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Die Autorin Paula Thielecke über ihren inneren Zwiespalt beim Schreiben und festgefahrene Gewaltnarrative.

Foto: Hilde von Mas

Gespräch mit Paula Thielecke

«Das Theater funktioniert wie ein Königsstaat»

Das Neue Theater Dornach bringt «Judith Shakespeare – Rape and Revenge» auf die Bühne, geschrieben von der Dramatikerin Paula Thielecke. Das Stück erzählt nicht nur die Geschichte der fiktiven Judith Shakespeare, sondern verhandelt auch die Strukturen der Theaterwelt und den Umgang mit sexualisierter Gewalt. Paula Thielecke spricht darüber im Interview.

Von Helena Krauser

Basel, 06.12.2023

13 min

Paula Thielecke, zurzeit wird das Stück «Judith Shakespeare Rape and Revenge» im Neuen Theater in Dornach gespielt. Du hast den Text dazu geschrieben. Worum geht es in dem Stück?

Paula Thielecke: Man kann darauf auf zwei Arten antworten. Entweder ist es die Geschichte von Judith Shakespeare, die ihr Glück im Theaterbetrieb versucht und erstmal nur abgewiesen wird, währenddessen aber den Wunsch formuliert, endlich mal nicht über ein Thema zu schreiben, was ihr zugeschrieben ist. Sondern über ein Thema, das schon postemanzipatorisch ist: nämlich Urwälder. In der Zeit, in der sie – die Figur – stattfindet, also mehr oder weniger im Jetzt, werden natürlich Autorinnen eher dafür gebucht, über Themen zu schreiben, bei denen gesagt wird: «Das müsste euch doch beschäftigen.» 

Das ist meiner Meinung nach eine self-fulfilling prophecy, auf die ich auch sauer bin. Weil man nicht von einem emanzipierten Zustand ausgeht, sondern von einem Zustand, in dem immer wieder ein Trauma überwunden werden muss, in dem jemand darüber schreibt. 

Und was ist die zweite mögliche Antwort?

Es geht auch um die Innensicht der Figur Judith Shakespeare oder Figuren ihrer Art, das ist offen. Dabei geht es um den Prozess, wie es sich anfühlt, mitten im Überleben, mitten im Traumabewältigen zu sein. 

Darum geht es in erster Linie und um den ganzen Diskurs, was man eigentlich mit Vergewaltigung meint, mit sexualisierter Gewalt, wo fängt das eigentlich an.

PAULA THIELECKE 

Paula Thielecke, 1990 geboren in Berlin, ist Dramatikerin, Regisseurin und Aktivistin. Ihre Arbeiten handeln von Gewalt, Überleben, Subjektwerdung und Lust und werden in Theatern in Deutschland, Österreich, Belgien und der Schweiz gezeigt.

Du bist also sauer darauf, dass es diese sich selbst erfüllende Prophezeiung gibt, aus der heraus Frauen immer wieder Stücke schreiben müssen, in denen sie ein Trauma bewältigen, entscheidest Dich aber dazu, selber ein solches Thema zu behandeln. Wie geht das zusammen?

Das ist genau die Frage, die ich mir auch stelle. Ja, ich habe es mit diesem Stück auch gemacht und das Stück ist ja jetzt schon zwei Jahre alt. Ich versuche mich in meinem Schreiben davon wegzuentwickeln, weil ich das nicht mehr als mein Hauptthema in meinem Leben anerkennen möchte. Und gleichzeitig muss ich anerkennen, dass es ein Teil meines Lebens ist und ich als Autorin und Künstlerin natürlich darüber schreibe, was ich erlebe, was ich denke, in welchen Diskursen ich bin.

Das ist natürlich ein grosser Prozess, auch mal über Themen zu schreiben, die Spass machen. Also ganz simpel, ganz banal. Ich möchte über Themen schreiben, die Spass machen.

Ich als Künstlerin gestalte die Freizeit von Leuten und ich möchte, dass das eine gute Zeit ist.

Gleichzeitig möchte ich aufklären. Gleichzeitig möchte ich am Diskurs teilhaben, ich möchte Narrative mitgestalten und das ist in sich natürlich ein Zwiespalt. In dem Moment, in dem ich das Stück geschrieben habe, habe ich auch eine Notwendigkeit dazu gespürt, das so zu schreiben. Sowohl aus mir persönlich heraus als auch aus dem Diskurs heraus, der gerade stattfand. 

Wo liegt der Ursprung für die Figur Judith Shakespeare? 

Das ist eigentlich eine weiter gedachte Idee von einer Figur, die sich die Autorin Virginia Woolf ausgedacht hat, in ihrem Essay «Ein Zimmer für sich allein». Sie hat sie als Denkmodell erfunden und überlegt, wie wäre es gewesen, wenn der berühmte Autor William Shakespeare eine Schwester gehabt hätte. Und warum sie nie so erfolgreich und so unsterblich geworden wäre. Weil sie zum Beispiel ungewollt schwanger geworden wäre oder auch gewollt oder eben sexualisierte Gewalt erfahren hätte oder einfach nicht vorgekommen wäre, nicht gehört worden wäre, Hausfrau geblieben wäre, gar nicht zum Schreiben gekommen wäre, an sich selbst gezweifelt hätte. Genau das habe ich versucht weiterzuentwickeln. 

