Cover Buchtipp von BuchBasel Leiterin Marion Regenscheit

Literatur-Tipp

Übers Aufwachsen, Loslösen und Verantwortlichsein.

Als Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel ist Marion Regenscheit professionelle Vielleserin mit einem umfassenden Überblick. Für unser Magazin schreiben sie und ihr Team jeden Monat drei Lese-Empfehlungen. Im Februar stellen sie uns drei Neuerscheinungen vor. Es geht ums Loslösen von den gewohnten Regeln einer Glaubensgemeinschaft, um die Emanzipation von den eigenen Geschwistern und um die Überforderung, die entsteht, wenn es um Grenzüberschreitungen innerhalb der Familie geht.

Von Marion Regenscheit

Basel, 22.02.2023

7 min

Liebe Leser:innen

Letzte Woche wurden die Schweizer Literaturpreise 2023 vergeben. Mit den Schweizer Literaturpreisen ehrt das Bundesamt für Kultur jährlich die besten Autor:innen der Schweiz.  Den Grand Prix Literatur 2023 – die höchste Auszeichnung, die in der Schweiz vergeben wird – erhielt dieses Jahr Leta Semadeni, was mich sehr freut. Ich kann nicht für ihre rätoromanischen Publikationen sprechen, weil ich die nicht verstehe. Aber auf Deutsch schreibt sie dicht, metaphorisch und stets irgendwie aufgeladen, mit einem wunderbaren Gespür für den sprachlichen Klang. Gerne nehme ich die Literaturpreise zum Anlass, um in dieser Buchtipp-Ausgabe einen Blick auf das neue Schweizer Literaturschaffen zu werfen. Im Februar erscheinen drei neue Bücher von jungen Schweizer Autor:innen. Und ich bin überzeugt, dass wir diese drei Namen im Jahr 2023 noch öfter hören werden.

 

Marion Regenscheit

 


 

Tabea Steiner: Immer zwei und zwei

Mit ihrem ersten Buch «Balg» wurde Tabea Steiner 2019 für den Schweizer Buchpreis nominiert und dadurch schweizweit bekannt. Nun erscheint ihr zweiter Roman «Immer zwei und zwei». Wie schon bei «Balg» stehen die Themen Selbstbestimmung und verschiedene Formen von Gemeinschafts- und Familienmodellen im Zentrum. Lesend begleiten wir Natali in einer sehr wichtigen und einschneidenden Zeit. Obwohl sie sich als Jugendliche von der religiösen Erziehung und ihren Eltern gelöst hat, heiratet sie Manuel, der Mitglied einer strengen Glaubensgemeinschaft ist. Und zack ist sie wieder drin. Es gibt ganz klare Regeln, die Gott, die Gemeinschaft oder (Ehe-)Männer bestimmen. Anfangs erscheint alles sehr liebevoll und schön. Manuel und Natali haben zwei Töchter, um die sie sich vorbildlich kümmern. Die Gemeinschaft bringt Halt, Fürsorge und Freundschaften. Alles ist schön.

Auch beim Lesen bin ich gerne in diese heile Welt eingetaucht, bis es mir zu oberflächlich und zu eng wurde, und ich allmählich den Bezug zu den Figuren verlor, weil ich ihnen nicht nahe kam. Genau so geht es auch Natali. Und das finde ich hervorragend an diesem Buch: Der Autorin ist es gelungen, dass ich mich beim Lesen so fühle, wie die Protagonistin. Natali fühlt sich eingezwängt, beobachtet und bewertet. Sie beginnt, sich Sorgen um ihre eigene und die Unabhängigkeit ihrer Töchter zu machen. Und dann verliebt sie sich auch noch in eine Frau. Eine Entscheidung wird unausweichbar: Kinder und Kirche oder eine neue Liebe und vielleicht ein freieres Leben?

Hinweis: Die Buchvernissage findet am 2. März im Literaturhaus Zürich statt.

