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Nach zwei Jahren Co-Leitung mit der langjährigen BuchBasel-Chefin Katrin Eckert hat Marion Regenscheit 2022 die Führung übernommen.

Foto: Ayse Yavas

Interview mit Marion Regenscheit

«Ich möchte, dass wir den Literaturbegriff weniger hoch hängen.»

Die neue Leiterin der Buch Basel, Marion Regenscheit mag Literatur in der Peripherie. Auch eine Performance oder ein Computerspiel können eine literarische Kraft haben, findet sie. Wie diese Haltung das Programm des diesjährigen Literaturfestivals prägt, und warum das Team auf Community-Building setzt, erzählt sie im Interview.

Von Helena Krauser & Mathias Balzer

Basel, 04.11.2022

10 min

FRIDA Magazin: Frau Regenscheit, Sie sind Vielleserin. Wie viele Bücher sind das im Jahr?

Marion Regenscheit: Mindestens 52 Bücher. On top gibt es dazu noch kleinere Lektüren, Bücher, die ich nur anlese. Ich versuche jedoch pro Woche mindestens ein Buch zu lesen.

Und wie wählen Sie die Bücher aus? Es erscheinen ja nur schon in der Deutschschweiz 3500 pro Jahr.

Wichtige Informationen erhalten wir als Veranstalter:innen an den Buchmessen, wie etwa derjenigen in Leipzig oder in Frankfurt. Dort bekommen wir Einblicke in die Verlagsprogramme und wissen dadurch schon heute, welche Bücher im Frühjahr erscheinen werden. Daraus entsteht eine erste Liste an Lesestoff. Mein Studium in Neuer Deutscher Literatur und die viele Leseerfahrung ermöglichen es mir, in einem nächsten Schritt des Auswahlprozesses intuitiv zu handeln. Das ist dann auch nicht gross anders, wie bei Tinder: Interessiert mich, interessiert mich nicht… Danach bestelle ich Vorabdrucke oder sogenannte Fahnen und beginne mit Lesen.

Das heisst, Sie lesen eigentlich nur Neuerscheinungen?

Ja, fast ausschliesslich. Was eigentlich auch etwas schade ist …

Was muss ein gutes Buch, gute Literatur leisten?

Da gibt es eine private Antwort und diejenige der Festivalleiterin und Literaturwissenschaftlerin. Die beiden sind sich nicht immer einig.

Erst die private Antwort

Im Grunde mag ich klassisch aufgebaute Geschichten mit Anfang, Mitte und Schluss.

Privat bin ich stets auf der Suche nach demjenigen Lesererlebnis, das ich als Jugendliche gehabt habe, als ich total in Bücher eintauchen konnte. Das war damals beispielsweise Michael Endes «Momo» oder Wolfgang Holbeins «Dreizehn».

Dieses totale Abtauchen in eine fiktionale Welt – dieses Erlebnis suche ich noch heute.

Und finden Sie es auch?

Leider sehr selten.

Liegt das an der Literatur oder daran, dass Sie so viel lesen?

(Überlegt) Ich weiss es gar nicht genau. Vielleicht stumpft man mit der Zeit ab – oder die Ansprüche werden immer grösser. Der Antrieb bleibt jedoch: Ich suche solche Leseerlebnisse immer wieder.

Und was muss ein Buch aus Sicht der Literaturveranstalterin leisten?

Da faszinieren mich Bücher, bei denen Inhalt und Form schlüssig ineinandergreifen – und ich suche immer nach überraschenden Brüchen. Ich mag es sehr, wenn es irgendwo in der Geschichte eine unerwartete Wendung gibt, formal oder inhaltlich, die vielleicht vom Autor selbst gar nicht so geplant war. Wenn sich beispielsweise Figuren selbstständig machen oder der Inhalt plötzlich ganz neue stilistische Elemente einfordert.

Ich mag es, wenn meine Lesegewohnheiten erschüttert werden.

Die Schweizer Literatur scheint immer noch unter einem Frisch-/Dürrenmatt-Komplex zu leiden: Vor allem von den Medien wird von Autor:innen politisches Engagement eingefordert. Muss, soll Literatur politisch sein?

Für die private Leserin Marion Regenscheit überhaupt nicht, da habe ich diesen Anspruch nicht. Als Festivalorganisatorin begrüsse ich es natürlich auch, wenn Autor:innen politische Positionen einnehmen, die wir wiederum am Festival verhandeln können.

Zurzeit sind gerade sehr viele politische Themen dringlich und wichtig. Wie entscheiden Sie darüber, welche Themen am Festival vorkommen? Das Klimathema beispielsweise fehlt in dieser Ausgabe.

Wir bestimmen jeweils ein Fokusthema. Das war im letzten Jahr das Klima. Natürlich wäre das auch dieses Jahr noch relevant. Aber wir wollten uns nicht wiederholen. Zudem ist es in Zeiten, in denen Krise auf Krise folgt, gar nicht so einfach, eine Wahl zu treffen. Ich bin in Gesprächen mit Katrin Eckert und Annina Niederberger vom Literaturhaus Basel auf das Thema Entgrenzen gestossen.

