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Die Politikwissenschaftlerin Emilia Roig ist im April in mehreren Schweizer Städten mit ihrem viel diskutierten Buch «Das Ende der Ehe» zu Gast.

Bild: zvg

Interview mit Emilia Roig

«Menschen wollen einem Skript folgen»

Die Autorin Emilia Roig fordert das Ende der Ehe. Im Interview mit FRIDA zeichnet sie eine neue Gesellschaft und erklärt, was eine Abschaffung für die Paarbeziehung, die Männlichkeit und die Geschlechterordnung bedeuten würde.

Von Tamara Funck

Basel, 13.04.2023

12 min

Frau Roig, Sie fordern in Ihrem Buch das Ende der Ehe, das Ende «einer obsoleten Institution, die die Ungleichheit und Unterdrückung der Frauen in unserer Gesellschaft produziert und aufrechterhält». Ist die Ehe nicht auch der Versuch eines Versprechens, das einem Sicherheit gibt? Brauchen die Leute das nicht, diese Sicherheit?

Wir sind eine Spezies, die Sicherheit braucht und die mit dem Unbekannten nicht gut umgehen kann. Das stimmt. Gleichzeitig ist die Ehe kein gutes Konzept dafür. Sicherheit gibt sie nur bedingt. Wenn man heiratet, kann man sich auch scheiden lassen. Inwiefern ist das eine Sicherheit?

Für Frauen, die weniger verdienen als ihre Männer zum Beispiel, ist die Ehe auf jeden Fall eine finanzielle Absicherung. Doch sollten wir deshalb die Ehe als Institution loben? Oder sie eher sehen, als das, was sie ist: eine Grundlage für finanzielle Unsicherheit. Warum brauchen Frauen die finanzielle Obhut ihrer Männer? Sie brauchen sie, weil es in der Gesellschaft Ungerechtigkeiten gibt, die es Frauen eben nicht ermöglicht, unabhängig von ihren Männern zu leben.

Sie waren selber verheiratet und beschreiben, dass Sie sich an Ihrem eigenen Hochzeitstag fühlten, als würden Sie einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Wie fühlte sich das an?

Das war ein Gefühl von: Ich mache alles richtig. Ich folge dem gesellschaftlichen Skript. Ich mache etwas, das sehr viele Menschen tun, und ich führe somit eine Tradition fort, die zur überlegenen Lebensform erhoben wurde.

Ist es immer noch ein Nachteil, wenn man als Frau nicht heiratet?

Es kommt darauf an. Wenn eine Frau mehr verdient als ihr Mann und zusätzlich die meiste Care-Arbeit leistet, sollte sie auf keinen Fall heiraten, weil sie am Ende doppelt benachteiligt ist, falls sie sich trennen. Aber wenn Frauen sich vorrangig um die Kinder kümmern und weniger verdienen als ihre Männer, wäre es ein Nachteil, nicht zu heiraten.

Sie argumentieren stark mit dem finanziellen Aspekt.

Ich argumentiere mit dem finanziellen Aspekt, aber alles hängt zusammen. Die Tatsache, dass Männer auf gesellschaftlicher Ebene und innerhalb von Beziehungen über die finanzielle Macht verfügen, heisst auch, dass sie grundsätzlich mehr Macht haben. Sie haben eine überlegene Position in der Gesellschaft zementiert, auf ganz, ganz vielen Ebenen: finanziell, politisch, emotional, kulturell. Wirklich in allen Sphären der Macht. Deshalb ist die emotionale Abhängigkeit – Eva Illouz hat sehr pointiert darüber geschrieben – eine Realität der Ehe.

Eine Frau lernt sich in Relation zu ihrem Mann zu definieren und leitet ihren gesellschaftlichen Status von ihrem Mann ab. Ein Mann tut das viel weniger, weil er das nicht braucht.

Die Ehe wurde und wird auch genutzt, um die Frauen zu kontrollieren, ihre Arbeitskraft zu vereinnahmen und die patriarchale Macht aufrechtzuerhalten. Wieso halten wir als Gesellschaft daran fest? Und was bedeutet eine Ehe heute für eine Frau? Was bedeutet sie heute für einen Mann?

