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Essen mit Ernestyna Orlowska

«Im Grunde könnte alles auch anders sein»

Ernestyna Orlowska ist der dritte Gast in unserer Performance-Reihe «Machs». Sie schenkt unseren Leser:innen eine Performance-Anleitung, und wir haben sie zum Essen eingeladen. Im Porträt erzählt sie, warum sie als Kind manisch gezeichnet hat, was ihr Jean-Michel Basquiat bedeutet und warum sie das Publikum in einen beinah religiösen Schwebezustand bringen möchte.

Von Mathias Balzer

Basel, 16.06.2022

11 min

Die Künstler:innen, die Kurator Chris Hunter einlädt, in diesem Magazin eine Performance-Anleitung zu veröffentlichen, treffen wir jeweils zum Essen. Die Gäste dürfen wählen: Gourmettempel, Lieblingsbeiz, Kebab-Stand, Picknick oder selber kochen: Alles ist möglich.

Ernestyna Orlowska schreibt: «Wir könnten in die `Steinhalle` im historischen Museum gehen. Da wollte ich schon immer mal hin. Gemäss Gault Millau ist es das beste Restaurant von Bern. Wenn es euer Budget erlaubt gehen wir am besten am Abend hin.»

Da wir «Gourmettempel» auch in unserer Auflistung haben, sehen wir über die Budget-Frage hinweg. Ernestyna kommt mit dem Fahrrad, hinten ein Kindersitz, im Bauch das zweite Kind, das demnächst zur Welt kommt. Im Garten am Fuss des historisierenden Prachtbaus bestellt sie alkoholfreien Schaumwein aus Frankreich. Der Schreibende startet mit deutschem Weissburgunder.

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Performances zum Selbermachen

FRIDA schenkt ihren Leser:innen zwölf Performances zum Selbermachen. In unserer vom Künstler Chris Hunter kuratierten Serie «Machs» stellen wir zwölf Performance-Künstler:innen aus der Schweiz vor. Wir laden sie dafür zum Essen ein. Im Gegenzug präsentieren die Künstler:innen jeweils eine Performance-AnleitungDiejenige von Ernestyna Orlowska findest Du am Ende dieses Artikels.
Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt.
Nach einem Jahr werden die zwölf Performances samt Euren Erlebnissen in einer Publikation dokumentiert.
Es ist ganz einfach: «Mach’s»!

Die 34-jährige Künstlerin ist auffallend gross, wirkt anfangs scheu, aber die Zurückhaltung legt sich ebenso schnell, wie wir bei einer der Kernfragen unseres Gesprächs sind: Was inspiriert sie? «So genau, kann ich das gar nicht festmachen. Kunst, Wissenschaft, Social Media, die ganzen Medien plus die Wirklichkeit.» Inspiration könne beispielsweise die kapitalistische Warenwelt sein, die gezielt Güter mit kurzer Lebensdauer produziere. «Meine Antwort darauf sind z.B. Kleider, die aus recycelten Kleidern entstehen. Ihnen ist anzusehen, dass sie nur Fragmente sind, dass sie nicht für die Ewigkeit gemacht sind, sie repräsentieren für mich die Flüchtigkeit des Lebens.»

Die Umwege sind interessant

Ihre Modereihe «Textile Reincarnation», entstanden während des Lockdowns, ist nur ein Teil ihres vielgestaltigen Werks. Ernestyna Orlowska tritt sowohl als Einzelperformerin, in Ensembles, als Regisseurin, Bühnen- oder Kostümbildnerin in Erscheinung. Sie entwirft für die eigenen Shows und für andere Ensembles Environments und Kostüme. Ihre Schöpfungen sind fremdartig anmutende, traumähnliche Welten, die nach unbekannten Gesetzmässigkeiten funktionieren. Menschen werden darin objekthaft und Objekte erhalten unerklärliches Eigenleben. Auf die Frage, wie diese Bühnenwelten entstehen, antwortet die Künstlerin: «Eigentlich immer während des Machens.» Konzept, Material, Ideen entstehen bereits davor, aber erst bei der Realisation geschieht das Eigentliche.» Sie zitiert Fischli/Weiss, sinngemäss: «Beim Kunstmachen sind immer die Umwege interessant.»

Später im Gespräch – wir sind mittlerweile ins Innere des Restaurants auf die Empore gezogen – wird sie das mit den Umwegen jedoch relativieren. Ihre Künstler:innen-Generation arbeitet intensiv an der Demontage der Einzel-Autorenschaft, des auktorialen Geniekults. Kooperation und Komplizenschaft sind angesagt, mit kollektiven Arbeitsweisen wird versucht, demokratische Verhältnisse in der Kunstproduktion zu etablieren. Ernestyna Orlowska kennt diese Prozesse aus Erfahrung, sagt aber: «Oft geht mit der kollektiven Autorenschaft viel Energie drauf. Endlose Diskussionen führen am Ende zu nicht unbedingt befriedigenden Kompromissen.» Als Regisseurin ist sie dazu übergegangen, den Performer:innen zwar viel Freiheit zu lassen. «Sie sollen sich voll einbringen können». Am Ende brauche es aber eine ordnende Hand, welche die unterschiedlichen Ideen zu einem Ganzen zusammenführt.

