Literatur-Tipp

Die Schönheit der Natur, das Herz auf der Zunge und ein Ja zum Leben und zur Kunst

Als Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel ist Marion Regenscheit professionelle Vielleserin mit einem umfassenden Überblick. Für unser Magazin schreiben sie und ihr Team jeden Monat drei Lese-Empfehlungen.

Von Marion Regenscheit

Basel, 03.05.2022

6 min

Richard Powers: «Erstaunen» 

Richard Powers neuen Roman zu lesen, war für mich wie inneres Hollywood-Kino schauen. Es gibt eine klare Handlung mit logisch ineinander verketteten Ereignissen, die auf ein Ende zusteuern, das ich so nicht erwartet hätte. Dazu eine Extraportion Idealismus und Sentimentalität und zum Schluss einige Tränen – ja, auch von mir, nicht nur den Figuren. Es ist ein sehr kluges, berührendes und schönes Buch, das ich verschiedensten Menschen zu Weihnachten geschenkt habe.

In der Vater-Sohn-Geschichte geht es um den Astrobiologen Theo, der nach dem Tod seiner Frau den hochbegabten Sohn Robin alleine aufzieht. Bald wird deutlich, dass es für Robin nur einen Weg aus der Trauer und Ohnmacht gibt. Er tritt in die Fussstapfen seiner Mutter und will mit aller Kraft die Natur retten. Dafür braucht er weder Schule noch Freunde, nur manchmal seinen Vater, vor allem aber ein neurologisches Forschungs-Programm, an dem er teilnehmen kann. Über eine neuartige neurowissenschaftliche Methode bekommt Robin Zugang zu Denkmustern und Gedankengängen seiner Mutter und lernt so, anders mit der Welt umzugehen.

Powers gelingt es, die Intimität der Vater-Sohn-Beziehung genauso beeindruckend zu skizzieren wie die Schönheit der Natur. Und immer wieder begegnet einem beim Lesen die Frage: Wie kann eine Familie in einer unberechenbaren Welt überleben, ohne zu zerbrechen? 

Cover Roman

Richard Powers: «Erstaunen»
Übersetzt von: Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié
Verlag: Fischer
Buchtipp von Marion Regenscheit

Eva Seck: «versickerungen» 

Diese Woche erscheint das zweite Buch der Basler Autorin Eva Seck. Ich habe die Druckfahne seit einem Monat stets bei mir und freue mich, dass das Buch nun bald gebunden vor mir liegen wird. Die Texte sind nämlich ein bisschen magisch, und selten fiel es mir so schwer zu sagen, warum. Vielleicht, weil ich nach der Lektüre nicht mit Worten zurückgeblieben bin, sondern mit Gefühlen, wegen Wiegenversen wie diesem: «Du kannst schlafen / schlafe jetzt / sei unbesorgt: / Was auf Erden passiert / bleibt auf Erden.» Oder, weil ich gemeinsam mit ihren Worten nicht vergesse zu atmen? «Du hast Luft eingeatmet / und Wörter ausgeatmet / heute retten sie mich / ein letztes Mal.» 

Eva Secks versammelt in ihrem Gedichtband verdichtete Sprache. Es gibt klassische Gedichte, längere und kürzere Prosatexte, Bilder und einzelne Szenen. Eine Mischung aus Lyrik und Prosa, manchmal in ihrer Form uneindeutig, und nahe an dem, was Friederike Mayröcker einst als «Proeme» bezeichnete. Dazwischentexte sozusagen, die aufgrund ihrer Form ein Dahinterschauen ermöglichen. «Gibt es Räume, in denen man gleichzeitig drinnen und draussen sein kann?»

Die lyrischen Ichs in «versickerungen» kreisen um Fragen nach Zugehörigkeit und Herkunft, um das Frau- und Muttersein und um Menschen, die nichts zu sagen haben in unserer Gesellschaft. Die Texte kommen mir oft sehr nah, weil sie intim und innig, weil sie nie abstrakt, nie unpersönlich, stets durchflutet von Leben und Wärme sind. «Da trägt jemand auf schönste Weise das Herz auf der Zunge», schrieb das Aargauer Kuratorium darüber. Und das lyrische Ich im Buch verspricht: «Ich gelobe / nie wieder / ein unfertiges Gedicht!» Ich dagegen wünsche mir zukünftig noch sehr viele «unfertige» Gedichte von Eva Seck. 

Cover des Buches

Eva Seck: «versickerungen»
Verlag: Brotsuppe
Buchtipp von Marion Regenscheit

Julia Weber: «Die Vermengung» 

«In der Nacht, wenn das Kind schläft und ich nicht schlafen kann, weil ich Angst habe, es könnte aufhören zu atmen, schreibe ich.» In ihrem autofiktionalen Text hält Julia Weber zusammen, was sie auseinanderzureissen droht: Sie schreibt an ihrem zweiten Roman, als sie feststellt, erneut schwanger zu sein. Ihre Romanfiguren Ruth und Linda kommen ihr abhanden, während sie sich morgens übergeben und akzeptieren muss, dass ihr Körper wieder weich wird. Sie spürt die unbedingte Liebe zum Ungeborenen und gleichzeitig kämpft sie gegen die grosse Angst und tiefe Traurigkeit an, ihr Leben, ihre Kunst zu verlieren und nicht zu genügen. 

Wie viel Kunst also passt ins Leben und wie viel Leben gehört in die Kunst? Sehr geschickt geht Julia Weber dieser Frage fast performativ nach: Im Text vermengt sie episodische Beschreibungen des Alltags, Briefwechsel mit ihrem Mann H. und ihrer Freundin A. mit Gesprächen und Stimmen der Romanfiguren, sodss Kunst und Leben immer stärker zum selben werden. In schlichter Sprache erschafft sie dabei eine sehr eigene und eindringliche Bild- und Tonwelt. «Die Vermengung» hat mich fein berührt, mitunter irritiert und zuweilen auch bedrängt. Vielleicht, weil ich selbst schreibe und ein Kind erwarte. Umso schöner, dass das Buch für mich das Produkt einer mutigen weiblichen Stimme ist, die ja zum Leben und ja zur Kunst zu sagen vermag.

Buch

Julia Weber: «Die Vermengung»
Verlag: Limmat
Buchtipp von Lena Käsermann

Marion Regenscheit ist Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel und eine chronische Vielleserin. Sie ist ständig von Büchern umgeben, sieht Bücher als ein gesellschaftliches Phänomen, liebt Geschichten und ist fasziniert von Schnittstellen und Interfaces aller Art – selbstverständlich besonders dann, wenn Bücher und ihre Leser:innen involviert sind.