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Zuerst der Deutsche, dann der Schweizer Buchpreis: Kim de l’Horizons Debütroman «Blutbuch», in dem es um Geschlechter, Traumata und Klassenzugehörigkeiten geht, ist das Buch der Stunde. Rahel Bains hat Kim im Volkshaus in Zürich auf einen Kaffee getroffen. Dort haben sie über ihre (Zwischen)-Generation, sprich Menschen um die 30, gesprochen. Über das Erinnern und nach vorne schauen und die Frage, wie Kim mit dem Erfolg und der damit verbundenen Sichtbarkeit umgeht.
Rahel Bains: Vor zehn Jahren hast du die ersten Zeilen von «Blutbuch» geschrieben. Darin heisst es: Schreiben ist ein Versuch, ein Zuhause zu finden. Ein Zuhause, das es vielleicht schon nicht mehr gibt, das es vielleicht erst noch zu erzählen gilt. Es ist oft auch die Rede von «sich erinnern». Wie war der Erinnerungsprozess für dich?
Kim de l’Horizon: Eigentlich ist das Erinnern wie auch das Schreiben ein Prozess der «Sinn» oder «eine Erzählung» generiert. Diese Geschichten könnten aber auch auf eine ganz andere Art und Weise erzählt werden. Das Leben ist so reich, und wir wählen gewisse Sachen aus, die wir zu unserer Lebenserzählung oder unserem Ich machen.
Zu Beginn hatte ich versucht, «Blutbuch» zu einer klassischen Coming-of-Age-Geschichte zu formen – irgendwann bin ich auf mich selbst gekommen, merkte dann aber: Eins zu eins nur über mich zu schreiben, passt irgendwie auch nicht. Am Schluss entstand diese Zwischenform des Autofiktionalen. Diese ist die Weiterführung eines Erinnerungsprozesses, der versucht, die Realität nicht so zu akzeptieren, wie sie ist, sondern weiterzuschreiben und dadurch ein Zuhause zu schaffen.
Was spielt neben der Vergangenheit auch noch eine zentrale Rolle?
Die Beziehung von Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen. Für die Kind-Figur sind Pflanzen sehr wichtig. Die Klimakrise ist nämlich auch eine Empathie-Krise, denn fehlende Empathie führt dazu, dass man andere Lebewesen nicht als solche wahrnimmt. Auch wenn es nicht an vorderster Stelle steht, geht es auch ums Zuhören, den Pflanzen zuzuhören, auf sie zuzugehen. Und obwohl Pflanzen, die in Texten reden, immer eine menschliche Sprachprojektion sind, geht es sehr stark um die Frage, wie wir auf diesem Planet weiterhin als Menschheit existieren wollen.
Du hast «Blutbuch» in deinen Zwanzigern geschrieben. Eine Zeit, in der man erwachsen wird. Wie hat dieser persönliche Wandel den Inhalt des Buchs beeinflusst? Musstest du Teile wieder umschreiben, weil sie irgendwann nicht mehr gepasst haben?
Das Buch hat viele sehr unterschiedliche Teile, auch vom Stil her. Ich fand es wichtig, diese in ihrer Unterschiedlichkeit stehen zu lassen. Es war zwar nicht einfach, aber dafür wichtig, dass der Text so vielstimmig und vielgestaltig und für die Figuren zu einem Körper geworden ist. Ein Textkörper, der auf eine gewisse Art divers ist. Mal dominiert das eher «ungehobelt bäuerische» Berndeutsch mit Sätzen wie «den Finger aus dem Arsch nehmen», das sich mit wissenschaftlichen, essayistischen Teilen abwechselt, um dann ins Urbane, voller Anglizismen überzugehen.
Wie oft hast du die Texte während der letzten zehn Jahre zur Seite gelegt?
Ständig. Ich hatte oft intensive Schreibphasen, nach denen ich das Buch auch mal lange wieder weg legte. Für mich ist das Schreiben eine hexerische Praktik: Es werden verschiedene Stränge und Zeiten verwoben.
Hexerei bedeutet für mich auch der Glaube, dass alles miteinander verknüpft ist. Und wenn alles in Verbindung steht, kann man auch auf alles Einfluss nehmen.
Das patriarchale, koloniale, kapitalistische System versucht, alles zu vereinzeln, wodurch man sich oft einsam fühlt. Hexen ist für mich eine queerfeministische Praxis, die versucht, Verbindungen herzustellen, durch die man in Communities kommt, in denen man gemeinsam nach vorne schauen kann.
Die Vergangenheit ist ein grosses Thema. Deine Hauptfigur beschäftigt sich stark mit der Grossmutter sowie der Mutter. Sie fragt sich, ob Familie die Verbindung ist, die durch das Vererben persönlicher Traumata entsteht. Und sie erzählt davon, wie sehr die Vergangenheit einfach so «in die Gegenwart reinfuckt». Viele in unserer Generation, sprich Menschen um die 30, blicken derzeit ebenfalls zurück auf ihre Vergangenheit, um ihr jetziges Handeln zu verstehen. Sind wir die erste Generation seit langem, welche die Wichtigkeit dieser Arbeit erkennt?
Aufarbeiten ist auch eine Frage von Ressourcen. Unsere Grosseltern haben Hunger oder Krieg erlebt. Danach kam eine Generation, die dies nicht mehr direkt erfahren hat und quasi damit schwanger ging. Unsere Generation läuft im Vergleich zu denjenigen davor nicht mehr so stark Gefahr, in diesen Trauma-Strudel zu geraten. Auch haben wir die finanziellen und emotionalen Ressourcen, um zum Beispiel mittels Therapie zurückzublicken.
Ich sehe es schon auch in meinem Umfeld, dass viele dabei sind, «aufzuräumen». Es ist wichtig, genau zurückzublicken, aber auch, nach vorn zu schauen, um politische Strukturen zu verstehen. Vor allem jetzt, zum Beispiel im Hinblick auf die verschärften Abtreibungsgesetze und den Anti-Trans-Backlash im angloamerikanischen Raum, ist es wichtig, im Jetzt zu sein. Sich zu fragen: «Wie wollen wir über uns sprechen? Wie behaupten wir unseren Standpunkt in der Gesellschaft?»