Es ist wie beim Koffer packen

Für die Künstlerin hat dies auch einen ökonomischen Aspekt, es geht schlicht um Zeitmanagement: «Als Mutter muss ich meine Ressourcen gut einteilen und kann mich nur schwer auf endlose Findungsprozesse einlassen.» Auch sei in der Kunst, was lange dauert, nicht unbedingt auch gut. «Es ist wie beim Koffer packen. Wenn Du zehn Stunden Zeit hast, brauchst Du für denselben Vorgang, der normalerweise eine halbe Stunde dauert, eben zehn Stunden.»

Ihr eigener Weg zur Kunst verlief gradlinig. Sie habe bereits als Kind gedacht, dass sie Künstlerin werden wolle, obwohl ihre Eltern nicht kulturaffin sind. Als Zweijährige kam Ernestyna von Polen nach Biel, wuchs dort und in Nidau auf. Die Kunst war anfangs eine Art Überlebenshilfe in der Schule: «Ich begann damals manisch Schulhefte und -bücher mit Zeichnungen zu füllen. Ohne das Zeichnen konnte ich mich nicht konzentrieren. Indem ich den Linien gefolgt bin, haben sich meine Gedanken und der Schulstoff geordnet.»

Mit Zwölf habe sie einen Vortrag über Jean-Michel Basquiat gehalten, ihr erster «Hero» in Sachen Kunst. «Aber die meisten Mitschüler lachten nur über dieses Gekritzel. Sie sahen die Energie nicht, die dahintersteckt.» Ernestyna liess sich nicht beirren und machte sich auf folgenden Stationenweg: Gymnasium, gestalterischer Vorkurs in Biel, Bachelor of Fine Arts in Bern, anschliessend ein Master in Expanded Theatre. Seit 2015 inszeniert sie regelmässig im Schlachthaus Bern und trat u.a. an folgenden Orten auf: beim Theaterspektakel Zürich, Ming Museum Shanghai, Instituto Svizzero Milano, Kunsthalle Basel, Rote Fabrik, Zürich.

Ernestyna Orlowska während Ihrer Performance «Make your Body your Machine» im Centre Pasquart in Biel.

Ernestyna Orlowska während Ihrer Performance «Make your Body your Machine» im Centre Pasquart in Biel.

24 Jahre nach ihrem Vortrag über Basquiats «Gekritzel» ist es sie selbst, die das Publikum mit rätselhaften Kunstwelten fordert. Die Jury des Schweizerischen Tanz- und Nachwuchspreise Premio kürte Orlowskas Arbeit «BODYI» 2018 mit dem 1. Preis. In der Laudatio heisst es: «BODIY» ist eine Performance zwischen Skulptur, Installation und Choreografie und beschäftigt sich mit der Phänomenologie der Körperteile als potentiell poetisches Material. Die Performer:innen verwandeln sich in surreale Phantasiewesen und hinterfragen in flirrenden Begegnungen die Objekt-Subjekt Beziehung zwischen ihnen und dem Publikum. Körperteil um Körperteil wird nach kultureller Konnotation untersucht, künstlich erweitert und dekontextualisiert.»

Einige Kritikerinnen, beispielsweise diejenige der Berner Zeitung, liess die Performance aus seltsamen Objekten, endloslangen sich bewegenden Jeans-Beinen, und Slowmotion-Ritual aber eher ratlos zurück. Da war zu lesen: «All diese Themen werden in der Performance angedeutet, aber nie konsequent ausgeführt. Es werden ein bisschen Grenzen überschritten, wenn die Performer manchen Leuten aus dem Publikum nah kommen, sie streifen, anstupsen. Es entsteht eine Jagd auf die Brusthügel – welches Jeansbein erreicht den Gipfel zuerst, welches bleibt geschlagen auf halber Strecke zurück? Und all das in Zeitlupe, untermalt von sphärischen Klängen. Die erste Annäherung, die Liebe, der Sex. Alles da und doch nicht da. Geschluckt von einer watteweich gezeichneten Welt.»

