Kulturpolitik
Kulturkampf am Fusse des Calanda
Die Stadt Chur hat ein rigoroses Sparpaket aufgegleist. Gespart wird bei der Kultur, der Freizeit, der Bildung, bei der Familienbetreuung und bei humanitären Aufgaben. Gleichzeitig verschenkt der Stadtrat Millionen an Immobilien-Investoren.
Chur, 03.09.2024
Die Salami-Taktik ist ein beliebtes politisches Instrument. Man präsentiert Scheibchen für Scheibchen und behauptet, jedes Scheibchen sei ein Einzelproblem – damit niemand merkt, was eigentlich die ganze Wurst ausmacht.
In Chur ist es jedoch wieder einmal Zeit, über das Ganze zu reden. Es brodelt am Fusse des Calandas. Die Leserspalten zur Stadtpolitik sind voll, eine Petition wird lanciert. Die Menschen gehen auf die Strasse – was sie in Graubünden normalerweise nur für Sportevents, die Schlagerparade oder an der Fasnacht tun.
Chronik der Ereignisse
Am 9. Juni erschüttert ein kleines Erdbeben die Politik. Die Stadträtin Sandra Maissen, Mitte-Politikerin, zuständig für das Departement Bau, Planung und Umwelt, wird abgewählt. Zuvor waren ihre Amtsführung und die Zusammenarbeit mit dem Stadtrat in einem GPK-Bericht kritisiert worden. Ein kleines Erdbeben ist das, weil an ihrer Stelle der Grüne Simon Gredig neben Patrik Degiacomi (SP) und, ebenfalls neu, Martin Meuli (FDP) sitzen wird. Rot-Grün ist ab 2025 in der Mehrheit.
Sommerferien
Vom 9. bis 11. August feiern tausende Menschen in Churs Altstadt das Stadtfest. Just in diesen Tagen lanciert der Stadtrat einen Investorenwettbewerb für das Areal der Alten Fuhrhalterei, Baujahr 1880, am Ausgang des Welschdörflis. Für die insgesamt 2374 Quadratmeter können Investoren innert Monatsfrist ein Nutzungskonzept eingeben, falls sie gleichzeitig als finanzielle Sicherstellung eine Viertelmillion Franken hinterlegen. Nicht namentlich genannt sein wollende Akteure aus der Bauwirtschaft kritisieren das Verfahren in der «Südostschweiz» als «sehr seltsam und viel zu kurzfristig».
Ludmila Seifert, Geschäftsführerin des Bündner Heimatschutzes, schreibt in einem Leserbrief, an der Ausschreibung sei so ziemlich alles stossend: die Umgehung der Abteilung Stadtentwicklung, die Art des Verfahrens (Investoren- statt Architekturwettbewerb), die skandalös kurze Frist, das Fehlen einer Jury, die Intransparenz bezüglich Bewertungskriterien, die der Willkür Vorschub leistet. Sie erinnert den Stadtrat daran, dass er den verfassungsmässigen Auftrag habe, dem baukulturellen Erbe Sorge zu tragen und dieses nicht der Verantwortung von Investoren zu überlassen.
Am 19. August präsentiert der Stadtrat 101 (!) Massnahmen, die künftig die städtische Jahresrechnung um 16 Millionen verbessern sollen. Denn es drohe wegen der geplanten Bauinvestitionen für die kommenden Jahre ein finanzieller Engpass. Zu den Sparmassnahmen gehören: Kürzung der Kulturbudgets um zehn Prozent (was faktisch für viele Projekte 20 Prozent bedeutet, da der Kanton jeweils subsidiär unterstützt). Kürzung von Ergänzungsleistungen, Kinderbetreuung und humanitärer Dienstleistungen, Schliessung der Open-Air-Eisbahn Quader, Wegfall des Open-Airs im Stadtgarten, grössere Klassen bei der Realschule, Streichung der 1. August-Feier etc.
Am 20. August präsentiert ein neuer Verein engagierter Kulturtäterinnen das neue Literaturhaus Graubünden. Neben Martina Mutzner, Germanistin, Heidi Theus, Geschäftsleiterin der Stadtbibliothek, ist auch die Apothekerin Irina-Domenig-Skaanes im Vorstand. Das Literaturhaus startet laut den Initiantinnen als niederschwelliges Pop-up, ohne festen Sitz, im Kanton tourend.
Am 22. August schreibt die «Südostschweiz», trotz Ausschreibung gebe es bereits einen fest stehenden Investor für das Areal der Alten Furhalterei: die Leute vom neuen Bündner Literaturhaus. Heidi Theus und Irina-Domenig-Skaanes seien, so Stadtpräsident Marti, auf ihn zugekommen und hätten auf ein rasches Verfahren gedrängt. Um den Investoren mit der Sanierung des alten Gebäudes entgegenzukommen, plane die Stadt den Baurechtnehmern das Baurecht zu vergünstigten Konditionen abzugeben, so Marti.