Was ist denn genau damit gemeint?

Begrenzung und Entgrenzung sind vielgestaltige Prozesse. Bei Covid wurden Grenzen unfreiwillig geschlossen, bei der Frontex-Abstimmung hat die Schweiz freiwillig für Grenzschutz plädiert, für Flüchtlinge aus der Ukraine öffnen wir Grenzen, während wir sie für viele andere Flüchtende schliessen. Bei Abtreibungsverboten wird die Grenze der körperlichen Autonomie überschritten. Gleichzeitig kann Literatur Grenzen überwinden, formal Grenzen sprengen, neue Wege ins Digitale suchen. Diese Vielgestaltigkeit des Begriffs hat uns interessiert.

Gibt es für Sie innerhalb der Literatur formale oder inhaltliche Grenzen, die nicht überschritten werden sollten?

Es gibt Menschen, die «Literatur» ganz klar eingrenzen, inhaltlich und formal. Ich finde, das hat auch seine Berechtigung. Ich selbst mag periphere Literatur, das Experiment.

Unter Umständen kann eine Performance dieselbe literarische Kraft entwickeln wie ein Text. Ich bin auch hier für Entgrenzung.

Wir könnten beispielsweise noch mehr Dramen-Texte oder experimentelle Literatur am Festival haben. Aber für solche Entwicklungen muss man auch die richtige Balance zwischen klassischen und neuen Formen finden.

Ein anderes Schwerpunktthema ist das Digitale. Wie verstehen Sie das genau?

Am wenigsten geht es darum, dass wir Texte auch digital lesen, auf dem Tablet oder Handy. Es geht vielmehr um Literatur, die speziell für den digitalen Raum geschaffen wurde, oder Funktionen nutzt, die nur dort existieren. Beispielsweise: Gleichzeitig im Kollektiv an einer Story schreiben. Oder: Die Narrative von Computerspielen mit literarischen Mitteln entwickeln. Oder: Gedichte, die erst lesbar werden, wenn ich sie auf bestimmte Weise digital animiere.

Computerspiele als Literatur?

Ja, genau. Wir werden die nächsten Jahre mit einem durchgehenden Schwerpunkt untersuchen, was digitale Literatur ist, was sie kann, welches Potenzial digitale Publikation haben kann.

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Wettbewerb

 

Wir verlosen 3 x 2 Festivalpässe für die diesjährige

Buch Basel.

Es gilt First come, first served.

Schreib uns eine E-Mail an redaktion@frida.magazin.ch

Die ersten drei Absender:innen erhalten je zwei Festivalpässe.

Dieses digitale Programm ist langfristig angelegt, finanziert mit Transformationsgeldern von Kanton und Bund. Interessanterweise widmet sich gerade die Buch Basel dem Digitalen. Ist das eine Reaktion auf die seit Jahren abnehmenden Buchverkäufe, den Leser:innen-Schwund?

Am Grundbedürfnis, sich hinzusetzen und lesen zu wollen, wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Auch in Zukunft werden die Menschen nicht ohne Lektüre in die Ferien fahren. Es geht bei diesen digitalen Formaten eher darum, dass es neue Formen der Literatur gibt, die noch kein Zuhause gefunden haben. Buch Basel könnte ihr neues Zuhause sein. Wir gründen ein Forum für digitale Literatur und Vermittlung. Während des Festivals wird es Veranstaltungen, Workshops und Lesungen geben, die sich ganz dem Genre der digitalen Literatur widmen.

Zum Beispiel?

Wir starten bereits dieses Jahr mit ersten Veranstaltungen, die unter dem Reihentitel «Potenzial digital» zusammengefasst werden. Dazu gehört ein Virtual-Reality-Kino, dessen Besuch bewusst gratis ist.

Klaus Merz, einer der wichtigsten Schweizer Poeten der älteren Generation, «liest» im virtuellen Raum.

So kommen literarische Tradition und das Digitale zusammen.

Zielen solche Programme vor allem darauf, den Altersdurchschnitt des Festivals zu senken?

Natürlich komme ich aus einer Generation, der das Thema Digitalität näher ist, und natürlich hoffen wir, dass sich auch ein junges Publikum dafür interessiert. Andersherum: Es gibt schon seit Mitte der Neunzigerjahre Experimente mit digitaler Literatur. Vielleicht ist das Thema auch eher nerdig, als per se jung …

Die letzten beiden Jahre war das Festival gezwungenermassen fast nur digital erfahrbar. Nun verzichten Sie vollends auf Streamings. Warum?

Das Bedürfnis war klein. Letztes Jahr haben insgesamt 300 Personen die Streamings besucht. Im Vergleich zu rund 6000 realen Festivalbesucher:innen ist das eher bescheiden.

Wir haben noch ein anderes Thema aus dem Programm des diesjährigen Festivals herausgelesen: Mit Mohamed Amjahids, Kim de l’Horizon oder Laurie Penny sind Themen wie Körperpolitik und Gender prominent gesetzt. Liegt das Thema einfach in der Luft?