Was hat diese Figur bei Dir ausgelöst, dass Du sie weiterentwickeln wolltest?

Auf die Figur gestossen bin ich schon acht Jahre, bevor ich das Stück überhaupt angefangen habe zu schreiben und zu denken. Da habe ich das erste Mal «Ein Zimmer für sich allein» gelesen und gedacht, das ist doch eine Figur, da muss man doch noch was mit machen.

Warum hat das noch keiner gemacht?

Dann habe ich ewig gegoogelt und gemerkt, dass tatsächlich noch niemand etwas dazu geschrieben hat und wusste, dann muss ich es eben selber schreiben. 

Als queerfeministische Künstlerin ist mein Auftrag, nicht zu denken, wir erschaffen hier was Neues oder so, sondern der Auftrag ist, Community zu stiften und zu bilden und sich aufeinander zu beziehen und weiterzudenken, was andere nicht zu Ende machen konnten, weil sie zum Beispiel gestorben sind – ein gemeinsames Künstler:innenprojekt zwischen lebenden und verstorbenen Autor:innen oder auch zwischen Lebenden. Also auch entgegen der Idee von Konkurrenz.

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Röschen und Judith Shakespeare im Gespräch.

Foto: Lucia Hunziker

Gibt es eine literaturgeschichtliche Epoche, in der Du während Deiner Recherche besonders viele oder auffällig wenige Beispiele für weibliche Figuren, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, gefunden hast?

Das zieht sich durch. Egal wo man guckt, man kanns immer finden, wenn man will. Immer, immer, immer. 

Konntest Du dennoch eine Entwicklung feststellen?

Na ja, das, was ich am ehesten als Entwicklung bezeichnen würde, aber das hat auch etwas mit Überlieferungen zu tun, ist, dass die Figuren meistens von Männern geschrieben wurden, also durch eine männliche Brille in die Welt gekommen sind. Erst Stück für Stück haben dann auch Frauen selbst über ihre Erfahrungen geschrieben.

Weshalb ist die sexualisierte Gewalt so ein beliebtes Motiv in der abendländischen Kultur?

Das ist so ein bisschen wie die Henne- und Ei-Frage. Von Leuten, die Gewalt erfahren, geht auch eine Faszination aus. Das Narrativ von Leiden und vom Nicht-Überleben und von der Nicht-Katharsis, ist ultra faszinierend für die europäische Literatur und Dramatik, glaube ich.

Dass es am Ende schlimm werden muss, dass der Mensch leiden muss, halte ich auch für eine ultra patriarchale Narration. 

Aber das ist jetzt nur eine These von mir, die ist diskutierbar. 

Es ist natürlich eine Geste der Macht, Texte von Personen des anderen Geschlechts zu schreiben, die per Gewalt erniedrigt werden und damit nicht mehr zum Leben fähig sind und entweder gerettet werden müssen von einer männlichen Hauptperson oder elend zugrunde gehen. Oder wenn beides nicht passiert, sind sie Hexen oder verrückt und dadurch auch gescheitert. 

Welche Rolle spielt dabei das «Brechen» der Frauenfiguren?

In dem Moment, in dem ich es schaffe, einen Menschen zu brechen, also brechen im Sinne von so zu verunsichern, dass die Person nicht mehr in ihrer Mitte ist und keine Ahnung mehr von der eigenen Identität hat, ist die Person wie ein Kind beeinflussbar und lenkbar und formbar. Und sich jemanden zu halten, ich sage es jetzt extra polemisch, aber sich jemanden zu halten, der eigentlich kein eigenes Bedürfnis hat, das ist natürlich super praktisch. So funktioniert der ganze Kapitalismus und das Patriarchat.

Ein funktionierender Kapitalismus funktioniert nur durch ein funktionierendes Patriarchat. 

Virginia Woolf hat die Figur der Judith Shakespeare Ende der 20er-Jahre entwickelt. Was hat sich seither verändert?

Seitdem hat sich eine ganze Menge verändert, gleichzeitig aber auch sehr wenig. Es ist 2023 und wir beide müssen immer noch über diese Themen sprechen. Und das ist wichtig. Gleichzeitig sitzen wir hier, ich als Autorin und du als Journalistin, mündig mit unseren eigenen Laptops, und können uns der Öffentlichkeit zuwenden. Das hat sich definitiv verändert. 

Damals war Virginia Woolf eine von wenigen, die sich öffentlich Gehör verschafft hat und dafür hat sie viele Federn gelassen.  

Und wir haben vermutlich auch viele Federn gelassen. Aber von uns gibt es viele, und das ist total toll. 

Das sehe ich schon als eine echte Errungenschaft an, auch wenn es jetzt normal ist.

