Essen und Klima
Das klimagerechte Essen wächst vor der Haustüre
Dominik Flammer findet neue Ernährungsformen toll, daraus entstehende Dogmen aber nicht. Der renommierte Food-Historiker über die Vegan-Pioniere auf dem Monte Verità, die «Thurgauer Mostleber» und den Unterschied zwischen Bio und Öko.
Basel, 28.03.2022
David Sieber: Ein alter Sinnspruch lautet: Das Essen kommt vor der Moral. Heute hat man den Eindruck, es ist eher umgekehrt. Warum?
Dominik Flammer: Essen war schon immer der grösste moralische Standard. Das zeigen solche Sätze: «Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.», «Erst wird das alte Brot aufgegessen, bevor es neues gibt.» Man hat zudem immer den moralischen Konsens gesucht. Aber meist in Abgrenzung zu anderen: nationale Grenzen, gesellschaftliche Schichten, Glaubensgemeinschaften.
Essen, um dazuzugehören, also?
Ja. Der Unterschied zu heute ist: Noch nie konnte man so gut essen. Noch nie war die Auswahl so gross. Ebenso die Vielfalt an Ernährungsformen und damit die moralischen Standards. Das ist ganz klar ein Wohlstandsmerkmal. Die erste vegetarische Bewegung unseres Landes entstand übrigens nicht zufällig im Schweizer Bürgertum – vor über hundert Jahren.
Dominik Flammer ist Journalist und macht sich seit vielen Jahren um die lokale Küche verdient. Man könnte ihn auch Food-Historiker oder Food-Hunter nennen, jedenfalls hat er es sich zur Aufgabe gemacht, noch in die hinterste Ecke der Schweiz zu reisen, um vergessene Produkte zu entdecken, zu propagieren und mit neuen Produkten zu kombinieren. Er schreibt Bücher (z.B. «Das kulinarische Erbe der Alpen», für das er sieben Jahre durch die Alpen reiste, um nach vergessenen Lebensmitteln, Nutztierrassen, Rezepttraditionen sowie Obst- und Gemüsesorten zu forschen) und schuf in Stans das Culinarium Alpinum, ein Kompetenzzentrum für alpine Kulinarik. Er betreibt in Zürich die Agentur Public History.
Na ja, das ist ja nicht nur schlecht.
Natürlich nicht. Aber das muss man sich erst mal leisten können. Wer froh ist, überhaupt genug zu essen zu haben, macht aus dem Essen keine Glaubensfrage. Es ist eben paradox: Erst mit der Vielfalt ist Verzicht möglich. Je mehr wir haben, desto mehr Diätformen gibt es und desto mehr zerfällt der moralische Konsens.
Das sieht man ja in den Auslagen unserer Supermärkte sehr genau. Da gibt es alles, von Billiglinien, über Slow- und Gourmetfood bis hin zu veganen Produkten, die ein gutes Karma versprechen.
Genau. Es geht aber noch weiter. In den einzelnen Kategorien ist die Vielfalt dann auch noch schier endlos. Als Omnivor habe ich die Auswahl zwischen 20 Rindfleisch- und 37 Wurstsorten. Als Vegetarier finde ich ein Dutzend Tomaten- und zehn verschiedene Kartoffelsorten, als Veganer habe ich die Wahl zwischen Mandel-, Hafer, Kokos- und Hybridmilch. Ich muss sagen, mich freut das. Auch wenn hinter gewissen Diätformen eine gewisse Militanz steckt, die auf Abwehr stösst, hat diese Entwicklung doch etwas gebracht: Wir beschäftigen uns mit unserem Essen.
Essen als Lebensinhalt ist aber auch etwas wenig.
Den Vegetariern auf dem Monte Verità ob Ascona, deren Kinder wie Zirkusattraktionen fotografiert worden waren, verdanken wir es, dass wir Gemüse überhaupt als Nahrung akzeptiert haben; darüber nachzudenken begannen, was Gemüse eigentlich ist. Etymologisch kommt das Wort Gemüse von Mus. Man hat Gemüse nicht als Speise wahrgenommen. Das ist nachvollziehbar, brauchten die hart arbeitenden Menschen, meist in der Landwirtschaft tätig, doch noch im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu 7000 Kalorien täglich.
