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Warum wir Geschichten brauchen

Machos, die Frauen retten

Welchem Narrativ folgt die Coronapandemie? An welchen erzählerischen Strategien orientieren sich erfolgreiche Politiker:innen? In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit.

Von Felix Benesch

Leipzig, 28.03.2022

5 min

Wenn wir an unserem Esstisch über Sexismus und Frauenrechte diskutieren, dann bin merkwürdigerweise meistens ich derjenige, der die feministischen Positionen vertritt. Mein (weiblicher) Lieblingsmensch regt sich regelmässig auf, wenn Frauen sich als Opfer darstellen. Sie sieht sich selber als selbstbestimmte Person, die sich behauptet und sich wehren kann. Wenn Frauen sich in einer Geschichte zu Opfern machen lassen, sagt sie, dann sind sie schwach und kriegen auch sonst nicht viel auf die Reihe. Eine Frau muss (wenn immer möglich) den Kopf oben behalten, handelnde Figur bleiben, selbst in schwierigen Situationen. 

Ich hingegen sehe sehr wohl, wie viele Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nach wie vor bestehen, und ich kann auch nicht die Augen davor verschliessen, dass es Übergriffe gibt, Machtmissbrauch, Geringschätzung, Nötigung und Gewalt, manchmal sogar in unserer direkten Umgebung. In fast allen Fällen sind Männer die Täter und Frauen die Leidtragenden. Um nicht zu sagen: die Opfer. 

Jede Wirklichkeit ist eine Erzählung. Und jede Erzählung hat ihren eigenen Blickwinkel. Ich bin ein Mann. Wenn immer solche Dinge zur Sprache kommen, muss ich klarstellen: Ich gehöre zu den Guten. Mit Typen, die Frauen schlecht behandeln, will ich nichts zu tun haben. Und natürlich tragen Frauen keine Mitschuld, wenn ihnen so etwas widerfährt. 

Ich kann das unmöglich anders erzählen. Aber wenn ich ehrlich bin, dann bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich mich damit wirklich für die Sache der Frau einsetze. Oder ob ich mich vor meiner Frau nur als der bessere Mann präsentieren möchte. 

Frauen müssen gerettet und Männer bekämpft werden

Es gibt kaum einen Blockbuster mit einem männlichen Helden, in dem sich dieser nicht irgendwann als der verständnisvolle, edle «Retter der Frauen» zeigt. Schon in alten Western-Klassikern ist das so, und dort gibt es nun wirklich kaum eine Figur, die aus heutiger Sicht kein sexistischer und rassistischer Macho wäre. Oder: Auch wenn mal wieder ein Rechtspopulist vor sexualisierter Gewalt warnt, die von Männern mit Migrationshintergrund ausgehen soll, setzt er sich irgendwie für Frauen ein. Aber ist er deswegen ein Feminist? Als vor gut 20 Jahren die ersten US-Bomben auf Afghanistan fielen, wurde das unter anderem damit begründet, dass die afghanischen Frauen vor den frauenfeindlichen Taliban beschützt werden sollten. Bomben für die Frauen! Welche Frau würde auf so eine Idee kommen?

Damit wären wir bei den (vorwiegend weiblichen) Flüchtenden aus der Ukraine. Die beispiellose Solidarität, die wir ihnen entgegenbringen, ist natürlich eine gute Sache. Doch das Gerede von den «echten» Flüchtenden im Gegensatz zu den «unechten» aus Syrien, Afghanistan, dem Irak etc., macht unser Engagement auch zum Teil einer althergebrachten Erzählung, die fest in männlichem Denken verankert ist: Frauen und Kinder müssen wir retten. Männer hingegen sind Rivalen, sie werden bekämpft. 

Der Künstler Luciano Garbati steht neben der Medusa Skulptur, die am 13. Oktober 2020 im Collect Pond Park in New York zu Ehren der Bewegung «Me Too» enthüllt wurde.

