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Warum wir Geschichten brauchen

Zufall und Frust

In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. Heute: Viele Ereignisse in unserem Leben sind dem Zufall geschuldet. In uns allen wohnt jedoch ein Storyteller, der jedem Ereignis Sinn verleihen möchte. Während früher Gott oder die Götter die Hauptdarsteller dieser Sinn-Erzählungen waren, sind es heute die Serien- oder Roman-Held:innen.

Von Felix Benesch

Seewis, 24.08.2022

5 min

Am 30. Juni 2016 sitzt der Zürcher IT-Unternehmer M.S. arglos auf einem Mäuerchen und macht Mittagspause. Plötzlich tritt ein Mann an ihn heran, sticht mit einem Messer auf ihn ein und entfernt sich unerkannt. Kurz darauf wird der stark blutende Mann von einer Passantin gefunden. Sie ruft den Krankenwagen, doch das Opfer kann trotz sofortiger Wiederbelebungsmassnahmen nicht mehr gerettet werden. Der Mann stirbt.

Die Ermittlungen fokussieren sich auf das Opfer, sein Umfeld und mögliche Motive. Man mutmasst, dass der Mord etwas mit Drogen und Drogenhandel zu tun haben muss. Doch die zur Aufklärung dieses spektakulären Falles gebildete Ermittlungsgruppe kommt nicht weiter, sie tappt völlig im Dunkeln.

Über ein halbes Jahr später führt ein Zufall dazu, dass im Kanton Bern andere Beamte diesen Fall nebenbei aufklären können. Dabei stellt sich heraus, dass der Zufall nicht nur bei der Aufklärung, sondern auch beim Mord Regie geführt hatte. Das Mordopfer war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort, mehr nicht. Es gab keinerlei Verbindung zwischen Täter und Opfer. Für Angehörige muss so ein sinnloses Verbrechen schwer zu ertragen gewesen sein. Für die Ermittler war es bestenfalls frustrierend. Sie hatten nichts, keinerlei Anhaltspunkte, es gab so gut wie gar nichts zu ermitteln.

So war das damals im Zürcher Seefeld-Mord. Es war die brutale Wirklichkeit. Doch als Story wäre dieser Fall niemals durchgegangen. Es gab kaum etwas zu verstehen. Keine Erkenntnis. Keine Message. Es war fast alles Zufall, und dadurch einfach nur sinnlos. Der Zufall ist beim Storytelling nicht vorgesehen. Schon gar nicht beim Krimi. In einer funktionierenden Geschichte hat alles seine Gründe, alles ist möglichst raffiniert miteinander verwoben. Immer muss klar sein, warum eine Heldin dies oder jenes tut und weshalb einem Antagonisten etwas widerfährt. In der Fiktion gibt es keine Zufälle. Höchstens in der Realität.

Stimmt das überhaupt? Gibt es Zufälle?

Ich gehe davon aus, dass in jedem und jeder von uns ein innerer Erzähler wirkt, der alles, was wir erleben, sofort in eine Erzählung verwandelt. Zufälle können wir nur schwer akzeptieren. Wir alle suchen ständig nach Sinn in unserem Leben. Zufälle haben keinen Sinn. Sie sind niemals befriedigend. Sie passieren einfach. Ich kann nichts dafür oder dagegen tun. Sie sind frustrierend. Es gibt kaum etwas Frustrierenderes als Zufälle.

Wir alle kennen sie, diese typischen Situationen, zum Beispiel: Wir denken an jemanden, und plötzlich ruft genau diese Person an. So etwas kann kein Zufall sein, es muss eine Verbindung zwischen uns geben. Der Anruf beweist es doch. Dabei lassen wir natürlich ausser Acht, dass wir ständig an irgendjemanden denken. Rein statistisch gesehen muss das hie und da mit einem Anruf zusammenfallen. So gesehen wäre das aber ein sinn- und inhaltsloser Zufall. Das geht nicht. Unser innerer Erzähler tut, was ein Erzähler immer tut: Er verknüpft zwei Ereignisse miteinander, bettet sie in die Erzählung ein, lädt sie mit Bedeutung auf.

Das tun wir ständig, im Guten wie im Schlechten.

Psychologen der University of California in Berkeley haben einmal ein Experiment durchgeführt, in dem sie mehrere Dreiergruppen auf verschiedene Räume verteilt haben und sie dort eine Aufgabe lösen liessen, in der es um ethische Fragen ging. Eine der drei Personen wurde jeweils zum Gruppenleiter ernannt, und zwar vollkommen zufällig, nach dem Losprinzip. Dieser Gruppenleiter hatte keine besondere Funktion. Er oder sie musste einfach nur gemeinsam mit den anderen eine Aufgabe lösen.

Nach einer gewissen Zeit brachte jemand einen Teller mit vier Guetzlis in den Raum, welche die drei Probanden unter sich aufteilen sollten. In allen Fällen assen die wahllos ausgewählten Gruppenleiter den vierten Keks. Sie nahmen an, dass ihnen dieser Keks zusteht. Sie waren in einer etwas besseren Position als die Anderen und haben sich dafür belohnt.

Unsere inneren Erzähler glauben, dass wir Kontrolle über unser Schicksal haben. Wir sind überzeugt davon, dass Ereignisse mit unseren Entscheidungen zu tun haben. Wenn wir einfach nur Glück haben und uns etwas Gutes widerfährt, sind wir schnell dazu bereit anzunehmen, wir hätten dieses Glück verdient. Allerdings: Wenn wir Pech haben, wenn wir Schlechtes erleben, geben wir gerne den Umständen oder anderen die Schuld. Mit unseren Mitmenschen sind wir hingegen weniger gnädig: Wenn wir mitbekommen, dass sie durch schwierige Phasen gehen, geben wir ihnen häufig persönlich die Schuld daran.

Netflix statt Gott

Wenn jemand erlebt, wie direkt neben ihm der Blitz einschlägt und er/sie «wie durch ein Wunder» unversehrt bleibt, sind wir eher dazu bereit, von einem glücklichen Zufall zu sprechen. In so einem Fall neigen viele von uns sogar zu Demut und greifen auf eine Zufalls-Bewältigungs-Strategie unserer Vorfahren zurück, die sehr aus der Mode gekommen ist: Wir danken Gott. Oder den Göttern. Den guten Geistern, die uns beschützt haben. Vielleicht wurden ganze Religionen erfunden, nur um zufällige Ereignisse wie Blitzeinschläge oder auch Naturkatastrophen oder Seuchen zu erklären. Gott hat es so gewollt. Gottes Wege sind unergründlich. Unsere Ahnen konnten nichts Anderes tun, als Gottes Willen zu akzeptieren und um Barmherzigkeit zu bitten.

Mit der Aufklärung setzte etwas Neues ein: Der Mensch, sein Wille, seine Entscheidungen wurden zum Mass aller Dinge. Romane wurden zu einer Art Leitmedium der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst. Heute kommen TV-Serien, Filme, Hörspiele, Computergames und vieles mehr dazu, denen häufig ein gemeinsames Narrativ zugrunde liegt. Es ist das erfolgreichste Märchen unserer kapitalistischen Gegenwart, und das geht so: Wir sind unseres eigenen Glückes Schmied. Wir können alles erreichen, wenn wir es nur wollen. Leistung lohnt sich.

Zufälle sind darin nicht vorgesehen. Alles hat seinen Grund.