Die Kerngruppe von links: Sylvain Badan, Zoe Stadler, Lucie Wiget, Dominik Siegrist und Köbi Gantenbein

Die Kerngruppe von links: Sylvain Badan, Zoe Stadler, Lucie Wiget, Köbi Gantenbein und Dominik Siegrist.

Bild: Jaromir Kreiliger

Buchbesprechung

Klimaschutz beginnt vor der Haustüre – und am besten zu Fuss

Die Aktivist:innen von «Klimaspuren» sind vor einem Jahr von Ilanz nach Genf gewandert. Nun schildert ein Buch, was diese einzigartige Feldforschung in Sachen Klimakrise zutage gefördert hat. Und den Film dazu gibt es bei uns auch.

Von Mathias Balzer

Chur, 19.05.2022

7 min

Im Juni 2021 wanderten rund 500 Menschen in Gruppen von zehn bis vierzig Personen von Ilanz über die Ostschweiz, das Mittelland und den Jura bis nach Genf. Ihre Mission: den Spuren der Klimaveränderung nachgehen, Menschen, Firmen und Organisationen besuchen, die sich diesem Thema widmen. Bäuerinnen und Bauern, Touristiker:innen, Architektinnen und Architekten, Forscher:innen, Förster:innen und Künstler:innen standen Rede und Antwort und präsentierten Gedanken und Lösungsansätze zur Klimakrise.

Lanciert wurde «Klimaspuren» von den Geografen Sylvain Badan, Dominik Siegrist, der Ingenieurin Zoe Stalder, der Biologin Lucie Wiget und dem Hochparterre-Verleger Köbi Gantenbein.

Der Protestzug von «Klimaspuren» unterwegs im Rheintal.

Die Klimakrise ist eine lebensbedrohende Krise, die unserem Wirtschaften, unserer Lebensweise, unseren Konsumgewohnheiten die Selbstverständlichkeit raubt. Sie ist ein Brennglas, das grundsätzliche Fragen unseres Daseins in den Fokus rückt. Sie macht klar, dass unser Planet nicht einfach ein wohlmöbliertes Wohnzimmer für den Homo Sapiens, sondern ein Grossorganismus ist, in dem alles mit allem zusammenhängt. Und die Krise wirft ein grelles Schlaglicht auf das alte Problem der Vermögensverteilung, der skandalösen Diskrepanz zwischen Arm und Reich.

Die Klimajugend hat die schon lange bekannte, aber ignorierte Bedrohung lautstark in die politische Agenda gerufen. Und das, bevor die weltweite Pandemie uns drastisch vor Augen geführt hat, wie globale Krisen in Zukunft aussehen werden. Dass darauf gleich noch ein Krieg mitten in Europa vom Zaun gebrochen wird, macht das Mass voll. Die Herausforderung kippt rasch in Überforderung. Und angesichts unkontrollierbarer Viren, fallender Bomben und Millionen Flüchtlinge wirkt die Klimakrise weit entrückt und noch abstrakter als zuvor.

Gerade diese Überforderung macht das Projekt «Klimaspuren» so wertvoll. Anstatt das Problem den Technikern und Politker:innen zu überlassen und, Kopf im Sand, zu hoffen, «die schaffen das schon», schauen die Klimaspurer:innen direkt vor der Haustüre nach. Zu Fuss hingehen, hinschauen, nachfragen. Das Gespräch suchen, Überraschendes entdecken, Gemeinschaft stiften angesichts der Überforderung. Die Politologin erkennt in diesem Tun den Protestmarsch, die Wissenschaftlerin die Feldforschung, die Kulturwissenschaftlerin den performativen Akt, der die Wirklichkeit verändert.

Zu «Klimaspuren» gibt es eine informative Webseite und bereits einen 40-minütigen Dokumentarfilm, der die 670 Kilometer lange Wanderung anschaulich macht. Sie finden ihn am Ende dieses Textes. Das Kernstück dieser erwanderten Tiefenbohrungen erscheint aber erst dieser Tage: das Buch zu den Klimaspuren.

Fazit der «Klimaspuren» in zehn Punkten

  1. Klimavernünftig bauen heisst, die Kreislaufwirtschaft leben. Aus dem Lager- wird das Wohnhaus, aus dem Büroklotz der Mehrgenerationenturm.

2. Ohne substanzielle Reduktion des Auto- und Lastwagenverkehrs und ohne neue Formen der Mobilität wird kein Klimaschutz zu machen sein.

3. Ohne substanziellen Klimaschutz und ohne Anpassung der Landwirtschaft an die Folgen der Klimakrise kann keine nächste Agrarreform auskommen.

4. Solange pflanzliche Kochkunst nicht alltäglich auf dem Teller liegt, beherrscht das Fleisch und der Käse das Mittag- und Abendessen. Das wird und muss sich ändern.

5. Die Forschungslandschaft zur Klimakrise und die Balancierung ihrer Folgen muss genügend Spielraum, Freiraum und Geld haben. Die Handwerksberufe, die die Klimavernunft bauen, müssen gefördert werden.

6. Klimaschutz braucht Gesichter, nicht nur Modelle; Menschen, nicht nur Zahlen, im ganzen Land, nicht nur in der Stadt.

7. Binden wir all die Bürgerinitiativen, Unternehmerinnen, Firmen und Erfinder zur Klimabewegung. Sie fügen zum Ruf «So nicht» den Ruf «Besser so».

