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Literatur
Dichtung ist grösser als Politik
In anstrengenden Zeiten braucht es Erholungsräume, die unsere Imagination stärken. Beispielsweise das Büchlein «Und überlaut die Zikaden» von Valerie-Katharina Meyer und Julia Rüegger.
Basel, 28.02.2025
Es gibt kaum ein Entkommen. Bei jedem etwas längeren Gespräch fällt dieser Name der mit «T» beginnt.
Wir erleben gerade Tage und Wochen, in denen sich die Regeln dieser Welt zu ändern scheinen. Endgültig weg vom Miteinander, kopfüber hinein ins Reich der Schlagworte, wo Worte eben zuschlagen, anstatt zu verbinden.
Tage und Wochen, in denen mir der Titel von Jürg Kienbergers altem Bühnenprogramm in den Sinn kommt: «Mensch sein macht müde».
Müde vom ewig Wiederkehrenden, davon, dauernd Stellung beziehen zu müssen; als ob die Welt ein Spielfeld sei, auf dem es Gewinner und Verlierer geben muss.
In solchen Tagen tut es manchmal gut, sich dem ganz Anderen zuzuwenden. Mich hat dieses Andere per Post erreicht. Ein kleines, schön gemachtes Buch: «Und überlaut die Zikaden» von Valerie-Katharina Meyer und Julia Rüegger. Ihr erstes, gemeinsam und dialogisch geschriebenes Werk.
Das Büchlein öffnet mit leichtem Schwung die Türe ins Land der Dichtung. Jenes Land, von dem der Dichter Gerhard Meier geschrieben hat, es sei dasjenige, wo die, welche die Tage bloss mit Betriebsamkeit füllen, gar nie hinkommen.
Meyer und Rüeggers Buch ist Einladung ins gedankliche Schlendern durch eine solche Landschaft. In kurzen Abschnitten und Strophen entführt es uns dort hin, wo Gedanken freien Lauf nehmen, zu mäandern beginnen.
Ziel und klare Orientierung sind in dieser Landschaft nicht gefragt: «Wir glauben nicht, dass ihr euch zurechtfinden werdet», schreiben die Autor:innen. «Wir glauben nicht, dass wir uns zurechtfinden sollen.» Und doch seien diese Notate «Gebrauchsanweisungen für das Überleben in Fassadenschluchten».

«Und überlaut die Zikaden»
Ein lyrischer Dialog zwischen Julia Rüegger und Valerie-Katharina Meyer
In «Und überlaut die Zikaden» treffen verschiedene Stimmen aufeinander, auch die Stimmen zweier Schreibender: Valerie-Katharina Meyer (*1988) und Julia Rüegger (*1994) arbeiten als literarisches Kollektiv und veranstalten szenische Lesungen und poetische Performances.
Die Autorinnen aus Basel erforschen kollaborative Schreibformen und Erzählmöglichkeiten, die sich von herkömmlichen Besitzansprüchen in Bezug auf Autorschaft emanzipieren. Zudem initiieren sie literarische Formate im öffentlichen Raum, so etwa die Brunnenlesungen in Basel.
Und überlaut die Zikaden ist ihre erste gemeinsame Publikation.
edition mosaik, Salzburg
CHF 15.-
Ich lese dieses Büchlein als Gebrauchsanweisung für verschiedene Strategien, im Getöse der Welt der «T’s» seine eigene Imaginationskraft zu erhalten. Denn sie ist es, die uns resilient macht. Ein Wort, das ich nicht mag, da es nach Spital riecht. Darum schreib ich lieber von einer Kraft, die unsere Fantasie stärkt.
Die Dichterinnen wandern in Begleitung einiger Reiseführer:innen durch ihr poetisches Land. Zum Beispiel mit Gilles Deleuze. Ihn zitierend schreiben sie über Löcher als Ort, in denen sich scheinbar nichts ereigne, in denen aber das Wesentliche passiere. Stillstand als produktiver Zustand.
Meyer und Rüegger richten den Blick auf das Unscheinbare und Kleinräumige und empfehlen, man solle doch der Katze die Worte ins Fell streicheln, anstatt zu schreiben. Oder die Flusslandschaft im Flügel der Zikade entdecken, die im Windschatten der Hausmauer sitzt.
Oder sie fragen, wie es wäre, wenn wir uns neue Namen geben würden, ganz andere Namen, wie etwa «Heilige Hügelkette», oder «Unbekümmerte sonnengereifte Tiefebene».
Auf dem Spaziergang durch diesen Text begegnen wir auch Menschen. Etwa dem Mann, der seine Sprache verloren hat. Oder hat er sie freiwillig abgegeben, weil sie, die Wörter, ja nie seine eigenen gewesen waren?
Oder da ist der Künstler, der seine Eltern pflegt und dabei seine ungemalten Bilder beinah vergisst. Oder die Frau, der es mit ihren Liebschaften ergeht, wie dem Hans im Schneckenloch. Sie findet Trost in Versen von Thomas Brasch:
«Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen.»
Und genau um diese Art Trost könnte es gehen: Dichtung kann Anleitung zum anderen Leben und Erleben sein. Dichtung und Kunst sind Tankstellen für den lebenswerten Alltag. Ihr Treibstoff heizt nicht das Klima an – sondern die Fantasie. Oder wie der Künstler Jonathan Meese es in ganz anderen Worten sagt: «Kunst ist immer grösser als Politik» – grösser als die Welt der «T’s».