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Tabea Steiner: Immer zwei und zwei

Verlag: edition bücherlese

Ralph Tharayil: Nimm die Alpen weg

Ralph Tharayil schreibt und entwickelt Konzepte und Texte für Audioformate und Performances und wurde für seine Prosa- und Lyriktexte schon mehrfach ausgezeichnet. Nun erscheint sein erster Roman «Nimm die Alpen weg», auf den ich mich schon seit bald einem Jahr freue. Noch bevor das Buch offiziell da ist, hat Tharayil für sein Debüt Anfang Februar die Alfred-Döblin-Medaille verliehen bekommen. Die Auszeichnung wird Autor:innen für ihre erste vielversprechende Veröffentlichung verliehen.

Als erstes fällt einem beim Lesen die Form und die vom Autor gewählte Erzählsprache auf. Eine Mischform aus Lyrik, Prosa und einer Art Kindersprache voller Hauptsätze. In ungewöhnlichen Wendungen und Bildern entwickelt der Text eine grosse, poetische Kraft. Die erzählte Kindheit des Geschwisterpaars, das sehr lange ein Wir ist und erst später im Text zu zwei eigenständigen Figuren zerfällt, ist gar nicht so leicht zusammenzufassen: Es geht um das Aufwachsen in der Schweiz mit Eltern aus einem anderen Land. Tharayil beschreibt die Geschwister, wie sie einerseits versuchen, die Wurzeln, die Sprache und die Erwartungen der Eltern zu übernehmen und andererseits sich selbst gewahr werden und sich zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln. Es geht in Ralph Tharayils Text viel um Sprache und um Körper. Und inhaltlich, wie auch auf einer textlichen Metaebene, um die Form und ums Formen als Tätigkeit und dem sich Widersetzen von diesen (De-)Formationen.

Die Buchvernissage findet am 14. März im Literaturhaus Basel statt.

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Ralph Tharayil: Nimm die Alpen weg

Verlag: Edition Azur / Voland & Quist

 

Bild ohne Mädchen: Sarah Elena Müller

Es ist zwar nicht das erste Buch von Sarah Elena Müller, aber ihr erster Roman. Und da ich sie für eine äusserst begabte Künstlerin und Erzählerin halte, war ich sehr gespannt auf «Bild ohne Mädchen». Darin beschäftigt sie sich mit dem Thema sexueller Missbrauch bei Kindern – weshalb ich empfehle, ab hier mit dem Lesen aufzuhören, falls das Thema triggert.

Im Zentrum der Geschichte steh ein Mädchen, das wahnsinnig  gerne fern sieht, dies aber in ihrem esoterischen und antiautoritären Zuhause nicht darf. Sie verbringt deshalb viel Zeit beim medienaffinen Nachbarn Ege. Da darf sie so lange Fernsehen, wie sie will. Fernsehen hat aber seinen Preis. Es ist unheimlich, wie Müller die Mechanismen des Wegschauens beschreibt, wie vieles ständig in der Schwebe bleibt, und man sich als Leser:in so überfordert fühlt, wie es vermutlich auch die Eltern in dem Buch sind.

Was passiert dem Kind? Mit der Redewendung «Tempi passati» ziehen sich die Erwachsenen aus der Verantwortung, weshalb sich das aufgeweckte Kind selber einen Reim auf das alles machen muss. Dabei helfen ihm seine Fantasie und ein Engel. «Der Engel reiht die Zusammenhänge im Mädchen auf wie Perlen auf einer Schnur», schreibt Müller. Und auch wenn er als Schutzengel zu spät kam, übernimmt er im Kopf des Mädchens die Rolle des Racheengels. Sarah Elena Müller erzeugt in ihrem Roman von der ersten Seite an eine Stimmung, die deutlich macht, dass hier Ungutes geschieht. Sie legt Fährten, gibt Hinweise, deutet an, und es wird zur Aufgabe von uns Lesenden, all die Bilder zu einem ganzen Bild zusammenzufügen.

Am 21. März liest sie im Sphères in Zürich.

 

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Bild ohne Mädchen, Sarah Elena Müller


Verlag: Limmat

Marion Regenscheit ist Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel und eine chronische Vielleserin. Sie ist ständig von Büchern umgeben, sieht Bücher als ein gesellschaftliches Phänomen, liebt Geschichten und ist fasziniert von Schnittstellen und Interfaces aller Art – selbstverständlich besonders dann, wenn Bücher und ihre Leser:innen involviert sind.