Wir halten als Gesellschaft an der Ehe fest, weil sie als unerlässliche, unabdingbare Institution gesehen wird. Eine unveränderliche Institution, die nur Gutes bringt, nämlich: Fürsorge, Engagement, Liebe. Wir halten daran fest, weil es uns definiert, weil es uns ein Ziel gibt im Leben.

Wenn es keine Ehe geben würde, wären viele Menschen in ihren Beziehungen verloren, weil sie nicht wüssten, was ihr nächstes Ziel ist.

Sie müssten sich jeweils mit sich selbst und miteinander beschäftigen: Wie wollen wir zusammenleben? Was wollen wir erreichen als Paar? Wollen wir überhaupt Kinder haben? Wenn ja, wie? Das sind viele Fragen, die sich Menschen nicht stellen wollen. Sie wollen einfach einem vorgegebenen Skript folgen und Meilensteine abhaken, die von aussen gegeben sind. Das gibt ihnen Sicherheit und ein Gefühl von «ich mache alles richtig».

Die andere Ebene, warum wir an der Ehe festhalten, oder warum der Staat daran festhält, ist ganz einfach: Die Ehe erlaubt es, ein wirtschaftliches Wachstum zu erzielen, weil die Care-Arbeit in Familien umsonst geleistet wird. Wenn Frauen die Care-Arbeit innerhalb der Ehe nicht machen würden, müsste der Staat diese Care-Arbeit anders organisieren, und das wäre möglicherweise viel teurer. Aus diesem Grund gibt es auch Steuerbegünstigungen bei Ehepaaren. 

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Emilia Roig ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie unterrichtet an verschiedenen Universitäten und hält Keynotes und Vorträge zu Intersektionalität, Feminismus, Rassismus, Diskriminierung und hat den Bestseller «Why we matter. Das Ende der Unterdrückung» geschrieben.

Emilia Roig ist Ashoka Fellow und wurde 2022 zur «Most Influential Woman of the Year» des Impact of Diversity Award gewählt. «Das Ende der Ehe» erschien Ende März im Ullstein Buchverlag, Berlin.

 

Kommt das Bedürfnis zu heiraten eher von Männern oder Frauen?

Das Bedürfnis zu heiraten – das ist das perfide – kommt sehr oft von Frauen. Ein Diskurs in der Gesellschaft lautet «Frauen wollen nur eines, nämlich heiraten, und Männer sind in ihren Ehen gefangen, sie verlieren ihre Freiheit». Der Diskurs ist stark im Patriarchat verwurzelt und gibt uns das Gefühl, dass Ehen vor allem für Frauen gut sind. Wenn Frauen das unbedingt wollen, muss es gut sein für sie. Das hat sich aber verändert. Früher wollten Frauen heiraten, weil es ihre einzige Möglichkeit war, für sich zu sorgen. Sie durften in ganz vielen Berufen nicht arbeiten und führten ohne einen Mann ein sehr prekäres und marginales Leben.

Heute wollen Frauen heiraten, weil die Gesellschaft ihnen von klein auf vermittelt, dass sie ohne Mann nichts oder weniger wert sind. Noch weniger wert sind sie, wenn sie keine Kinder haben. Männer bekommen vermittelt, dass sie ab dem Moment der Heirat keine Freiheit mehr haben.

Die Ironie ist, Männer profitieren mehr von der Ehe als Frauen, weil sie im Rahmen der Ehe eine Person zu Hause haben, die überwiegend die Care-Arbeit leistet, während sie sich ausserhalb verwirklichen und ein Vermögen ansammeln, und somit an gesellschaftlichem Status gewinnen können. Klar, das ist nicht in allen Ehen der Fall, aber in der überwiegenden Mehrheit der Ehen.

Sie sagten, unsere Gesellschaft gibt uns zu verstehen, dass Frauen, die nicht heiraten und Kinder haben, weniger wert sind. Was würde denn das Ende der Ehe für Singles bedeuten?

