Ein weiteres Stichwort ist Intimität. Lea Rüegg sagt: «Das Zeigen von Intimität und Verletzlichkeit ist ein politischer Akt. Es geht um eine Erweiterung des Selbst, der eigenen Erfahrung, um das Zulassen von emotionalen Zuständen, Gedanken, die nicht einer kapitalistischen Verwertbarkeitslogik unterliegen.»
Intimität als Kapitalismuskritik. Und als künstlerische Strategie, um die Arbeit den Begehrlichkeiten des Kunstmarktes zu entziehen. Rüegg arbeitet ohne Galerie und fragt sich sogar beim Einrichten einer Arbeit in der Kunsthalle Basel, ob dieser Kontext wegen des Renommees nicht eben auch einfach ein kapitalistischer Kontext sei.
Eingeladen vom Kunstkredit Basel, wurde dort vom 25. September bis 9. Oktober die Arbeit «Cherrystone Archive» gezeigt, die anhand gesammelter Kirschsteine das Wesen von Erinnerungen thematisiert.
Die Vorbereitung zur Ausstellung stand im Zeichen des Versuchs, sich von diesem Kontext nicht mehr unter Druck setzen zu lassen.
«Ich sagte mir: Wenn ich den Prozess nicht geniessen kann, was bringt es dann Kunst zu machen?»
Angesprochen auf die eher wenigen Live- und vielen Videoarbeiten sagt Lea Rüegg: «Das was mich an Performancekunst interessiert, passiert nicht auf der Bühne, sondern im Alltag.» Lea wird später im Gespräch erklären, was Lea damit meint.
Drei Geister aus drei verschiedenen Zeitebenen
Aber wie geht das nun alles unter einen Hut? Erweitertes Storytelling, verkörperlichte Sprache, Performance, Film, Musik, Politik, Kontextualisierung, Intimität, Verletzlichkeit und Geisterkunde?
Am besten wird das sichtbar in «How to be intimate with a ghost», einem 20-minütigen Video aus dem Jahr 2019. Zentral steht darin ein Script für eine Kamera in Rüeggs Wohnung. Mit ruhiger Stimme erklärt Lea, wie Lea damit eigentlich Geister zu sich lädt, Geister aus der Zukunft. Nämlich das Publikum, das dereinst dieses Video sehen wird.
Ein Geist aus der Vergangenheit ist Leas verstorbener Vater, mit dem Lea manchmal spricht, wenn Lea auf dem Balkon sitzt und der – sehr real – durch Leas Träume wandert. Über seine Urnenbeisetzung erzählt Lea im Video eine wunderbare Geschichte. Nachdem seine Asche von einem Boot in den Ozean verstreut wurde, kam ein Sturm auf. Während einige Familienmitglieder seekrank wurden, habe Lea diesen Moment gefeiert, weil Lea in Wind, Wellen und Regen den Vater gesehen hat.
Der dritte Geist, den das Video beschwört, ist der Ex-Partner, an- oder eben abwesend in den Online-Foren und Chat-Rooms, jenen Einsamkeitsräumen, die geisterhaft unsere realen Räume einnehmen.
Vater, Ex-Partner und Zuschauer. Drei Geister aus unterschiedlichen Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
Die Kamera: Wackelig, kalkulierter Trash, viel Schwarz. Die Bildwelt: Taschenlampenkegel schweifen über Geschirrtürme, eine Staubsauger-Performance vor rotierendem Fischaugen-Objektiv, eine Balkon-Szene, ein junger Mensch mit VR-Brille als Vertreter der unsichtbaren Geister, eine Haushaltsperformance, während der Rüegg darüber reflektiert, was das Publikum dereinst wohl über diesen 20-minütigen Film denken wird.
Das Private wird öffentlich
Die eigene Wohnung als Setting ist Statement zugleich: Lea Rüegg hat kein Atelier, arbeitet zuhause und ist sich auch bewusst, dass es einer Gratwanderung gleichkommt, die Trennung von Arbeit und Kunst aufzuheben. «Beim Arbeiten zuhause und bei der Inszenierung der eigenen Wohnung geht es mir nicht darum privat zu sein und diesen privaten Raum zu benutzen, um Intimität zuzulassen.»
Sondern es gehe darum, diese Trennung von Privat und Öffentlich absichtlich zu verwischen. «Die Lust diese Grenzen zu verwischen, kommt aus einer feministischen Haltung heraus und ist eine Selbstermächtigung. Wenn beispielsweise Muda Mathis und Pippilotti Rist eine Kamera an einen Staubsauger binden, sagen sie damit:
Haushalt ist auch Kunst, ist also auch Arbeit und also auch politisch.»
Diese häuslichen Tätigkeiten nicht als reproduktive Gesten auszublenden, sondern sie einzubeziehen und in Szene zu setzen, sei, so Rüegg, ein bewusster Versuch, gegebene Wertvorstellungen zu hinterfragen.
Aber was ist dieses Video nun genau? Ein performatives Essay? Eine Home-Story? Ein intimes Bekenntnis totaler Einsamkeit? Eine neue Form der Geisterbeschwörung?
Wohl von allem etwas. Die Vielzahl der Themen spiegelt sich in der Vielzahl der Mittel, welche genutzt werden. Film, Sprache, Musik, Performance.
«Ich kann Vieles, aber nichts richtig gut», sagt Rüegg und lacht. Aber das sei ja auch kein Problem. «Wenn mich etwas interessiert, tue ich es einfach.»