Simone Lappert im Interview mit dem FRIDA Magazin.

«Alles, was beim Lesen und Zuhören entsteht, ist erstmal wahr und richtig.»

Bild: John Patrick Walder

Gespräch mit Simone Lappert

Lyrik geht immer

Ende Februar hat die Autorin Simone Lappert ihren ersten Lyrikband «längst fällige verwilderung: Gedichte und Gespinste» veröffentlicht. Im Interview erzählt sie, weshalb es in der Lyrik kein Scheitern gibt, warum sie sich in der «dümpelnden Gegenwart» gefangen fühlt, und welche anerzogenen Eigenschaften Frauen ruhig mal verlernen könnten.

Von Helena Krauser

Zürich, 24.03.2022

8 min

Helena Krauser: In Ihrem Lyrikband kommt eine Frage immer wieder in verschiedenen Variationen vor. Sie geht auf eine Aussage der Sängerin Sophie Hunger zurück, die einmal sagte, in Berlin könne man noch ungestört scheitern. Sie formulieren diesen Satz jeweils als Fragen wie: «Entschuldigung, wo kann ich hier ungestört scheitern?» Ist ein Lyrikband ein Ort, an dem man als Autorin gar nicht scheitern kann?

Simone Lappert: Schön wärs. Scheitern ist immer eine Möglichkeit. Etwas, das jede Kunstform begleitet. Deshalb ist der Satz für mich auch so wichtig. Ich habe ihn zur Frage abgewandelt, weil so die Behauptung darin steckt, dass es solche freien Orte tatsächlich gibt, Orte, an denen man ungestört oder unversehrt oder unverschämt scheitern kann. Für mich ist das Schreiben ein solcher Ort, eigentlich alle Künste. Es sind Freiräume, in denen man ausprobieren und scheitern darf. Beim Schreiben braucht es immer wieder Umwege, Figuren und Bilder entstehen in einem Kennenlernprozess. Und selbst wenn ein Text dann zwischen zwei Buchdeckeln erscheint, heisst das nicht, dass die darin behandelten Fragen endgültig abgeschlossen sind, da ich mich als Schreibende weiterentwickle, aber auch die Welt ums Buch herum. Ein Werk ist nie perfekt. Darin steckt auch eine positive Art des Scheiterns, das Scheitern als künstlerischer Prozess.

Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman «Wurfschatten» stand sie auf der Shortlist des ZDF-aspekte-Preises, ihr Roman «Der Sprung» war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre Lyrik wurde sie mit dem Heinz-Weder-Preis und einem Werkbeitrag des Fachausschusses Literatur Basel ausgezeichnet. Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel und war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt «Babelsprech.International». Sie lebt in Zürich.

Ihre Gedichte eröffnen jeweils einen grossen Interpretationsspielraum. Es scheint kein Richtig oder Falsch zu geben. Können also auch die Leser:innen Ihrer Lyrik gar nicht scheitern beim Versuch, die Texte zu verstehen?

Das finde ich eine schöne Idee: Ein Angebot an die Leser:innen, dass sie hier nichts falsch machen können. Das ist mir enorm wichtig. Es gibt eine starke, vermutlich angelernte Angst vor Lyrik. Unter anderem in der Schule haben wir gelernt, dass ein Gedicht kompliziert ist und anstrengend, dass man es auseinandernehmen und analysieren muss, die einzelnen Motive mit bunten Stiften unterstreichen, dass man es nicht einfach erstmal lesen und aufnehmen darf, um zu schauen, welche Bilder beim Lesen entstehen. Für mich ist die Lyrik jedoch die freiste Form der Literatur. Hier dürfen wir einfach lesen oder zuhören, das Nichtverstehen oder Überfordertsein geniessen und als etwas Positives begreifen. Das heisst, nein, ich glaube nicht, dass man scheitern kann beim Gedichtelesen, zumindest nicht auf eine negative Art.

Zählt das für Ihre Gedichte oder für alle?

Natürlich gibt es Gedichte, die strengeren Formen folgen und den Referenzraum gezielt suchen, auf gewisse Motive verweisen wollen. Aber ich persönlich würde so weit gehen, zu sagen, auch diese Gedichte darf man einfach so lesen und alles, was beim Lesen und Zuhören entsteht, ist erstmal wahr und richtig.

 

Simone Lappert im Interview mit dem FRIDA Magazin.

«Ich habe mich sehr gefangen gefühlt zwischen den Zeiten.»

Bild: John Patrick Walder

Lyrik bedeutet also Freiheit?