Single ist man meist nicht sein ganzes Leben. Viele Menschen haben in ihrem Leben Phasen, in denen sie single sind. Wenn man in diesen Phasen ist, ist der Druck enorm, so schnell wie möglich eine Person zu finden und sich wieder zu paaren, weil dieser Status in der Gesellschaft ­­– und vor allem für Frauen – verpönt ist und negativ angesehen wird. Single-Frauen werden bemitleidet, Single-Männer werden eher als abenteuerlustig, unabhängig und autonom angesehen.

Das Ende der Ehe würde bedeuten, dass die monogame Beziehung nicht mehr das ultimative Lebensziel eines Menschen ist. Dass eben Phasen, in denen Menschen single sind, auch ausgelebt werden und ihren Wert haben. Sie sind manchmal nötig, um sich selbst, die eigenen Wünsche und Aspirationen besser kennenzulernen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Begriff der «toxischen Männlichkeit» irreführend ist, weil es keine Männlichkeit gibt, die nicht toxisch ist. Wie würde denn die Männlichkeit ohne Ehe aussehen? 

Die Grundlage der Männlichkeit ist die Unterlegenheit der Frauen. Ein richtiger Mann zu sein – und ich rede jetzt von der hegemonialen Männlichkeit – heisst eben, keine Frau zu sein, alles zu tun, um nicht als Frau wahrgenommen zu werden. Dazu gehört eine Reihe von Sprechakten und Verhaltensweisen, die diese Überlegenheit immer wieder etablieren und festigen.

Das Ende der Ehe als Institution würde auch bedeuten, dass wir Kategorien wie Frau und Mann komplett neu denken.

Wir würden nicht mehr automatisch von einer Komplementarität der beiden Geschlechter ausgehen. Männer könnten sich trennen, sich distanzieren von einer Form der Männlichkeit, die ihnen überhaupt keine Alternative gibt in ihrem Sein und in der Art und Weise, wie sie sich entfalten.

Dann würde mit dem Ende der Ehe die binäre Geschlechterordnung abgeschafft…?

Ja, das Ende der Ehe würde eine Abschaffung des binären Geschlechts mit sich ziehen, weil es das Ende des politischen Regimes der Heterosexualität bedeuten würde. Heterosexualität ist nicht nur eine physische Attraktion und eine sexuelle Orientierung, sondern sie ist ein politisches Regime. Dieses wird immer wieder verstärkt, als die natürlichste oder die einzig natürliche Form der Sexualität und der Liebe, indem die Sexualität an die Reproduktion gekoppelt wird. Es wäre für uns unvorstellbar, diese Kopplung aufzuheben.

Dabei gibt es viele Tierarten, deren sexuelle Praktiken wenig mit der Reproduktion zu tun haben. Auch bei uns Menschen dient der meiste Sex nicht der Reproduktion. Trotzdem wird die gesamte Gesellschaft in einer Art und Weise organisiert, die dieser Sexualität einen Rahmen gibt und sie in der Ehe normiert. Wenn die binäre Geschlechterordnung nicht mehr so eine prägnante Rolle spielen würde in unserer Gesellschaft, könnten wir die Reproduktion dezentrieren von unserem Miteinanderleben. Auf eine mit Vulva geborene Person wird projiziert, sie muss mit einer Person mit Penis zusammenleben, Kinder haben und dann ein ganzes Leben in der gleichen Wohnung wohnen. Das soll flexibilisiert werden.

Wieso lässt sich die Ehe nicht reformieren? Warum muss sie direkt abgeschafft werden?

Die Ehe ist die Grundlage des Patriarchats. Das war immer so und wird immer so bleiben. Und meine Gegenfrage ist: Warum nicht? Warum ist es so wichtig, dass wir an der Ehe festhalten? Die Antwort auf Ihre und meine Frage ist die gleiche. Die Institution der Ehe ist unantastbar, deshalb halten wir daran fest, und deshalb müssen wir sie abschaffen.

Was braucht es für Schritte, dass es zu dieser Abschaffung kommt?

