Titelbild der Kolumne von Felix Benesch mit dem Titel

Warum wir Geschichten brauchen

Heilige Erregung

In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. Heute: Wir leben in aufgeheizten Zeiten. Die Erregungskultur, ob auf der Strasse oder im Netz, hält die Menschen in Atem – und auch in ihrer jeweiligen Bubble gefangen. Auswege daraus zu finden, ist kompliziert – aber vielleicht hilft ja Buddha.

Von Felix Benesch

Leipzig, 29.09.2022

6 min

Montag ist wieder Demotag. In meiner Wahlheimat Leipzig hat der Montag Tradition. Vor mehr als 33 Jahren ging von den Leipziger Montagsdemos jene Volksbewegung aus, die Mauern zum Einsturz und ein Land namens DDR zum Verschwinden bringen sollte. Ausser dem grünen Pfeil für Rechtsabbieger, Rotkäppchensekt und dem einen oder anderen schwer verdaulichen Gericht in der Theaterkantine erinnert nur noch wenig an die damalige Zeit.

Aber die Montagsdemos mit ihrem Schlachtruf «Wir sind das Volk!» leben seit einiger Zeit wieder auf, als ginge es darum, den nächsten bankrotten Unterdrückerstaat zu überwinden. Damals waren sich die Demonstrierenden weitgehend einig, gegen wen und was sie demonstrierten. Es war eine schillernde Revolutionsgeschichte, wie sie sich heute wohl viele wünschen. Antagonist war eine erstarrte Staatsführung, es waren Gegner wie aus einem alten James-Bond-Film: Alte Männer mit verkniffenen Gesichtern und hölzernen, erbarmungslosen Parolen, die das Volk klein hielten und einsperrten.

Die neue Unübersichtlichkeit

Heute ist es weniger übersichtlich. Es bietet sich ein komplexes, verwirrendes Bild. Wo sitzt es denn nun, das Böse?

Egal, wir bekämpfen es. Zahlreiche Gruppierungen von ganz rechts bis ganz links treibt es jeden Montag auf die Strasse, es geht gegen die Energiepolitik, gegen die Russlandsanktionen, gegen den Krieg, gegen Nazis, gegen Cancel-Culture und links-grüne Verbotskultur, gegen rechte Lügen und Bauernfängerei, gegen Medien und Regierung, gegen Kapitalismus und Neoliberalismus, gegen vieles mehr, immer gegen die anderen.

Die Hits der letzten Jahre waren noch knackiger, sie hatten Titel wie «Corona-Diktatur», die «Merkel-DDR», «der große Austausch» immer mit den dazugehörigen, meist weit grösseren Gegenprotesten. Sie haben an manchen Montagen Zigtausende auf die Strassen gelockt, sind inzwischen aber aus den Charts verschwunden. Doch die Erregungsbereitschaft ist geblieben, womöglich steigt sie sogar. Am letzten Montag forderten die Demos erstmals mehrere Verletzte, angeblich, weil einzelne Gruppen aufeinander losgegangen sind. Die Polizei soll Schlimmeres verhindert haben.

Früher, als es noch gegen «den Staat» ging, stand die Polizei auf der Seite der Gegner und wurde mit Steinen beworfen. Heute hat sie auf neue Art in ihre Rolle als Freund und Helfer zurückgefunden. Sie verhindert Mord und Totschlag unter den verschiedenen Demo-Gruppen.

Mein Nachbar Norbert kam mit geröteten Wangen und wohlig erregt aus dem Getümmel nach Hause. Ich kann nicht genau sagen, zu welcher Gruppe er gehört. Selber bezeichnet er sich als links, doch wenn er über den Ukraine-Krieg oder die Coronamassnahmen spricht, klingt er manchmal ein bisschen nach «Russia Today» und damit ähnlich wie Mischa, ein anderer Nachbar, der sich leicht ironisch als «sächsischer Nazi» bezeichnet. Die beiden sind eigentlich Gegner, in einem Punkt sind sie sich allerdings einig: Sie sind sicher, dass sie nach Strich und Faden verarscht werden.

Es kommt mir manchmal vor, als seien meine beiden Nachbarn ständig auf der Suche nach dem nächsten Trigger, dem nächsten Aufreger, den sie zum Anlass nehmen können, ihre Rolle in ihrer eigenen Heldengeschichte mit neuem Furor zu befeuern, sich mit Empörung zu wappnen und in die nächsten Gefechte zu ziehen.