Es liegt in den Büchern (und natürlich auch in der Luft). Und obwohl dieses Abzählen im Grunde ja seltsam ist: Wir haben viele Frauen und viele Männer am Festival – und auch viele non-binäre Menschen. Das liegt, wie gesagt, aber schlicht und einfach an den guten Büchern, die zum Thema geschrieben wurden.

Kim de l’Horizon hat den Deutschen Buchpreis nicht erhalten, weil Kim de l’Horizon non-binär ist, sondern weil «Blutbuch» schlichtweg ein sehr gutes Buch ist.

Was halten denn Sie von der hitzig geführten Diskussion, ob sich Non-Binarität auch in neuen Sprachformen – mit neuen, oder gar ohne Pronomen – niederschlagen soll?

Ich sehe das sehr positiv. Die Sprachwissenschaft zeigt, dass sich Sprache immer wandelt, um gesellschaftliche Veränderungen zu spiegeln. Da staune ich schon darüber, wie intensiv über ein Sternchen oder einen Doppelpunkt diskutiert wird. Solche Veränderungen tun doch niemandem weh. Wir können das Sternchen doch ebenso einfach setzen, wie wir Kommas setzen. Und es ist auch nicht so schwierig, Pronomen wegzulassen. Es braucht nur ein bisschen Übung, um aus alten Gewohnheiten herauszukommen. Wenn eine Ansprache ohne Pronomen die Form ist, mit der Menschen angesprochen werden wollen, dann bemühe ich mich selbstverständlich darum, keine Pronomen zu verwenden, damit wir uns im Gespräch beide wohlfühlen.

Sprache hat Wirkung, und es liegt an mir, dass ich durch meine Rede niemanden verletze.

Ich glaube, mit der Zeit werden diese Formen selbstverständlich.

Sprachentwicklung ist das eine. Wie soll sich denn die Buch Basel in den nächsten zehn Jahren entwickeln?

Die Buch Basel war zuerst eine Messe mit einem kuratierten Veranstaltungsteil. Überlebt hat der Veranstaltungsteil und dieser hat sich in den vergangenen zehn Jahren zum, wie ich finde, besten Literaturfestival der Schweiz entwickelt. Ich möchte die internationale Relevanz des Festivals erhöhen und die «Marke» Buch Basel weiter stärken. Aber das Grundkonzept funktioniert und kommt gut an. Das haben auch meine Recherche-Gespräche mit unterschiedlichsten Personen vor der Leitungsübernahme Anfang des Jahres gezeigt.

Die neue Leiterin der Buch Basel sagt also, es bleibe alles gleich?

Mit dem Leitungswechsel findet auch ein Generationenwechsel statt. Und das wird sich, ohne dass ich das bewusst vorantreibe, an vielen Orten bemerkbar machen. Das Stammpublikum des Festivals war in den vergangenen Jahren 55 plus. Das ist nicht schlimm, aber ich finde das schade, weil ich mitbekomme, wie viele junge Menschen lesen, und wie viele junge Menschen beispielsweise als Helfer:innen an unserem Festival partizipieren möchten. Das ist schon mal eine beeindruckende, kleine Community, auf der ich aufbauen möchte.

Und wie möchten Sie diese neue, junge Community vergrössern?

Ich möchte, dass wir einen Umbruch finden, dass wir den Literaturbegriff weniger hoch hängen, dass wir Schwellenängste abbauen. Ich möchte, dass der Zugang zur Literatur viel, viel offener ist.

Mehr Donna Leon?

Niederschwelligkeit meint nicht, dass wir uns qualitativ anbiedern. Donna Leon gehört ebenso zum Programm wie die schwer verdauliche Lektüre von Senthuran Varatharajahs Buch zum Thema Kannibalismus oder eine Performance um Mitternacht.

Ich finde, die Unterscheidung zwischen sogenannt hoher und Unterhaltungsliteratur bringt uns nicht wirklich weiter.

Schliesslich ist jedes Leseerlebnis individuell. Aber wir als Festival möchten eine möglichst vielfältige, vielsprachige und offene Plattform sein, die von möglichst vielen Menschen gerne besucht wird. Dazu werden wir im kommenden Jahr auch eine Art Literatur-Community gründen, ein lockerer Pool von Menschen, die wir rund um die unterschiedlichsten Anlässe zum Thema Literatur zusammenbringen wollen. In diesem Sinne weiten wir unsere Vermittlungsarbeit über das ganze Jahr aus. Wir werden sehen, ob und wie das funktioniert.

Letzte Frage: Mit welchem Gefühl sollen die Menschen das Festival verlassen?

Zuerst hoffen wir, dass sie auch kommen. Der Kulturbetrieb hat sich von den zwei Jahren Pandemie noch nicht erholt. Wir wissen nicht, ob das Publikum zurückkommt. Oder ob es uns gelingt, durch unsere neuen Kommunikationskanäle und -mittel, unsere neue Sprache ein neues Publikum zu gewinnen. Richtig schön wäre aber so oder so, wenn sich alle beim Verlassen des Festivals bereits auf die nächste Ausgabe freuen.