Gemüse fand seinen Weg aus dem Bauerngarten, wo es vor allem Kraut und Rüben und Hülsenfrüchte gab, in den gewerblichen Anbau erst Anfang des 20. Jahrhunderts.
Und dennoch gibt es immer noch Beizen, bei denen der vegetarische Teller einfach aus wässrigem Gemüse und Sättigungsbeilage minus das Fleisch besteht.
Aber nur noch selten. Es stimmt, es dauerte über hundert Jahre, bis Gemüse die gebührende Aufmerksamkeit fand. Heute bekommt man fast überall tolle Salate mit frischen Produkten, also nicht mit Zeugs aus der Büchse oder so. Parallel zu den vegetarischen Pionieren gab es damals eine Abstinenzlerbewegung, die nicht nur gesundheitspolitisch viel brachte, sondern auch Produkte hervorbrachte, die heute nicht mehr wegzudenken sind. So gäbe es ohne sie keinen Süssmost…
…das liegt wohl auch daran, dass Louis Pasteur ein Konservierungsverfahren entwickelt hat, das ohne Alkohol auskommt…
Selbstverständlich. Dazu kommt Hermann Müller-Thurgau, ein Rebexperte, der die gleichnamige Traube gezüchtet hat (auch bekannt als Riesling x Sylvaner). Er hat basierend auf dem Pasteurisierungsverfahren alkoholfreie Obstsäfte entwickelt. Es gab in der Schweiz drei bis vier solche Antialkoholbewegungen, die ziemlich militant waren…
…es wurde ja auch gesoffen wie blöd…
Ja, Härdöpfeler gab’s schon vor dem Melken um 4 Uhr früh. Andere tranken nur sauren Most; bis zu 15 Liter am Tag. Mein Vater war Arzt im Thurgau. Der hatte noch bis in die Achtzigerjahre Patienten mit Leberzirrhose, die Zeit ihres Lebens kaum je etwas anderes getrunken hatten. Es gab den Befund «Thurgauer Mostleber».
Das klingt eher wie ein Gericht.
Jedenfalls sind solche Bewegungen ursächlich dafür verantwortlich, dass wir die heutige Vielfalt an Gemüsen, Salaten und Fruchtsäften haben. Nur eines ging in dieser Zeit verloren, zumindest in der Schweiz: die Hülsenfrüchte. Im 18. Jahrhundert lag der Pro-Kopf-Verbrauch noch bei 30 Kilo im Jahr; heute liegt er bei 300 Gramm.
Das ändert sich aber gerade.
Ja, weil es eine vegetarische/vegane Bewegung gibt, welche die eiweissreichen Hülsenfrüchte für sich entdeckt hat. Es gibt unendlich viele Zubereitungsarten. Ein Blick in den asiatischen Raum lohnt sich da. Selbst die Spitzenküche macht solche Bewegungen mit. Heute ist die Gemüseküche Ausdruck höchsten Könnens. Fleisch zubereiten kann jeder, dafür hat alleine schon die Küchentechnik gesorgt. Aber Gemüse, das ist die Kür! Ich hatte kürzlich mit einem Rohköstler zu tun. Der fermentiert zum Beispiel Randen, weil er ja nichts kocht. Sensationell im Geschmack! Oder er stellt sortenreine Traubenkernöle her, damit er eine Auswahl bei den Fetten hat. Unglaublich!
Das kulinarische Erbe der Alpen erhält mit dem Culinarium Alpinum eine Heimat. Dominik Flammer ist dessen Initiator. Die Idee dafür fusst auf seinem Buch «Das kulinarische Erbe der Alpen». Im ehemaligen Kapuzinerkloster in Stans im Kanton Nidwalden dreht sich alles um die enorme Vielfalt des Alpenraums. Kochkünstler und Schnapsbrennerinnen, Bäuerinnen und Metzger, Sommeliers und Verkosterinnen, Käseprofis und Bäckermeisterinnen kommen hier zusammen, um gemeinsam die Zukunft des kulinarischen Kulturraums zu gestalten. Mit Kursen und Seminaren, Produkten und Rezepten und mit einer Gastronomie, die das kulinarische Erbe der Alpen in all seinen Facetten lebt.
Werden Sie schon bald auf Fleisch verzichten?
