Weltbilder, wissenschaftlich und neu
Schon wieder wird das «Gekritzel» nicht unbedingt verstanden, könnte man sagen. Aber darum geht es Orlowska ja gerade. Wie viele Künstler:innen ihrer Generation bewegt sie sich auf der Höhe aktueller soziologischer, philosophischer oder wissenschaftlicher Diskurse. Als inspirierende Autorin erwähnt sie etwa Karen Barad, die mit ihrem «Agential Realism» jegliche Metaphysik, die auf autonomen Individuen beruht, radikal hinterfragt. In Barads Theorie bestehen Objekte oder Phänomene nicht ausserhalb oder vor einer Interaktion. Vielmehr gehen Objekte aus «Intra-Actions» erst hervor.
Ein damit zusammenhängendes Thema ist für Orlowska die Dichotomie, also die Trennung von Geist und Körper. Die Künstlerin negiert diese, und sucht einen Weg, der Einheit von Körper und Geist künstlerischen Ausdruck zu geben.
Ihre surrealen Kreationen entspringen demnach nicht einfach einer künstlerischen Fantasie. «Ich habe ein sehr wissenschaftliches, biologisches Weltbild», erklärt Orlowska. Der Vater ihrer Kinder ist denn auch Biologe.
«Wir sind eine zufällige Ansammlung von Atomen»
Schwer verständliche Kunst, gerahmt von theoretischen Kuratoren-Texten. Das Kunstpublikum ist sich diesen Spagat von Theorie und Praxis mittlerweile gewohnt. Ernestyna Orlowskas eigene Reflexionen über ihre Kunst hingegen sind wohltuend konkret.
Sie versuche einen möglichst weiten, distanzierten Blickwinkel einzunehmen, eine Aufsicht aus dem All sozusagen, gepaart mit einer radikalen Innensicht. «Eigentlich sind wir ja keine festen Identitäten oder Wesen. Wir sind eine zufällige Ansammlung von Atomen, von elektronischer Spannung. Unser Verhalten ist evolutionär bedingt und in diesem Sinne auch ein Produkt des Zufalls.»
Ihr sei bewusst, dass ihre Arbeiten für das Publikum schwer lesbar sind. «Aber ich bin ja Künstlerin und halte keine wissenschaftlichen Vorträge. Ich will diese Inhalte anders erfahrbar machen, jenseits der Autorität intellektueller Erfahrung.»
Orlowskas Kunst ist ein Statement gegen Normen und Konventionen. Aber sie formuliert das nicht mit rebellisch-revolutionärem Unterton. Ihr ist bewusst, dass «Menschen Konvention und Normen brauchen. Wir sind Wesen, die aus Sippen stammen. Wir wollen dazugehören. Deshalb passen wir uns an verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen an. Wir sehnen uns nach Zugehörigkeit. Aber im Grunde könnte alles auch anders sein.»
Für die Künstlerin geht es durchaus auch um die Erfahrung von Transzendenz, um die Fähigkeit, sich als Teil eines grösseren Ganzen zu sehen, über das wir keine Kontrolle haben. «Das ist schon beinah religiös. Ich möchte es schaffen, mein Publikum in diese Art Schwebezustand zu bringen.»