Hans Ulrich Obrist stellt im Luma Westbau in Zürich sein Archiv über den karibischen Romancier, Dichter und Essayisten Édouard Glissant aus. Das Interview dazu im FRIDA Magazin.

Hans Ulrich Obrist stellt im Luma Westbau in Zürich sein Archiv über den karibischen Romancier, Dichter und Essayisten Édouard Glissant aus.

Bild: Joana Luz

Hans-Ulrich Obrist im Gespräch

«Darum bin ich auf einer Mission»

Der Kurator Hans-Ulrich Obrist plädiert im Interview zu seiner neusten Ausstellung für eine andere Art der Globalisierung und erklärt, was die Kunst dafür leisten kann. Insbesondere das Werk seines ehemaligen Mentors Édouard Glissant.

Von Mathias Balzer

Zürich, 12.06.2023

10 min

Hans-Ulrich Obrist präsentiert im Luma Westbau in Zürich sein Archiv über den in Martinique geborenen Philosophen, Dichter und Intellektuellen Édouard Glissant (1928–2011). Glissant ist für den Schweizer Kurator eine prägende Figur. Der karibische Autor war über lange Jahre sein Mentor und hat auch die Ausrichtung des Luma-Projekts in Arles stark inspiriert. Der neue Kulturkomplex, finanziert von der Roche-Erbin Maja Hoffmann, wurde im Sommer 2022 eröffnet. Die Ausstellung zu Glissant gehört zu einer Serie von Ausstellungen aus Obrists Archiven, die in Arles gezeigt werden.

Neben Schriften, Zeichnungen und Beiträgen von Künstler:innen zu Glissants Werk, zeigt die Ausstellung zahlreiche Videos von Gesprächen, die Obrist mit dem Autor geführt hat. Die Präsentation stützt sich auf die Zeit der Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen dem Philosophen und dem Kurator und hebt eine gemeinsame Überzeugung hervor: Das Gespräch und der gegenseitige Austausch mit dem anderen können ein Mittel sein, um neue Realitäten zu schaffen.

Hans-Ulrich Obrist

1968 im schweizerischen Weinfelden geboren, gilt seit Jahrzehnten als einer der bedeutendsten Ausstellungsmacher unserer Tage. So kuratierte er unter anderem Ausstellungen im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, in der Kunsthalle Wien, den Hamburger Deichtorhallen und im New Yorker PS1. Seit 2016 leitet er die Londoner Serpentine Galleries und ist neuerdings Leitender Berater des Kulturzentrums Luma in Arles. Ein zentrales Werk von Obrist ist sein Interview-Project. Seit 1991 hat er rund 4000 Gespräche mit Künstlerinnen, Architekten, Musikern, Schriftstellerinnen, Filmemacherinnen, Philosophen und Wissenschaftlerinnen auf Video aufgezeichnet.

Herr Obrist, stimmt es, dass Sie seit Jahren täglich Glissants Schriften lesen?

Hans-Ulrich Obrist: Ja, ich kehre immer wieder zu ihm zurück. Zu meinen Notizen über ihn, zu seinen Gedichten, seinen Interviews, beispielsweise sein Gespräch, das er mit dem malischen Kulturtheoretiker und Filmemacher Manthia Diawara geführt hat. Glissants Werk ist für mich eine Art Werkzeugkiste.

Das ist ja wie das tägliche, rituelle Lesen in der Tora…

Richtig, so ist es. Es ist eine Art tägliche Zusammenarbeit, eine tägliche Vergegenwärtigung seines Denkens, das ich angesichts der fortschreitenden Globalisierung für sehr wichtig halte. Denn es ist genau das eingetreten, was Glissant prophezeit hat: Es gibt eine heftige Gegenbewegung in Form neuer Nationalismen, hier in Europa, aber auch in China, in Indien, in den USA, überall. Ein weltweiter Backlash. Glissant hat bereits früh darauf hingewiesen, dass wir zwar lokal agieren müssen, aber nicht nationalistisch. Ansonsten verlieren wir unsere Toleranz für das andere.

Und wie fliesst dieses Denken in Ihre Arbeit ein?

Ich frage mich immer wieder, wie wir mit Ausstellungen, Konferenzen oder Büchern einen Beitrag leisten können zu Glissants Idee der Mondialité. Genauso wichtig ist für mich als Leiter der Serpentine Gallery Glissants Modell des «All World Institute». Dabei geht es um die Frage, wie wir als Kunstinstitution alle Kulturen der Welt miteinander verbinden können.

Eine wichtige Denkfigur Glissants ist die der Kreolisierung. Was meint er genau damit?