Weltbilder, wissenschaftlich und neu

Schon wieder wird das «Gekritzel» nicht unbedingt verstanden, könnte man sagen. Aber darum geht es Orlowska ja gerade. Wie viele Künstler:innen ihrer Generation bewegt sie sich auf der Höhe aktueller soziologischer, philosophischer oder wissenschaftlicher Diskurse. Als inspirierende Autorin erwähnt sie etwa Karen Barad, die mit ihrem «Agential Realism» jegliche Metaphysik, die auf autonomen Individuen beruht, radikal hinterfragt. In Barads Theorie bestehen Objekte oder Phänomene nicht ausserhalb oder vor einer Interaktion. Vielmehr gehen Objekte aus «Intra-Actions» erst hervor.

Ein damit zusammenhängendes Thema ist für Orlowska die Dichotomie, also die Trennung von Geist und Körper. Die Künstlerin negiert diese, und sucht einen Weg, der Einheit von Körper und Geist künstlerischen Ausdruck zu geben.

Ihre surrealen Kreationen entspringen demnach nicht einfach einer künstlerischen Fantasie. «Ich habe ein sehr wissenschaftliches, biologisches Weltbild», erklärt Orlowska. Der Vater ihrer Kinder ist denn auch Biologe.

«Wir sind eine zufällige Ansammlung von Atomen»

Schwer verständliche Kunst, gerahmt von theoretischen Kuratoren-Texten. Das Kunstpublikum ist sich diesen Spagat von Theorie und Praxis mittlerweile gewohnt. Ernestyna Orlowskas eigene Reflexionen über ihre Kunst hingegen sind wohltuend konkret.

Sie versuche einen möglichst weiten, distanzierten Blickwinkel einzunehmen, eine Aufsicht aus dem All sozusagen, gepaart mit einer radikalen Innensicht. «Eigentlich sind wir ja keine festen Identitäten oder Wesen. Wir sind eine zufällige Ansammlung von Atomen, von elektronischer Spannung. Unser Verhalten ist evolutionär bedingt und in diesem Sinne auch ein Produkt des Zufalls.»

Ihr sei bewusst, dass ihre Arbeiten für das Publikum schwer lesbar sind. «Aber ich bin ja Künstlerin und halte keine wissenschaftlichen Vorträge. Ich will diese Inhalte anders erfahrbar machen, jenseits der Autorität intellektueller Erfahrung.»

Orlowskas Kunst ist ein Statement gegen Normen und Konventionen. Aber sie formuliert das nicht mit rebellisch-revolutionärem Unterton. Ihr ist bewusst, dass «Menschen Konvention und Normen brauchen. Wir sind Wesen, die aus Sippen stammen. Wir wollen dazugehören. Deshalb passen wir uns an verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen an. Wir sehnen uns nach Zugehörigkeit. Aber im Grunde könnte alles auch anders sein.»

Für die Künstlerin geht es durchaus auch um die Erfahrung von Transzendenz, um die Fähigkeit, sich als Teil eines grösseren Ganzen zu sehen, über das wir keine Kontrolle haben. «Das ist schon beinah religiös. Ich möchte es schaffen, mein Publikum in diese Art Schwebezustand zu bringen.»

Ernestyna Orlowska im Berner Restaurant «Steinhalle».

Ernestyna Orlowska im Berner Restaurant «Steinhalle». Bild: Mathias Balzer

Am Ende des Essens stellt sich durch die Mischung aus inspirierendem Gespräch und guten Weinen ebenfalls ein leichter Schwebezustand ein. Wir haben während unseres Austausches folgendes Menue gegessen: Ceviche mit Bio-Radieschen und Daikon-Rettich, Shitake Dumplings mit Sommertrüffel und grilliertem wilden Miso-Broccoli, auf Meersalz gegarter Seeländer Kohlrabi mit Zürcher Oberländer Kalb auf Vin-Jaune-Beurre Blanc-Sauce, Aprikosen Tarte Tatin mit Vervein Sorbet und Vanille Miso.

Am nächsten Tag schreibt Ernestyna Orlowska: «Ja das war ganz eine eigenartige Nahrungserfahrung, als ich zuhause war, wusste ich immer noch nicht ob ich eigentlich satt bin, aber darum geht es ja überhaupt nicht in diesem Gourmet Tempel. Es ging viel mehr um Geschmack, Textur, Genuss, Sinnlichkeit, Inszenierung.

Was hat dieses Essen mit mir gemacht? Mein Körper war ein Fragezeichen, auch heute morgen noch. Ich habe dich ein bisschen um die 6 Gläser Wein beneidet.»

Anleitung

Solltest Du der Aufforderung folgen, und die Performance im privaten Kreis nachstellen, bitte lass es uns wissen. Foto, Video, Erlebnisberichte – alles ist erlaubt.
Nach einem Jahr werden die zwölf Performances samt Euren Erlebnissen in einer Publikation dokumentiert. Es ist ganz einfach: «Mach’s»!