Ein erster Schritt ist die Möglichkeit, überhaupt darüber zu diskutieren. Es gab über mein Buch viel Empörung von durchgehend männlichen Stimmen, die gekränkt sind, dass die Ehe – samt ihren Privilegien – kritisiert wird. Wir sind nicht bereit, das Patriarchat ehrlich zu betrachten und ehrlich darüber zu sprechen. Die Abschaffung der Ehe geht mit einer tiefen Infragestellung der Geschlechterverhältnisse einher. Wir sprechen zwar über Gender Pay Gap, über jegliche Materialisierung der Unterdrückung der Frauen auf gesellschaftlicher Ebene, aber nicht über die Unterdrückung in der Intimsphäre. Es kann nicht sein, dass überall in der Gesellschaft, in allen Sphären der Gesellschaft Sexismus stattfindet – aber ab dem Moment, wo wir zu Hause sind, verschwindet er. Ich bin mit meinem Buch einen ersten Schritt gegangen, und hoffe, dass es weitergeht.

Was ist Ihr Gegenvorschlag zur Ehe?

Mein Vorschlag ist eine Erweiterung, ein Durchbrechen der Hierarchie von menschlichen Beziehungen.

Die Ehe ist die Hierarchisierung der menschlichen Beziehungen, mit der heterosexuellen Ehe ganz an der Spitze.

Mein Gegenvorschlag ist, dass menschliche Beziehungen in ihrer Gesamtheit, in ihrer Vielfalt, in ihrer Komplexität betrachtet werden, und dass es mehr Raum gibt für deren Entfaltung, sowohl rechtlich als auch diskursiv, kulturell und wirtschaftlich.

Was raten Sie einer Person, die heiraten will? Welche Überlegungen müssen gemacht werden vor der Ehe?

Es gibt viele wichtige Überlegungen. Erstens: Was bekommen wir dafür? Was ist unser Ziel mit der Ehe? Wollen wir einfach nur unsere Liebe bekunden, mit unseren Liebsten eine Feier machen? Das kann man auch, ohne offiziell zu heiraten. Zweitens: Wollen wir eine finanzielle Absicherung? Wenn ja, wie sieht die aus? Wer wird davon benachteiligt? Es gibt in jeder Konstellation einen Verlierer und einen Gewinner – und deshalb ist es wichtig, sich im Klaren zu sein, was es bedeutet zu heiraten. Falls eine Person weniger arbeitet: Welche Kompensation bekommt die Person für ihre unbezahlte Arbeit im Haushalt? Es gibt unzählige Möglichkeiten, die monogame Beziehung zu gestalten, aber ehrliche Gespräche über Geld sind unerlässlich.

Wann kann eine Ehe gut sein?

Das, was eine Ehe gut macht, ist im Grunde die Liebe, die Fürsorge, der Respekt, die Zuneigung. Ehen, die gut funktionieren, funktionieren gut, weil Menschen sich respektieren. Das geht auch ohne Ehe. Es gibt viele Menschen, die glücklich sind in Ehen, die nicht egalitär sind. Nicht egalitär zu leben in Beziehungen, heisst nicht unbedingt unzufrieden zu sein. Es gibt auch Paare, bei denen die Machtverhältnisse sehr klar sind, sehr definiert und die Menschen fühlen sich so wohl. Trotzdem: Solche Situationen sind nur gut, bis sich die Person, die benachteiligt ist, trennen will.

Ehen können gut sein. Das, was ich beurteile, ist nicht der Glückszustand innerhalb dieser Beziehungen, sondern die Schieflage, die Machtschieflage. Die Macht definiert, wer Entscheidungen treffen kann, welche Interessen durchgesetzt werden, welche Perspektive am meisten zählt. Und genau das betrachte ich kollektiv. Schiefe Machtverhältnisse in einzelnen Beziehungen, unabhängig vom Glücksgefühl der Menschen, haben einen Einfluss auf die Ungerechtigkeit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene.

 


Veranstaltungshinweise

18.04.2023 | Zürich

Lesung & Gespräch «Das Ende der Ehe» | Kaufleuten | 20 Uhr

19.04.2023 | Basel

Lesung & Gespräch «Das Ende der Ehe» | Literaturhaus Basel | 19 Uhr

​20.04.2023 | Bern

Barbara Bleisch trifft Emilia Roig | Dampfzentrale | 20 Uhr (Ausverkauft)