Kommentar

Julier-Turm: Mutiges Projekt, aber was ist der Inhalt?

Das neuste Projekt des Festival Origen – ein 55 Meter hoher Kulturturm auf dem Julierpass – sollte ernsthaft geprüft werden. Vor allem inhaltlich.

Von Mathias Balzer

Chur, 23.08.2023

3 min

Giovanni Netzer, Leiter des Bündner Kulturfestivals Origen,  hat keine Angst vor der grossen Geste – und mag offenbar Türme. Nach dem roten Provisorium auf dem Julierpass, dem barocken weissen Turm beim «Hotel Löwen» in Mulegns hat er nun die Pläne für «Ospizio» präsentiert. Neun Geschosse, über 55 Meter verteilt, sollen es werden, mit Eingangshalle, einem Stockwerk für Ausstellungen zur Passgeschichte, zwölf Hotelzimmern, einem Speisesaal, einem Theatersaal für 200 Zuschauer und einer gedeckten Dachterasse.

Diesmal soll das himmelwärts strebende Wahrzeichen aber kein temporärer Bau, sondern für rund 25 Millionen Franken ein bleibendes Kultur- und Passhaus werden. Netzer sagte bei der Präsentation, «er stelle sich auf Prügel ein» für dieses Projekt. Und in der Tat, es gibt nicht wenige Stimmen, die abwinken: «zu gross», «nicht in die Landschaft passend», «grössenwahnsinng», «Netzer eben».

Der Fragen sind noch viele: Eignen sich Türme und runde Bühnen für Theater? Passt sowas in diese wunderbare Landschaft? Wieso ein Theater dort bauen, wo das Publikum hingekarrt werden muss? Wieso erst jetzt ein bleibender Theaterbau? Hätte Origen sich all die bisherigen Provisorien nicht sparen können?

Es gibt durchaus prominente Stimmen, die sich bereits für den Erhalt des roten Turmes auf dem Julier einsetzten – bevor er nun abgebrochen wird. Architekt Peter Zumthor etwa plädierte in der «Südostschweiz» für dessen Erhalt. Damit Gutes entstehe, müssten die Regeln auch ab und zu gebrochen werden.

Touristiker und Lokalpolitikerinnen träumen ebenfalls vom kulturellen Leuchtturm, dessen Licht Gäste in die Täler lockt, wenn die Skilifte mangels Schnee stillstehen.

Und zu Bedenken gilt: Wenn jemand für diesen weitläufigen Tourismuskanton schon mal andere Ideen als Olympiaden einbringt, sollte eine solche Idee auch gut bedacht und diskutiert werden.

Bauen auf 2284 Metern über Meer, mitten in der Natur, ausserhalb der Bauzone ist aber mit Problemen verbunden. Richard Atzmüller,  Leiter des für solche Anliegen zuständigen Bündner Amtes für Raumentwicklung (ARE), sagt gegenüber der «Südostschweiz»: «Man kann nicht sagen, dass eine Bewilligung völlig ausgeschlossen ist.»

Jedoch: «Für den neuen Julierturm gäbe es – wenn überhaupt – nur den Weg über die Zonenkonformität mittels einer eigenen speziellen Zone», so Atzmüller. Voraussetzung dafür sei der Nachweis, dass die Nutzung nur dort zweckmässig sei. «Da müssen also sehr gute Argumente geliefert werden, dass es das neue Bauwerk jetzt unbedingt und für eine lange Zeit braucht», meint der Fachmann.

Politiker, Beamte, Natur- und Landschaftsschützer werden sich mit Netzers Idee und vielen Argumenten auseinandersetzen müssen. Und selbst wenn am Ende gar die öffentliche Hand den Geldbeutel öffnen würde, hätte die entscheidende Stimme die Bevölkerung. Damit die Bündner:innen mitdiskutieren und entscheiden können, müssen sie aber nicht bloss die Form, sondern auch den Inhalt kennen.

Und da gibt es einige offene Fragen: Wer wird in diesem Gasthaus Gastrecht haben? Wer wird diesen Turm langfristig betreiben? Wer zeichnet für das Programm verantwortlich? Wird der Bau – wie beim roten Turm – einzig für eine bestimmte, nämlich Origens eher konservative künstlerische Handschrift stehen, die vor allem mit Erhabenheitseffekten punktet? Für Tanz aus der Tradition herkömmlicher Ballettschulen? Oder könnten wir in diesem Kulturhaus ein vielfältiges, diverses, aus unterschiedlichsten Traditionen gespiesenes, zeitgenössisches Kunstschaffen erleben, das die Vielfalt der Gegenwart auch abbildet?

Würden – so nahe am Himmel – auch die Young Gods einmal aufspielen? Oder heimische Theaterstars wie Ursina Lardi, Jürg Kienberger, Bruno Cathomas? Könnten wir auch Ausstellungen von Thomas Hirschhorn oder Ursula Palla sehen? Treten Pop- und Volksmusik gleichberechtigt neben Oratorien und Ballett auf? Findet auch die Literatur ihren Platz? Die Stücke von Arno Camenisch oder Andri Perl etwa? Oder anders gefragt: Wessen Kunst soll von dort oben in die Landschaft strahlen?