Ich glaube, auch in der Selbstverständlichkeit, emanzipiert zu leben, hat sich einiges geändert. Was auch immer Emanzipation für jede einzelne bedeutet. Für Frauen ist es selbstverständlich, dass sie sich selbst als Individuum wahrnehmen, dass sie machen, was sie möchten und auch wissen, was sie möchten. Ich glaube, das hat sich schon sehr geändert und das ist auch sehr, sehr gut so.

Judith Shakespeare – Rape and Revenge, Neues Theater Dornach, 25.11.2023, Foto Lucia Hunziker

Juri Stein und Judith Shakespeare.

In den festgefahrenen Skripten der Vergewaltigungserzählungen von der Antike bis in die neuste Literaturgeschichte gibt es immer eine klare Aufteilung von Opfer und Täterrollen sowie der Entwicklung der Figuren nach der Vergewaltigung, meistens folgt darauf sehr schnell Mord oder Selbstmord. Weshalb ist das so und was wären alternative Erzählformen?

Man muss ja auch sagen, viele sterben ja nach wie vor daran. Und es kann auch sein, dass ich mit 14 sexualisierte Gewalt erlebt habe und mich mit 55 töten möchte. Es ist auch verständlich, dass es einen einholt, wenn sich jemand anderes des eigenen Körpers bemächtigt hat. Das ist ja sexualisierte Gewalt. Jemand anderes bemächtigt sich meines Körpers ohne meine Einwilligung, und damit werde ich zum Objekt gemacht.

Damit werde ich vom Subjekt zum Objekt reduziert. Und alternative Erzählungen vom Umgang damit sind natürlich entweder Rache oder Subjekt zu bleiben und zu sagen: «Ja, mir ist das passiert, und ja, ich kann nichts dafür. Ja, es hat nichts mit mir zu tun und mit meiner Identität, was jemand anderes gemacht hat.» 

Statistisch gesehen muss man sagen, sexualisierte Gewalt, Vergewaltigungen sind normal.

Das ist normal. Jede vierte Frau erlebt das, also ist es normal. 

Ein wirklich neues Narrativ finde ich die Wut auf die Täter:innen oder die Situation. Oder wenn Frauen aus dem Erlebten Kunst machen und damit Cash generieren, wie zum Beispiel Michaela Coel, es gibt unzählige Beispiele. Dann wird man zwar aufs Thema reduziert, aber kann immerhin noch ein bisschen Vermögen daraus schlagen. Der Markt wills. Es ist eine verrückte Spirale.

Die Geschichte des Stücks spielt innerhalb der Theaterwelt. Weshalb ist diese Szene besonders anfällig für sexistische Machtspiele?

Na ja, ich glaube, dass eigentlich fast jede Branche anfällig dafür ist, weil es auch in jeder Branche passiert.

Ich arbeite selbst seit Jahren im Theater und das ist natürlich ein Ort, der mir total bekannt ist, ich weiss, wie so ein Betrieb läuft.

Das Theater ist aber auch sinnbildlich, weil es wie ein Königsstaat funktioniert, mit strengen Hierarchien. Oft haben wir im Theater nichts mit neuen Arbeitsmodellen zu tun, die Hierarchien sind völlig klar und bedingen Machtposition. Und Macht verführt dazu, missbraucht zu werden. 

Im Theater gibt es eben Künstler, die zum Beispiel nicht fest angestellt sind und eigentlich immer mit einem Fuss in der Existenzbedrohung stehen. Das macht etwas mit diesen Menschen und auch mit den Menschen, die Macht ausüben. 

Ich finde, das ist in der Kulturbranche ein sehr spannender Diskurs. Inhaltlich geht es oft darum, wie die aktuellen Entwicklungen sind und innerhalb der Institutionen ist das alles meistens nicht so gut umgesetzt. Und das finde ich als Dramatikerin und Autorin einen spannenden Widerspruch.

Das ist richtig guter Stoff.

Das ist ja eigentlich eine institutionelle Psychose, nach aussen das eine behaupten und nach innen das andere leben. 

Ganz nach dem Sprichwort: Wasser predigen und Wein trinken? 

Ja genau, es ist aber natürlich auch viel in Bewegung und das ist auch super. Aber das dauert halt Jahre und Jahrzehnte. 

Ich finde es einerseits sehr gut, dass alle darüber sprechen und neue Sachen ausprobieren und gleichzeitig ist die Erwartungshaltung, dass alles sofort anders und gut ist, auch naiv. 

Und solange das nicht umgesetzt ist, muss man dafür Sorge tragen, dass weiterhin Aufklärung stattfindet. 

Oft kommt es auch vor, dass die Täter:innen nicht wissen, dass sie Gewalttäter sind. Sie wissen nicht, dass das Gewalt ist, wenn sie diese eine SMS schreiben, wenn sie diesen Sex praktizieren.

Sie wissen das einfach nicht, dass das schon Gewalt ist.

Das soll sie nicht in Schutz nehmen, aber das hängt wieder mit den Narrativen zusammen, die wir am Anfang besprochen haben.


JUDITH SHAKESPEARE – RAPE AND REVENGE

Neues Theater Dornach

Premiere 30. November 2023

Weitere Vorstellungen

8.|9.|15.|16. Dezember 2023 

17.|19. Januar 2024