Nein. Ich bin einfach sehr interessiert an all diesen Diäten, weil sich neue Welten in Sachen Geschmack, Zubereitung und Herstellung öffnen. Ich mag die Kombination von allem Möglichen. Was mich aber dann sehr stört, ist die Abgrenzung, das Abwerten der anderen. Nur weil jemand gerne Bratwurst hat, macht ihn das nicht zu einem schlechteren Menschen.
Umgekehrt ist auch nicht automatisch erleuchtet, wer ein Bio-Rüebli vorzieht.
Die Moralisierung ist eigentlich eine Skandalisierung. Die Soziologin Eva Barlösius hat das sehr gut beschrieben. Ihr Buch «Soziologie des Essens» ist zwar schwere Kost, aber sehr erhellend. Sie nennt BSE als Beispiel. Jener Skandal führt zu einem eigentlich Rindfleischmoratorium, das viele Jahre anhielt. Dazu werden zunehmend wissenschaftliche, nur zu oft pseudowissenschaftliche Erkenntnisse angeführt, um ein Nahrungsmittel-Dogma zu begründen. Zum Beispiel der Klimawandel: Kühe furzen, Methan gelangt in die Umwelt, die Temperatur steigt. Das ist zwar korrekt, aber auch extrem verkürzt. Es ist ein Unterschied, ob man in der Schweiz Rinder auf Flächen hält, die anders gar nicht bewirtschaftet werden können, oder in Brasilien und Argentinien riesige Rinderfarmen betreibt, für die man Urwald rodet und Landschaften verwüstet, nur damit wir günstiges Rindfleisch einkaufen können. Natürlich kostet ein Bio-Huhn gut 30 Franken, also dreimal so viel wie ein konventionelles Poulet. Aber dann leistet man sich das eben nur einmal im Monat.
Nicht immer ging es aber ums Tierwohl. Die erste in der Schweiz ergriffene (und angenommene) Volksinitiative forderte 1893 die Einführung eines Schächtverbots und zielte gegen die Juden.
Genau. Heute hat das Moralisieren nicht mehr diese Dimension, es geht mehr um die Abgrenzung gegenüber der älteren Generation.
Ist man wenigstens dann ein besserer Mensch, wenn man bio isst?
Man kann so keinen Ablasshandel betreiben, also nein. Bio ist ein Mindeststandard. Wenn Bioprodukte um den halben Erdball gekarrt werden, wie das heute üblich ist, dann ist das vielleicht Bio, aber sicher nicht Öko. Jetzt werde ich moralisch: Wenn wir etwas fürs Klima und für die Landwirtschaft tun wollen, dann müssen wir auf regionale Produkte setzen, uns mit der Exotik vor der eigenen Haustür beschäftigen. Die ist nämlich grandios. 1500 Apfelsorten, 35 Rinderrassen und, und und. Aber, und da bin ich dann ganz Genussmensch, ich mag zwischendurch auch eine Mango, die halt nicht in der Schweiz wächst.
Was ich nicht brauche, sind Äpfel aus Südafrika und Trauben aus Chile. Unsere Landwirtschaft sollte noch viel diverser sein. Es bringt ja nichts, hochsubventioniert Käse für den internationalen Markt herzustellen. Ich erwarte, dass sie mit spannenden, wohlschmeckenden Produkten auf dem heimischen Markt aktiv ist.
So redet jemand, der sich das eben leisten kann, und es als seine moralische Pflicht ansieht, sich das auch zu leisten. Was aber ist mit jenen, die weniger gut situiert sind?
Eine durchschnittliche Familie in der Schweiz gibt für Fahrzeugflüssigkeiten mehr aus als für die menschliche Ernährung. Wie absurd ist das denn?
Wie kreiert man mit Berberitzen und Birnenhonig einen würzigen Braten mit der Keule eines Toggenburger Zickleins? Und wie schmeckt ein steirischer Braterdäpflsalat mit Käferbohnen? Welche Kräuter harmonieren am besten mit dem Sisteron-Lamm, und was für Wildblüten eignen sich als Würze für rohe Felchen oder Renken? Traditionelle Produkte und ihre Produzenten erzählen von der Ernährungsgeschichte des Alpenraums. In zehn Kapiteln erzählt «Das kulinarische Erbe der Alpen» von der Vielseitigkeit der Ernährung im Alpenraum, von den Einflüssen der wandernden Hirten und dem globalisierten Handel der Neuzeit und vom Wandel in der Ernährungskultur in Zeiten der Not. Und von traditionellen Produkten, Produktionstechniken und ihren Produzenten. Ergänzt wird das Buch durch ein umfangreiches Verzeichnis der alpinen Delikatessraritäten und ein Register mit allen Produzenten und Bezugsadressen.
