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Essen mit Lea Rüegg

Der Alltag ist die Performance

Für den sechsten Teil unserer Reihe «Machs» haben wir Lea Rüegg in Zürich getroffen. Rüegg verwischt die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem und staunt nach drei Jahren in Brüssel darüber, was für ein ultra konservativer und privilegierter Kontext die Schweiz ist.

Von Mathias Balzer

Zürich, 24.11.2022

10 min

Die Künstler:innen, die Kurator Chris Hunter einlädt, in diesem Magazin eine Performance-Anleitung zu veröffentlichen, treffen wir jeweils zum Essen. Die Eingeladenen dürfen wählen: Gourmettempel, Lieblingsbeiz, Kebab-Stand, Picknick oder selber kochen: Alles ist möglich.

Lea Rüegg wählt ein Mittagessen im «Café Zähringer» im Zürcher Niederdorf, eine Genossenschaftsbeiz, gegründet 1981. Das Lokal ist eine Institution, auch nach vierzig Jahren noch kollektiv und selbstverwaltet. Ein nicht zufällig gewählter Ort, wie sich zeigen wird. Lea wählt die Pilzschnitte aus dem Mittagsmenue, der Schreibende eine Bio-Saucisson mit Sauerkraut und Bratkartoffeln.

Rasch dreht sich das Gespräch um ein zentrales Thema: Narrative. Wer erzählt wie wessen Geschichte? Eine Frage, die Rüeggs Generation mit Vehemenz in den öffentlichen Diskurs getragen hat. Kein Wunder: Als das erste I-Phone rauskam, war Lea Rüegg 15 Jahre alt, 24 als der grosse Demagoge des Storytelling Präsident der USA wurde. #Metoo, Genderdiskurs, Postkolonialismus- oder Aneignungs-Debatte sind als konträre Stimmen umso wichtiger geworden. Lea, 30-jährig, they/them/kein Pronomen, sagt:

«Ich misstraue den hergebrachten Narrativen des Storytelling.»

In der Kunst versucht Rüegg, den Erzählrahmen maximal zu erweitern und ihn gleichzeitig zu reflektieren. Im «Artist Statement» auf their Webseite bezeichnet sich Lea als «filmmaker, performance and sound artist» mit dem Forschungsschwerpunkt Hauntology, also Geisterkunde, und Technoanimismus.

«Am Anfang der Arbeiten steht jedoch meistens meine Stimme. Als Ausgangsmaterial.» Es gehe letztendlich um körperliche Formen der Sprache. «Ich meine damit Formen von Sprache, die konträr zur westlichen Wissensproduktion stehen, wie Lieder, Gebete, Gossip oder Gutenachtgeschichten.»

Performances zum Selbermachen

FRIDA schenkt ihren Leser/-innen zwölf Performances zum Selbermachen. In unserer vom Künstler Chris Hunter kuratierten Serie «Mach’s» stellen wir zwölf Performance-Künstler/-innen aus der Schweiz vor. Wir laden sie dafür zum Essen ein. Im Gegenzug präsentieren die Künstler/-innen jeweils eine Performance-AnleitungDiejenige von Lea Rüegg findest Du am Ende dieses Artikels.
Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt.
Nach einem Jahr werden die zwölf Performances samt Euren Erlebnissen in einer Publikation dokumentiert.
Es ist ganz einfach: «Mach’s!»

Ein weiteres Stichwort ist Intimität. Lea Rüegg sagt: «Das Zeigen von Intimität und Verletzlichkeit ist ein politischer Akt. Es geht um eine Erweiterung des Selbst, der eigenen Erfahrung, um das Zulassen von emotionalen Zuständen, Gedanken, die nicht einer kapitalistischen Verwertbarkeitslogik unterliegen.»

Intimität als Kapitalismuskritik. Und als künstlerische Strategie, um die Arbeit den Begehrlichkeiten des Kunstmarktes zu entziehen. Rüegg arbeitet ohne Galerie und fragt sich sogar beim Einrichten einer Arbeit in der Kunsthalle Basel, ob dieser Kontext wegen des Renommees nicht eben auch einfach ein kapitalistischer Kontext sei.