Der Künstler Luciano Garbati steht neben der Medusa Skulptur, die am 13. Oktober 2020 im Collect Pond Park in New York zu Ehren der Bewegung «Me Too» enthüllt wurde.

Bild: Sipa USA / Alamy Stock Foto

Auch wenn Frauen sich selber retten, entstehen je nach Perspektive sehr gegensätzliche Erzählungen. Das trat besonders anschaulich im Oktober 2020 zutage, als in New York ein Denkmal für die «Me-Too»-Bewegung enthüllt wurde. Die Statue steht vor dem Gerichtsgebäude, in dem Harvey Weinstein verurteilt wurde. Sie zeigt die nackte Medusa, die das abgeschlagene Haupt von Perseus in der Hand hält. Damit wird der Mythos aus dem klassischen Altertum aber in sein Gegenteil verkehrt: Eigentlich verfügt Medusa (nachdem sie von Poseidon vergewaltigt wurde) über Zauberkräfte. Wer sie ansieht, erstarrt zu Stein. Perseus köpft sie deswegen, er will ihren Kopf als Waffe gegen seine Feinde einsetzen. Das «Me-Too»-Denkmal zeigt nun aber eine Medusa, die das abgeschlagene Haupt ihres vermeintlichen Mörders Perseus bringt. Warum eigentlich? Und zu wem? Zu Harvey Weinstein? 

Das führte zu Diskussionen und stiess mitunter auf erbitterten Widerstand. Verständlich, denn:

Die Statue des argentinischen Bildhauers Luciano Garbati erzählt die martialische Actionstory einer schönen, nackten, entschlossenen Rachegöttin im perfekten Körper einer jungen, weißen Frau, mit Idealmaßen und rasierter Scham. Quentin Tarantino hat im Actionstreifen «Kill Bill» so einen Racheengel zum Leben erweckt, gespielt von der schaurig-schönen Uma Thurman und koproduziert ausgerechnet von Harvey Weinstein. Diese Statue ist die schwülstige Sexfantasie eines älteren, weißen Mannes und damit eher ein Denkmal für den streitbaren Filmproduzenten Harvey Weinstein als für «Me Too». Für Feminist:innen ist das natürlich ein Affront.

Sie würden wohl eher ein Drama aus der Perspektive des Vergewaltigungsopfers schildern, das von der Bewältigung von Traumata handelt. Etwas Stilleres, das aufrüttelt, über das man reden muss. Falls eine feministische Actionstory überhaupt möglich wäre, dann wäre der Vergewaltiger selber das Ziel von Vergeltung, also nicht Perseus, sondern Poseidon. Und die Hauptfigur hätte ganz sicher etwas an. 

Die Perspektive ist doppelt falsch

Für die Exponentinnen der «Me-Too»-Bewegung fehlt in beiden Geschichten aber nochmals ein anderer Aspekt. «Me Too» wurde zwar ausgelöst durch den Weinstein-Skandal, geht aber zurück auf die Bürgerrechtlerin Tarana Burke, eine Afroamerikanerin, die sich damit gegen sexualisierte Gewalt ohne Ansehen von Hautfarbe, Ethnie und Geschlecht engagieren wollte. Nicht nur die Erzählperspektive des Mannes mittleren Alters ist falsch, sondern die der WEISSEN überhaupt. Ihre Geschichte wäre wohl eher ein Revolutionsdrama, in dem eine bunte, lebensbejahende Bewegung den Mut und die Kraft findet, sich zu behaupten und einem übermächtigen Gegner entgegenzutreten. 

Ich stelle mir unsere Gegenwart manchmal vor wie einen grossen, bunten Teppich, gewoben aus Millionen verschiedenfarbiger Fäden. Jeder dieser Fäden ist eine Erzählung. Wir weben alle gemeinsam an diesem Teppich. Jeden Tag. Unermüdlich.
Erzählen ist Leben. Und umgekehrt.