Wird Ihnen eigentlich nicht schlecht, wenn sie von veganen Eiern hören, von hochprozessierten Fleischersatzerzeugnissen und anderen Gruseltaten der Nahrungsmittelindustrie, die den Veganismustrend bedienen?
Nicht mehr als bei anderen verarbeiteten Produkten jedenfalls. Was ist denn der Unterschied zu einer Fertigpizza oder Ravioli in der Dose oder Billigwürsten, die zu 80 Prozent aus Wasser und Bindemitteln bestehen können? Wer vegetarische oder vegane Ernährung nur als Verzicht auf Fleisch oder tierische Produkte versteht und sich keine Gedanken zur Nachhaltigkeit macht, der schadet der Landwirtschaft und dem Klima noch viel mehr. Dem ist es nämlich egal, aus südamerikanischen Erbsen hergestellte plantbased Hamburger und Ähnliches zu essen. Regionalität ist das Schlüsselwort!
Das ist schon ein wenig naiv, vor allem, weil die Leute doch aufs Geld schauen und auch bequem sind.
Ich sehe mich als Prediger für Besseresser. Ich habe mit meiner Arbeit keine Chance, gegen den Grosshandel und die Industrie anzukämpfen. Ich kann die Leute nur genussvoll aufklären und ihnen beibringen, wie man den eigenen Geschmack schulen und dabei Spass haben kann. Das heisst aber nicht, dass das teurer ist. Ganz und gar nicht. Wenn ich auf dem Markt gutes Gemüse einkaufe, hält das viel länger, ich habe weniger Rüstabfälle und weniger Nahrungsmittelverschwendung. Wenn man sich vorstellt, dass 51 Prozent des gebackenen Brotes im Müll landen. 51 Prozent! Da kann man Geld sparen!
Auch im Trend: Gesund muss es sein.
Und wie. Schauen Sie sich mal heutige Manager an, gertenschlank, sehen aus wie Marathonläufer. Früher hatte ein Direktor Bauch und zum Zmittag ein Glas Wein und danach eine Zigarre. Schlanksein wird mit leistungsfähig gleichgesetzt, ein neues Dogma.
Es ist der Sieg der Marktwirtschaft gegen jede mögliche Alternative.
Die asiatische Küche ist gross im Kommen – und da eben vor allem, weil sie stark vegetarisch ausgeprägt ist.
Ich war kürzlich in einem indonesischen Restaurant in Zürich. Habe gegessen, was ich auch in Indonesien oft bestellt habe. Hier aber in der veganen Variante. Acht von zehn Produkten waren Ersatzprodukte. Tofu und Seitan sind ja noch nachvollziehbar, aber plantbased Schweine- und Hühnerfleisch? Wieso? Weil die Industrie auch in diesem Bereich das grosse Geschäft macht. Sie kauft weltweit Erbsen, Getreide und anderes ein, zerlegt es in die Einzelteile, setzt es neu zusammen und erhöht bei jedem Schritt die Margen. Genau gleich wie im konventionellen Bereich.
Ist es eigentlich kulturelle Aneignung, wenn wir hier in den Asienshop oder ins Kurdenlädeli gehen?
Aber nein. Das ist doch wunderbar, wenn man sich inspirieren lassen kann. Das machen die Migranten ja auch. Früher blieben die Italiener unter sich und die Türken auch. Heute findet man beim Kurden sämtliches italienisches Gemüse. Ich finde es schön, wenn Grenzen überwunden werden, wenigstens in der Kulinarik.
Sollte der Staat Einfluss nehmen auf unser Essverhalten? Es gibt ja so Ideen, Fettsteuer zum Beispiel.
Essen ist Privatsache. Über das Essen definiert sich der Mensch. Es graut mir vor einer Schweiz, in der man bei der Wohnungsmiete dereinst angeben muss, welchen BMI man hat und ob man auch Vegetarier oder sonst was ist.