Eingeladen vom Kunstkredit Basel, wurde dort vom 25. September bis 9. Oktober die Arbeit «Cherrystone Archive» gezeigt, die anhand gesammelter Kirschsteine das Wesen von Erinnerungen thematisiert.

Die Vorbereitung zur Ausstellung stand im Zeichen des Versuchs, sich von diesem Kontext nicht mehr unter Druck setzen zu lassen.

«Ich sagte mir: Wenn ich den Prozess nicht geniessen kann, was bringt es dann Kunst zu machen?»

Angesprochen auf die eher wenigen Live- und vielen Videoarbeiten sagt Lea Rüegg: «Das was mich an Performancekunst interessiert, passiert nicht auf der Bühne, sondern im Alltag.» Lea wird später im Gespräch erklären, was Lea damit meint.

Drei Geister aus drei verschiedenen Zeitebenen

Aber wie geht das nun alles unter einen Hut? Erweitertes Storytelling, verkörperlichte Sprache, Performance, Film, Musik, Politik, Kontextualisierung, Intimität, Verletzlichkeit und Geisterkunde?

Am besten wird das sichtbar in «How to be intimate with a ghost», einem 20-minütigen Video aus dem Jahr 2019. Zentral steht darin ein Script für eine Kamera in Rüeggs Wohnung. Mit ruhiger Stimme erklärt Lea, wie Lea damit eigentlich Geister zu sich lädt, Geister aus der Zukunft. Nämlich das Publikum, das dereinst dieses Video sehen wird.

Ein Geist aus der Vergangenheit ist Leas verstorbener Vater, mit dem Lea manchmal spricht, wenn Lea auf dem Balkon sitzt und der – sehr real – durch Leas Träume wandert. Über seine Urnenbeisetzung erzählt Lea im Video eine wunderbare Geschichte. Nachdem seine Asche von einem Boot in den Ozean verstreut wurde, kam ein Sturm auf. Während einige Familienmitglieder seekrank wurden, habe Lea diesen Moment gefeiert, weil Lea in Wind, Wellen und Regen den Vater gesehen hat.

Der dritte Geist, den das Video beschwört, ist der Ex-Partner, an- oder eben abwesend in den Online-Foren und Chat-Rooms, jenen Einsamkeitsräumen, die geisterhaft unsere realen Räume einnehmen.

Vater, Ex-Partner und Zuschauer. Drei Geister aus unterschiedlichen Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.

Die Kamera: Wackelig, kalkulierter Trash, viel Schwarz. Die Bildwelt: Taschenlampenkegel schweifen über Geschirrtürme, eine Staubsauger-Performance vor rotierendem Fischaugen-Objektiv, eine Balkon-Szene, ein junger Mensch mit VR-Brille als Vertreter der unsichtbaren Geister, eine Haushaltsperformance, während der Rüegg darüber reflektiert, was das Publikum dereinst wohl über diesen 20-minütigen Film denken wird.

Das Private wird öffentlich

Die eigene Wohnung als Setting ist Statement zugleich: Lea Rüegg hat kein Atelier, arbeitet zuhause und ist sich auch bewusst, dass es einer Gratwanderung gleichkommt, die Trennung von Arbeit und Kunst aufzuheben. «Beim Arbeiten zuhause und bei der Inszenierung der eigenen Wohnung geht es mir nicht darum privat zu sein und diesen privaten Raum zu benutzen, um Intimität zuzulassen.»

Sondern es gehe darum, diese Trennung von Privat und Öffentlich absichtlich zu verwischen. «Die Lust diese Grenzen zu verwischen, kommt aus einer feministischen Haltung heraus und ist eine Selbstermächtigung. Wenn beispielsweise Muda Mathis und Pippilotti Rist eine Kamera an einen Staubsauger binden, sagen sie damit:

Haushalt ist auch Kunst, ist also auch Arbeit und also auch politisch.»

Diese häuslichen Tätigkeiten nicht als reproduktive Gesten auszublenden, sondern sie einzubeziehen und in Szene zu setzen, sei, so Rüegg, ein bewusster Versuch, gegebene Wertvorstellungen zu hinterfragen.

Aber was ist dieses Video nun genau? Ein performatives Essay? Eine Home-Story? Ein intimes Bekenntnis totaler Einsamkeit? Eine neue Form der Geisterbeschwörung?