Eines meiner liebsten Bücher von ihm ist «Sartorius», ein Roman, was ungewöhnlich ist für ihn. Darin kommt die utopische Gemeinschaft der Batutut-Menschen vor. Diese leiten ihre Herkunft nicht von einer Genealogie, also von ihren Ahnen ab, sondern durch den Austausch mit anderen Menschen. Ein anderes schönes Beispiel für Kreolisierung ist derzeit an der Architektur-Biennale in Venedig zu sehen. Der fast 90-jährige nigerianische Architekt Demas Nwoko wurde dort für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Nwoko ist durch seine Zusammenarbeit mit dominikanischen Mönchen Architekt geworden, kreierte zuerst Kreuze, dann Kapellen – und mit der Zeit begann er die westliche Sakralarchitektur zu hybridisieren, zu lokalisieren und sie den afrikanischen Riten anzupassen. Dadurch entstanden erstaunliche architektonische Mischformen.

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Édouard Glissant

Der Romancier, Dichter und Essayist Édouard Glissant ist einer der grossen Schriftsteller unserer Zeit. Er wurde 1928 in Saint-Marie auf Martinique geboren und starb 2011 in Paris. Als junger Mann setzte er sich zusammen mit seinen Freunden für revolutionäre Ideen zur Befreiung der Kolonien ein. 1946 ging er nach Frankreich, wo er Philosophie und Ethnologie studierte. Sein literarisches Debüt gab er 1953 mit dem Gedichtband «Un Champ d’îles» (dt. «Ein Inselfeld»); sein erster Roman «La Lézarde» (dt. «Die Sturzflut») wurde 1958 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. 1965 kehrte Glissant nach Martinique zurück, wo er 1967 das Institut Martiniquais d’Études (IME) gründete. 1971 erschien einer seiner wichtigsten Aufsätze «Le Discours antillais» (1987; dt. «Zersplitterte Welten»).

Von 1980 bis 1988 war Édouard Glissant Chefredakteur des UNESCO-Kuriers.1988 zog er in die Vereinigten Staaten und wurde Vorsitzender des Zentrums für französische und frankofone Studien an der Louisiana State University (LSU). In Paris gründete Glissant 2007 das Institut du Tout-Monde. Im Jahr 2009 veröffentlichte er seinen letzten Essay «Philosophie de la Relation».

Können Sie ein Beispiel für Glissants Auffassung der Mondialité geben?

Glissant hat immer wieder in der Maison de l’Amérique Latine in Paris Veranstaltungen durchgeführt, die ich oft besucht habe. Er lud Poet:innen und Schriftsteller:innen aus der ganzen Welt zu Lesungen ein, liess diese aber nicht übersetzen. Jede und jeder las in seiner Sprache. Das ist ein gutes Beispiel für Mondialité im Sinne von Toleranz.

Wir können auch Sprachen zuhören, die wir nicht verstehen. Wir sind sogar dazu aufgefordert.

In England beispielsweise kam es in den letzten Jahren immer wieder vor, dass Menschen zusammengeschlagen wurden, einfach weil sie in einem Bus eine andere Sprache, beispielsweise Mandarin, sprachen.

Er fordert uns auf, das Fremde so zu akzeptieren, wie es ist?

Genau. Und das führt uns direkt zu Glissants Idee der Opazität, der Undurchschaubarkeit von Kulturen. Gemeint ist, dass wir die Undurchschaubarkeit des anderen akzeptieren sollen, dass wir akzeptieren, dass wir jemanden eben nicht verstehen. Das ist das Gegenteil der humanistischen Idee von Universalismus, die darauf abzielt, dass die Welt in ihrer Gesamtheit verständlich sei. Oder anders gesagt: Wenn wir jemanden ganz verstehen wollen, reduzieren wir ihn auf das, was wir an ihm verstehen. Dabei verstehen wir uns selbst ja oft gar nicht so genau.

Glissant schrieb diese Dinge vor der Entstehung von Social Media. Wie hätte er auf die Bubble-Bildung reagiert?

Es ist immer schwierig, retrospektiv etwas zu sagen. Mich fragen auch immer wieder Leute, was der Künstler XY mit künstlicher Intelligenz machen würde oder was Andy Warhol mit Social Media gemacht hätte. Diese Fragen sind nie wirklich zu beantworten. Aber was man sagen kann, ist, dass Glissants Methode, wie ich sie anwende, eine sehr nützliche Methode im Umgang mit Social Media ist. Auf meinem Instagram-Account verfolgen wir seit zwölf Jahren ein Projekt, in dem wir ausschliesslich von Hand geschriebene Sätze veröffentlichen. Das ist für mich eine Anwendung von Glissants Methode.

Inwiefern?

Als Instagram aufkam, habe ich mich gefragt, wie man damit ein Mondialité-Projekt machen könnte, als Reaktion auf eine alles gleichschaltende Globalisierung. Ich habe mich gefragt: Was müssen wir verteidigen und bewahren?