Ja. Ich finde schon. Das zeigt sich in verschiedenen Aspekten. Ich finde es beispielsweise toll, dass viele Lyriker:innen die Grenzen zwischen verschiedenen Kunstformen bewusst hinterfragen und ausloten. Zeitgenösische Lyrik bewegt sich in einem sehr inspirierenden Spannungsfeld zwischen strengen Versmassen und der Choreographie einer Tänzerin, die ihre Arbeit ebenfalls als Lyrik begreift.

In der Coronazeit habe ich ausserdem gemerkt, dass es mir enorm schwerfällt, unter diesen Umständen Prosa zu schreiben. Ich war eigentlich dabei, einen neuen Roman zu verfassen, aber die Zäsur in der Gegenwart, dass ich plötzlich entscheiden musste, ob ich eine Geschichte vor, hrend oder nach Corona erzähle, hat mich enorm gelähmt. Ich fand es schwierig, die Coronathematik miteinzubeziehen, weil ich noch viel zu nah dran war, und es auch nicht inspirierend fand. Hinzu kommt, dass diese Krise von vielen in ähnlichen Schattierungen erlebt wurde und wird, wer also will einen Coronaroman lesen? Es einfach auszublenden, kam mir aber auch falsch und verdrängerisch vor, und ein Nachher gibt es ja noch immer nicht. Ich habe mich deswegen sehr gefangen gefühlt zwischen den Zeiten.

Ich hatte das Gefühl, die Gegenwart verkommt zu einem dümpelnden Wartezimmer.

Warum ich das erzähle: In dieser Zeit war die Lyrik für mich eine Form, die mir das Schreiben weiter ermöglicht hat. Weil ich da ganz kleinteilig arbeiten kann. In der Lyrik können eine winzige Beobachtung oder ein zarter Lichtwechsel zu einem Text werden. Gedichteschreiben ging sogar, als ich in Quarantäne war und nur aus dem Fenster schauen konnte.

Entstand so die Idee für den Lyrikband?

Nein, diese Idee ist tatsächlich schon viel älter. Der Lyriker und Verleger Tristan Marquardt kam vor ein paar Jahren auf mich zu und meinte: «Du trittst so viel auf mit Lyrik, kuratierst ‹Babelsprech› und das internationale Lyrikfestival in Basel, lass uns endlich mal einen Band mit deinen Gedichten machen.» Ich fand das eine schöne Idee und ein tolles Angebot, all die losen Gedichte einzusammeln, zu überarbeiten und in Buchform zu bringen. Zuerst sollten die Gedichte in Tristans Verlag Hochroth München erscheinen. Als ich meiner Lektorin bei Diogenes davon erzählt habe, hat sie angeboten, den Lyrikband bei ihnen, mit Tristan als Lektor, herauszubringen. Das war natürlich ein Geschenk.

In welchem Zeitraum sind denn die Gedichte entstanden?

Das älteste ist ungefähr zehn Jahre alt und das neuste habe ich ein paar Wochen vor der Manuskriptabgabe geschrieben.

Sie haben also auch noch neue Texte extra für diesen Band geschrieben?

Ja, genau, es gibt darin viele neue Gedichte. Und zusätzlich habe ich viele Texte noch einmal hervorgeholt, radikal überarbeitet, durchgeschüttelt, auf den Klang hin überprüft. Dann haben wir den Band kuratiert und geschaut, welche Texte in Beziehung zueinander stehen, sich etwas zu sagen haben, wo sich auch in der Gegenüberstellung neue Bedeutungsräume ergeben, wie bei Kunstwerken in einer Ausstellung.

 


bewältigung

du schiebst die krise 

im zickzack über den rasen,

die blumen lässt du stehen.


 

  

Simone Lappert im Interview mit dem FRIDA Magazin.

«Rhythmus und Klang sind für mich Inhaltsträger.»

Bild: John Patrick Walder

  

 


selbstportrait (w)

ist ein knirschen in den wimpern,

ein krachen in den nackenhaaren

ist ein reissen und bröseln

um den mund, der schweigt,

der so mühsam zweifel unterzungt,

ist ein schiefes im dastehn

ein sich beugen hin zum brennenden bauch,

ist einfletschen der sinne,

in den knochen ein knurren,

ist ein bersten und buckeln und beissen,

ist eine längst fällige verwilderung.

 

Leseprobe


Am Dienstag, 5. April ist Simone Lappert mit «längst fällige verwilderung» im Literaturhaus Basel zu Gast.

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