Beide wähnen sich auf der richtigen Seite. Aber jeder bleibt in seiner eigenen Geschichte. Sie brauchen ihre Gegenspieler, vielleicht um sich selber zu spüren, sich aufzurichten, das eigene Profil zu schärfen. Falls sie sich demnächst mal gegenseitig verprügeln wollen, steht hoffentlich ein Polizist in der Nähe und verhindert, dass einer der beiden vom anderen aus seiner Geschichte geschrieben bzw. geprügelt wird.

Das digitale Story-Gewitter

Man kann viel darüber spekulieren, was mit den Menschen passiert ist. Warum diese ständige Erregung? Was hat sich verändert?

Sicher scheint mir: Es hat etwas mit der Digitalisierung zu tun, mit einem vielstimmigen Internet, das uns zu jedem Zeitpunkt mit News, Meinungen und Bildern in Echtzeit versorgt. Die klassischen Medien stehen in einer nie dagewesenen Konkurrenz mit neuen Playern, Social Media, Propagandafabriken, Bots, you name it. Alle fabrizieren Geschichten.

Wir alle sind einem nie dagewesenen Wettstreit der Geschichten ausgesetzt. Storys prasseln auf uns ein wie ein nicht enden wollender Gewitterregen. Eine Story, so habe ich es als Storyteller gelernt, will vor allem eines: Die Menschen erreichen, fesseln und – emotionalisieren. Eine Story, die keine Emotionen weckt, ist nämlich gar keine Story.

Storytelling ist allgegenwärtig. In Politik, Wirtschaft, Medien, Kunst und auf Social Media sowieso, aber auch in der Werbung, in der Wissenschaft, in Gastronomie und Kulinarik, im Sport, in der Hundezucht, in der Gartenpflege, in der Partnersuche, in der Popmusik… einfach überall. Egal wo: Ohne ein entsprechendes Storytelling läuft wenig bis gar nichts.

Und jede einzelne dieser Storys zielt auf unsere Gefühle, will uns triggern, will unsere Aufmerksamkeit, unser Geld, unsere Stimme, unsere Anteilnahme.

Wenn ich mit Norbert rede, gewinne ich den Eindruck, dass ihn dieser Dauerbeschuss in eine Art Dauererregung versetzt. Aber noch etwas ist bemerkenswert: Er schützt sich und seine eigene Geschichte, schirmt sie ab, macht sich immun gegen alles, was ihn dazu zwingen könnte, seine Story umzuschreiben. Er bleibt dabei. Egal was passiert.

Ein Beispiel: In Norberts eigener Geschichte ist es selbstverständlich, dass die milliardenfach verabreichten Coronaimpfungen sehr gefährlich waren, und die vielen Geimpften bald sehen werden, dass er recht hat. Doch das Leben geht weiter, niemand fällt tot um, es gibt einfach keine belastbaren Zahlen, die seine These stützen würden.

Das hat zur Folge, dass Norbert in eine kognitive Dissonanz gerät, die ihn in zusätzliche Erregung versetzt. Er könnte natürlich zugeben, dass er sich geirrt hat, doch dann würde seine ganze Story ins Wanken geraten. Für Norbert ist das keine Option. Er geht den Weg, den anscheinend auch Putin geht: Mit immer abstruseren Erklärungen will er belegen, warum er nach wie vor recht hat. Er bleibt in seiner Story. Wenn’s sein muss bis zum bitteren Ende, egal wie es ausfällt.

Vielleicht hilft ja Buddha

Kürzlich bin ich im Fernsehen bei einer Doku hängen geblieben. Es ging um das menschliche Bewusstsein. Dort haben mich besonders die Worte eines buddhistischen Mönches fasziniert. Mit Meditation strebt er nach einem höheren Sein, das darin besteht, die Grenzen seines Ichs zu überwinden und ganz im uns umgebenden grossen Ganzen aufzugehen. Wir sind alle eins. Wir sind alle miteinander verbunden. Alles fliesst.

Das könnte ein Ansatz für eine neue Art von Geschichten sein. Keine Ahnung wie das dramaturgisch aussieht. Aber es dürfte nicht mehr um die Heldenreisen von Individuen gehen, sondern um eine grosse, göttliche Kraft, die uns alle miteinander verbindet.

Moment mal, gibt es das nicht schon längst? Vielleicht fragen wir mal in einem buddhistischen Kloster nach.