensichtlich eigens gebastelten Gerät Wasserpunkte aufs Pflaster, behutsam und konzentriert, einen nach dem anderen, und zeichnete so eine Linie, die aus einem der Stadttore hinausführte. «Punkt für Punkt zur Stadt hinaus» war der Titel.

Lampert sucht in seinen Performances meistens die Reibung mit dem öffentlichen Raum. Etwa wenn er in Zürich mit einer mit Sand gefüllten, mit Buchstaben aus Schwämmen bestückten «Schreibrolle» durch die Stadt wandert und mit Wasser unendliche Male «HAEIOU» auf den Asphalt «druckt». Die Abkürzung für «Ha Also es ist ohnehin unwichtig». Inmitten der von Konsum-Logos vollgepflasterten Zwingli-Stadt durchaus ein politisches Statement, aber mit absurder Komponente: Kaum da, verdunstet die Schrift.

«Ich setze mich jedes Mal aus, was natürlich auch immer Überwindung kostet. Und wenn es schiefgeht, möchte man natürlich am liebsten im Erdboden versinken.» Aber dieses Risiko gehört für Lampert zum Spiel, die Konfrontation oder Begegnung mit einem kunstfernen Publikum reizt in besonders. Am liebsten sei ihm, wenn gar kein eigentliches Publikum anwesend sei. «Was natürlich oft nicht zu verhindern ist…»

Seine Kunst ist eine Kunst, die, wenn immer möglich, den Kunstraum verlässt. Und wenn sie einen solchen bespielt, dann würde Lampert das Publikum am liebsten mitspielen lassen.

Beispielsweise bei seiner Einzelausstellung im Bündner Kunstmuseum anlässlich des Preises des Bündner Kunstvereins, wo er aus seinen Performance-Instrumenten eine Art Orchester arrangierte, das – wäre es nach ihm gegangen – durchaus von den Zuschauern hätte benutzt werden dürfen. Das Problem sei aber, dass eben alles zur Kunst – und also unantastbar – werde, sobald man es ins Museum stellt.

Unser Spaziergang endet vor einer «Goggale Box», einem Automaten für frische Eier vom Bauernhof. Lampert zeigt auf eine von Geröll durchzogene Bergflanke hinten im Tal. «Da gab es einen wunderbaren Höhenweg, bevor der Berg kam. Früher habe er gedacht, diese Berge hier seien ewig. «Aber auch sie sind nicht stabil.»
Alles ist im Fluss.

Performance-Anleitung von Pascal Lampert für das FRIDA Magazin