Wohl von allem etwas. Die Vielzahl der Themen spiegelt sich in der Vielzahl der Mittel, welche genutzt werden. Film, Sprache, Musik, Performance.

«Ich kann Vieles, aber nichts richtig gut», sagt Rüegg und lacht. Aber das sei ja auch kein Problem. «Wenn mich etwas interessiert, tue ich es einfach.»

Spiel Gitarre, dreh Filme, schreib Texte, auch wenn Du keine Ahnung davon hast. Das ist die Punk-Attitude aus den späten Siebzigern. Nur ist diese Punk-Haltung hier eine hoch artifizielle, oder besser: eine durch und durch reflektierte.

Genauso ehrlich und präzise denkt Rüegg über die eigene Position als Erzähler*in und Künstler*in nach: «Ich bin mir sehr bewusst, dass ich als weisse, junge, in der Schweiz sozialisierte Person aus einer sehr privilegierten Situation heraus kommuniziere.»

Der Blick von aussen

Lea Rüegg ist in Zürich aufgewachsen. Der Vater Kurt Rüegg war ein Siebdrucker und autodidaktischer Fotograf, was einen Zugang zu den Künsten sicher erleichtert habe. Nach einem Abstecher als Assistenz am Schauspielhaus («das war mir viel zu hierarchisch») machte Rüegg in Zürich den Vorkurs, studierte in Basel Kunst, unter anderem bei der Punk-Pionierin Muda Mathis, und absolvierte einen Master of Fine Arts an der Roaming Academy am Dutch Art Institute in Arnheim, einem begehrten und renommierten Studienplatz für Kunst.

Der Studiengang ist so angelegt, dass sich die Teilnehme:innen jeden Monat für eine Woche an einem für die Arbeit geeigneten Ort irgendwo in Europa treffen und austauschen. Lea Rüegg hat dieses Studium von Brüssel aus absolviert – dort auch einen Teil der Pandemie erlebt, und das Bewusstsein für die Privilegiertheit der eigenen Situation nochmals geschärft: «Erst als ich die Schweiz über längere Zeit verlassen habe und wieder zurückkam, wurde mir wirklich bewusst, was für ein ultra konservativer und privilegierter Kontext die Schweiz ist. Diskurse, die den eigenen Reichtum kritisch reflektieren, wie etwa die kolonialen Verstrickungen der Schweiz, werden hier oft schlicht nicht angesprochen.» Auf Schritt und Tritt fühle sich Lea mit verdrängten Geistern konfrontiert und mit der Frage, wer auf welche Weise die Geschichte der Schweiz schreibe.

Lea Rüegg weiss aber auch von den Vorteilen dieses rausgeputzten Landes. In Brüssel könnte man sich nie mit einem Teilzeit-Restaurant-Job die Mittel für kompromisslose Kunstausübung verdienen. In Zürich schon. Rüegg arbeitet im «Ziegel au Lac» in der Roten Fabrik, wie das «Café Zähringer» eine 40 Jahre alte Trutzburg des genossenschaftlichen Miteinanders.

Kunst und Jobben sind für them keine getrennten Welten. Ein zentraler Satz in unserem Gespräch knüpft hier an:

«Die eigentliche Performance passiert im Alltag. Das ‘Kunstwerk’ ist nur eine Momentaufnahme des fortwährenden Prozesses.»

Was wiederum bedeutet, dass potenziell alles Kunst sein kann. Oder: Dass das Essentielle der Kunst – die Erweiterung der Wahrnehmung, die Erfahrung von Transzendenz – auch unabhängig von einem Kunstwerk im Alltag stattfinden kann.

Lea Rüegg sagt es so: «Wenn ich im ‘Ziegel’ Dutzende Espressi rauslasse, dann tue ich das ganz bewusst und mit voller Konzentration auf den Moment.»

Vielleicht liegt da ja der Schlüssel zu dieser künstlerischen Haltung: Die Verzauberung des gewöhnlichen Alltags durch Präsenz, durch Offenheit, Intimität und Verletzlichkeit.

 

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Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt.
Nach einem Jahr werden die zwölf Performances samt Euren Erlebnissen in einer Publikation dokumentiert. Es ist ganz einfach: «Mach’s»!