Die Globalisierung zerstört ja durch ihre permanente Wachstums-Obsession nicht nur die natürlichen Ressourcen, sondern auch kulturelle Phänomene, wie Sprachen oder eben Handschriften.

Letztendlich war es Umberto Eco, der mich auf die Spur mit der Handschrift geführt hat. Wir zelebrieren in diesem Instagram-Projekt die Handschrift und treten damit gleichzeitig in globalen Austausch. Mittlerweile hat der Account 378’000 Follower (https://www.instagram.com/hansulrichobrist/). Diese Vorgehensweise entspricht ziemlich genau Glissants Methode von Mondialité.

Glissant hat auch geschrieben: «Es gibt einen unverrückbaren Ort, von dem aus das literarische Werk spricht.» Heute hat man gerade in der Kunstwelt den Eindruck totaler Entortung. Alles ist überall verfügbar wie Klamotten von Zara. Welche Rolle spielt für Sie denn die Verortung.

Eine superinteressante Frage. Einerseits versuche ich darauf zu reagieren, in dem ich Ausstellungen mache, die sich überall lokal verankern können. Beispielsweise das Projekt «Do it», das in über 170 Städten stattgefunden hat. Die Ausstellung ist sowohl lokal wie global. Wer immer vor Ort mitmacht, wird Teil eines stets wachsenden Archivs. Etwas Ähnliches versuchen wir derzeit mit der Ausstellung «Videospiele und Kunst im digitalen Zeitalter» im Centre Pompidou in Metz. Auch da haben wir die Glissant-Methode angewandt. Wir zeigen ein globales Phänomen, schauen uns aber gleichzeitig die Szene vor Ort und in Frankreich an und laden diese Künstler ein.

Ich verstehe die Frage der Verortung nochmals anders. Der Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier hat geschrieben, man müsse zuerst Provinzler sein, um Weltbürger werden zu können. Was meint, dass die Kunst einen konkreten Ort braucht.

Ich glaube, diese «Provinz» kann vieles sein: eine Stadt, ein Berg, eine Landschaft. Es muss auch nicht unbedingt der Geburtsort sein, oder die Muttersprache. Es kann auch ein Ort sein, den man wählt. Es geht bei der Frage der Verortung also nicht um den Heimatort oder den Ort, wo man aufgewachsen ist. In meinem Falle wären das Bülach und Weinfelden. Aber wenn ich denke, dann denke ich immer wieder von Sils Maria im Engadin aus. Ich war dort oft mit meinen Eltern und viele meiner Ausstellungsideen sind dort entstanden.

Und welches Gewicht hat denn Glissant dem Lokalen gegeben?

Ich glaube, er ist extrem wichtig, um das Lokale zu denken. Wie können wir lokal sein, ohne lokalistisch oder nationalistisch zu sein? Glissant hat ein Rezept dafür: Es sei wichtig, in einem Land, einem Ort verwurzelt zu sein. Aber nur so weit, dass diese Verwurzelung nicht zu einem Ausschluss des anderen, zu einer Negierung und Vernichtung des anderen führt. Und schon gar nicht zu einer Hierarchisierung, indem wir sagen: Meine Wurzeln oder meine Kultur sind wichtiger als diejenige eines anderen. Glissant sagt, wir müssen Wurzeln kultivieren, die sich gegenseitig berühren, sich andersartig, rhizomartig ausbreiten. In diesem Sinne glaube ich,

Glissant ist ein Gegenmittel zum Nationalismus und zur neoliberalen, homogenisierenden Globalisierung.

Nun haben aber viele Menschen Angst davor, ihre Wurzeln in der Begegnung mit anderen zu verlieren. Hat Glissant ein Rezept gegen diese Angst?

Glissant zeigt uns, wie wir im Austausch mit dem anderen etwas gewinnen können. Deshalb ist die Lektüre von Glissant die beste Medizin gegen die Angst vor dem anderen.

Darum nehmen Sie diese täglich?

Genau! Darum bin ich auch auf einer Mission. Ich hatte das Glück, Glissant jahrelang als eine Art Mentor zu haben. Nun möchte ich diese Erfahrung weitergeben, indem ich mich dafür einsetze, dass sein Werk übersetzt wird, – es gibt viel zu wenig in Deutsch – oder ich mache Ausstellungen wie diese hier in Zürich. Ich tue dies, weil ich glaube, dass Glissants Denken weltverändernd sein kann. Gerade weil es nicht nur Theorie ist, sondern Poesie – und Poesie macht empathisch.


Hans-Ulrich Obrist Archiv 
1. Kapitel: Édouard Glissant
09.06.2023–17.09.2023
Luma Westbau, Zürich