Literatur-Tipp
Schwimmende Protagonist:innen: Trend oder altbewährter Kunstgriff?
Als Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel ist Marion Regenscheit professionelle Vielleserin mit einem umfassenden Überblick. Für unser Magazin schreibt sie jeden Monat Lese-Empfehlungen. Im Juni fragt sie sich: Wieso schwimmen eigentlich so viele Romanfiguren? Die Leseliste für den Besuch am See gibt es inklusive.
Basel, 07.06.2023
Liebe Leser:innen
Am Wochenende war ich am See und hatte mehrere Bücher dabei (die Liste folgt unten). Dabei ist mir aufgefallen, dass ich in letzter Zeit vielen schwimmenden Protagonist:innen begegne.
Beispielsweise in Arno Franks «Seemann vom Siebener» und in Caroline Wahls Debütroman «22 Bahnen», wo Tilda, die Hauptfigur, regelmässig ins Wasser springt. Nicht nur um das Chaos ihres Lebens abzuwaschen, sondern auch, um aus sich «herauszuschwimmen».
Ist das ein neues Phänomen?
Oder achte ich gerade saisonbedingt darauf?
Ich google und finde ein Gedicht von Bertolt Brecht übers «Schwimmen in Seen und Flüssen» von 1919:
Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm
Wir liegen still im Wasser, ganz geeint
Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen
Fühl ich, dass Sonne überm Tümpel scheint.
Grauzone und Reflexionsraum
Zu Hause gehe ich mein Bücherregal ab, ziehe Sven Regeners «Herr Lehmann» aus dem Regal und lese wieder einmal das Kapitel übers Freibad: Ich glaube, es gibt keine treffendere Beschreibung des institutionalisierten Schwimmens unter freiem Himmel.
Grossartig, aber – Herr-Lehmann-Kenner:innen wissen es – dieses Buch ist von 2001 und damit keine Neuerscheinung mehr.
Genauso wie «Der Geschmack von Chlor» von Bastien Vivès, eine Graphic Novel, die ich als Nächstes aus dem Regal nehme.
Schwimmen als literarisches Motiv ist also definitiv nichts Neues. Aber es ist und bleibt die vielleicht dramaturgisch bestgewählte Zwischenbeschäftigung von Romanfiguren. Ein idealer Zustand, in dem Autor:innen ihre Figuren nicht nur im Rhythmus des Ein- und Ausatmens durchs Wasser gleiten, sondern auch wunderbar erzählen und denken lassen können.
Und weil, wer schwimmt, prinzipiell auch immer untergehen könnte, sind die Grauzonen und Zwischenbereiche im Wasser naturgemäss immer ganz nah. Im Roman übrigens genauso wie in echt im See oder im Rhein.
Ich wünsche euch einen schönen Start in den Sommer, schwimmt vorsichtig und macht es ansonsten so, wie es Bertolt Brecht empfiehlt:
«Wenn man am Abend von dem langen Liegen
Sehr faul wird, so, dass alle Glieder beissen
Muss man das alles, ohne Rücksicht, klatschend
In blaue Flüsse schmeissen, die sehr reissen.»
Und hier wie versprochen die Liste der Bücher, die ich mit am See hatte:
Felwine Sarr: «Die Orte, an denen meine Träume wohnen»
Sheila Heti: «Reine Farbe»
Teresa Präauer: «Kochen im falschen Jahrhundert»
Hengameh Yaghoobifarah: «Habibitus»
Victor Jestin: «Der Tanzende»
Sarah Ahmed: «The Feminist Killjoy»
Marion Regenscheit ist Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel und eine chronische Vielleserin. Sie ist ständig von Büchern umgeben, sieht Bücher als ein gesellschaftliches Phänomen, liebt Geschichten und ist fasziniert von Schnittstellen und Interfaces aller Art – selbstverständlich besonders dann, wenn Bücher und ihre Leser:innen involviert sind.