8. Die Klimabeschädiger müssen auf allen Ebenen zur Rechenschaft gezogen werden, um sie zu zwingen, ihr Handeln zu verändern.

9. Der Finanzplatz ist mit Gesetzen auf Netto Null zu verpflichten: keine Investition, keine Beteiligungen mehr an Kohle-, Erdöl- und Erdgasgeschäften.

10. Wandert in der Schweiz, solange es sie noch gibt.

Die Autorinnen und Autoren der 288 Seiten schweren, reich bebilderten Publikation präsentieren die Fragestellungen und Erkenntnisse der Klimawanderung in 46 Kapiteln. Reportage, Interview, Kolumne, Statement und Essay wechseln sich wohlportioniert ab. Die Leser:innen finden Konkretes wie beispielsweise die Klimafahrpläne von 17 Kleinstädten zwischen Chur und Yverdon. Sie begegnen aber vor allem prägnanten Köpfen, die das Netto-Null-Ziel auf unterschiedlichste Weise angehen.

Architekt Gion A. Caminada verknüpft in Valendas klimavernünftiges Bauen mit achtsamer, sozialer Lebensweise. Der Grosstouristiker Reto Gurtner versucht in Laax den Massentourismus neu zu denken. Die Bündner Bäuerinnen und Bauern schliessen sich unter Federführung der Genossenschaft Maschinenring zusammen und entwickeln gemeinsam mit der ETH eine klimavernünftige Landwirtschaft. Die St. Galler Firma Senn entwickelt mit Ökonomen und Bauleuten das Bauen der Zukunft. In Zürich besucht das Klimawandervolk den Klimapavillon, in Bern die Velostadt, in Solothurn mit der Kreisförsterin den Wald, in Langenbruck das Ökozentrum, oder in Olten trifft es auf das Architektur-Kollektiv Countdown 2030.

Die Realpolitik schlägt zurück

Noch während des Fussmarsches entlang dieser Klimaschutz-Perlenkette hat die Schweizer Realpolitik die Spurensucher:innen eingeholt. Am Sonntag, 21. Juni 2021, lehnt das Stimmvolk das CO2-Gesetz ab. Ein herber Dämpfer für alle hoffnungsvollen Streiter:innen in Sachen Klimaschutz. Ein Dämpfer auch, der klar macht, dass der politische Kampf noch lange nicht vorbei ist. Klimaspuren verhehlt denn auch nicht, dass diese Feldforschung durchaus aktivistische Züge hat. In Zürich lesen die Wandernden den Grossbanken die Leviten. Im Aargauer Jura bringen sie Klimaktivistinnen und -aktivisten mit Vertretern der Zementindustrie ins Streitgespräch. In einem Statement erklärt Rosemarie Wydler-Wälti, warum die Klima-Seniorinnen in Strassburg vor dem Gerichtshof Geschichte schreiben wollen.

Es ist die Stärke dieser Publikation, dass sie das Abstrakte anschaulich macht, Lösungsansätze aufzeigt, ohne rosarot zu malen. Das Buch beinhaltet auch melancholische, wenn nicht resignative Stimmen. Etwa wenn Peter Zumthor schreibt, als Architekt könne er gar nicht so viel ausrichten. Oder wenn Johanna Brandstetter und Christian Reuter, Forschende an der Fachhochschule OST, eingestehen, dass uns immer noch die Erzählungen fehlen für eine wirklich alternative Entwicklung unserer Gesellschaft. Es wäre die Erzählung vom glücklichen Leben und Arbeiten, fern des Wachtumszwangs. Ein Lied, das bereits Legionen von Naturschutz-Pionier:innen gesungen haben. Unter ihnen auch der heilige Benedikt in seinen Ordensregeln. Auch sie werden im Buch zitiert: «Gemäss dem eigenen, von Gott zugemessenen Mass zu leben lernen, nicht im Übermass besitzen, essen, ruhen, arbeiten, reden.» Gerade dieser Ausflug ins Spirituelle zeigt, wie weit wir noch entfernt sind von einem mentalen System-Change, der die psychologischen Anreize des Massenkonsums durch eine freiwillige Selbstbescheidung ersetzen würde.

Die Klimapolitikerin Anja Kollmuss sagt, das Wichtigste sei, sich politisch zu engagieren. Was für sie bedeutet, die richtigen Organisationen zu unterstützen, aber vor allem auch vor den eigenen Füssen zu fegen. Angesichts der nahenden Ferien hiesse das: Wandern statt Kreuzfahren und Fliegen!

 

Cover des Buchs

«Auf Klimaspuren – eine Expedition von Ilanz nach Genf»
Herausgeber: Köbi Gantenbein, Dominik Siegrist, Zoe Stadler
Autoren: Köbi Gantenbein, Dominik Siegrist, Zoe Stadler, Sylvain Badan, Lucie Wiget
Fotografie: Ralph Feiner, Jaromir Kreiliger, 288 Seiten, Fr. 49.– / € 45.–

Buchvernissagen

Zentrum RANFT, Flüeli-Ranft 
17. bis 19. Juni 2022
mit Musik, Wanderung und Referaten
Programm, Informationen und Anmeldung

Alpines Museum Bern
28. Juni 2022, abends. Programm folgt.

Kulturpark in Zürich
29. Juni 2022, ab 19 Uhr
Programm