Ein neues Pop-up-Literarturhaus tätigt eine Grossinvestition? Aber nein. Vorstandsmitglied Irina-Domenig-Skaanes ist die Ehefrau des Architekten und Immobilienunternehmers Jon Domenig, Sohn des früher Stadtkönig genannten Thomas Domenig. Sein Vermögen wird auf 400 bis 500 Millionen geschätzt. Ein Schelm, wer da Böses denkt.
In derselben Ausgabe der «Südostschweiz» sagt Bruno Claus, FDP-Grossrat und Präsident der städtischen Kulturkommission, in einem Interview: «Die Sparmassnahmen machen keinen Sinn.» Und: «Längerfristig braucht es eine Erhöhung des Kulturbudgets, nicht eine Kürzung.»
Am 28. August titelt die «Südostschweiz»: «Weil der Stadtrat sie nicht lässt: Planerin verlässt Chur». Die Rede ist von der Stadtentwicklerin Anne Brandl. Es sei ihr «in den vergangenen zweieinhalb Jahren nicht möglich gewesen, sich mit ihrem Fachwissen, Engagement und Ideen in Chur einzubringen». Oftmals seien die Diskussionen «weniger von fachlicher Expertise, als von politischen Auseinandersetzungen geprägt gewesen, die einer nachhaltigen und innovativen Stadtentwicklung entgegenwirken». Bereits vor einem Jahr hatte die frisch gewählte Stadtarchitektin Anne Pfeil nach ein paar Monaten im Churer Baudepartement den Bettel hingeschmissen. Seither wurde die Stelle nicht wieder besetzt.
Am selben Tag, 28. August, lanciert das überparteiliche Komitee «Chur gegen den Kahlschlag» eine Petition und ruft zur Demonstration am 5. September vor dem Rathaus auf, wo sich just an diesem Tag der Gemeinderat über die Sparvorschläge des Stadtrats beugen wird.
5. September: Nach der gut besuchten Demonstration vor dem Rathaus weist der Gemeinderat das Sparpaket mit 10:8 Stimmen in der Eintretensdebatte zurück. SP, Freie Liste & Grüne und Mitte brachten das Paket zu Fall.
In der Abstimmung vom 22. September, werden die Churer:innen über einen Landtausch in Chur West mit dem Investoren-Konsortium Baugesellschaft City West abstimmen. Am Projekt gibt es deutliche Kritik: Erstens solle die Stadt auf keinen Fall rares Bauland verkaufen und damit privatisieren. Und zweites schon gar nicht zu diesem Preis: Der vereinbarte Quadratmeterpreis liegt mit 1850 Franken rund einen Viertel unter dem Marktwert, den das kantonale Amt für Immobilienbewertung 2018 geschätzt hat. So würde die Stadt der Baugesellschaft 2,9 Millionen Franken schenken. Die Baugesellschaft City West wird von der Domenig Immobilien AG vertreten.
Fragen über Fragen
Um beim eingangs gewählten Bild der Salami-Scheibchen zu bleiben, ergibt sich folgendes Bild der städtischen Gesamtwurst: Chur spart bei der Kultur, der Freizeit, der Bildung, bei der Familienbetreuung und bei humanitären Aufgaben – und verschenkt gleichzeitig Millionen an millionenschwere Investoren.
Damit stellen sich Fragen:
- Ist das purer Neoliberalismus? Wie etwa der Regisseur und Veranstalter Manfred Ferrari in einem Leserbrief schreibt? «Aufgepasst: dies alles geschieht ohne Not. Ein rigides Sparprogramm für eine Stadt, die seit Jahr und Tag, trotz alljährlich wiederkehrender Unkenrufe von drohenden roten Zahlen, satte Einnahmenüberschüsse ausweist.» Das Resultat sei: «Profit maximiert, Stadtleben abgemurkst.»
- Hat der Stadtrat die Übersicht über die Gesamtwurst verloren? Er lässt von einem Investor ein Literaturhaus bauen, und fragt sich – trotz anscheinend klammer Stadtkasse – nicht, wer denn in Zukunft den Betrieb finanzieren wird?
- Die Liegenschaft der Alten Furhalterei liegt schon lange brach. Nun ist plötzlich Eile geboten. Hat das mit der Amtszeitbeschränkung des scheidenden Stadtpräsidenten zu tun?
- Warum wurde für das Areal der Furhalterei nicht schon lange ein Quartierplan entwickelt und ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben? Vielleicht wäre dann jemandem aufgefallen, dass einer Überbauung des Areals ein weiteres Kulturgut zum Opfer zu fallen droht. Das «Olmische Kober», die letzte jenische Beiz in der Stadt.
- Wie plant die Stadt Chur die Stadtentwicklung der Zukunft? Mit oder ohne kompetente Fachleute?
- Der Gemeinderat wird sich fragen müssen: Sind die geplanten Investitionen höher zu gewichten, als das soziale und kulturelle Leben der Stadt?
- Und die Einwohner:innen Churs müssen sich fragen, was ihnen an ihrer Stadt wichtig ist.
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