heldinnen

Warum wir Geschichten brauchen

Erlösende Diagnose

Wir alle suchen nach Sinn, Ordnung und Identität. Paul findet sie in seiner alles erklärenden ADHS-Diagnose. Aber wie lassen sich die beunruhigenden Symptome des Weltgeschehens lindern? Natürlich mit dem Erzählen von Geschichten, sagt der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch. Er plädiert dafür, das Feld nicht denen zu überlassen, die längst erkannt haben, was für eine Macht Erzählungen haben. Und sagt: Erzählt Euch die Welt jeden Tag neu!

Von Felix Benesch

Leipzig, 17.08.2023

7 min

Die Diagnose kam überraschend als Nebeneffekt eines Autounfalls mit Blechschaden, bei dem er – nennen wir ihn Paul – jemandem so dreist die Vorfahrt genommen hatte, dass er es sich selber nicht erklären konnte. Eine freundliche Psychiaterin sprach daraufhin mit ihm, machte ein paar Tests – und lieferte einen eindeutigen Befund. 

Ein weiterer Tiefschlag in seiner brüchigen und unsteten Biografie, dachte er zunächst. Doch schnell realisierte er, dass es sich hier um etwas ganz anderes handelte:

um eine Erlösung biblischen Ausmasses.

Paul war plötzlich nicht mehr der Versager, für den er sich bis zu diesem Zeitpunkt hielt. Seine häufigen Jobwechsel, die gescheiterten Beziehungen, seine vielen Aussetzer, Stimmungsschwankungen, Gefühlsausbrüche, die kaputten Freundschaften, sogar den Privatkonkurs, in den er wegen leichtsinniger, extrem riskanter Börsengeschäfte geschlittert war – all das konnte er nun erklären. 

Alles passte plötzlich in eine sinnhafte Erzählung. Alles hatte seine Gründe. Sein Leidensweg würde bald ein Ende finden. Und ganz wichtig: Er war nun nicht mehr allein, sondern Teil einer schillernden Community mit ähnlichen Symptomen und gleicher Diagnose: ADHS. 

Beim Aufmerksamkeitsefizit- und Hyperaktivitätssyndrom handelt es sich bekanntlich um eine Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörung, die in der Regel im Kindesalter beginnt und von der noch etwa ein bis zwei Prozent der Erwachsenen betroffen sind. Bei vielen wird sie nie erkannt, bei manchen werden Erkrankungen wie Depressionen, Alkoholismus, Drogensucht diagnostiziert und behandelt, die in Wirklichkeit aber auf eine unerkannte ADHS-Störung zurückzuführen sind. 

Viele von ihnen landen aber auch in kreativen Berufen und machen mitunter schillernde Karrieren.

Die Liste der bekennenden ADHSler liest sich wie ein Who’s who der internationalen Show- und Kreativ-Szene.

Zu ihnen gehören (unter vielen anderen) Ikonen wie Taylor Swift, Justin Timberlake, Will Smith, Sylvester Stallone, Jim Carey, Jennifer Lopez, aber auch Unternehmer-Legenden wie Bill Gates. 

In Deutschland bekannten sich u.a. der Schauspieler Devid Striesow und der Comedian und Arzt Eckhard von Hirschhausen dazu; in der Schweiz sprachen neben vielen anderen der Komiker Patrick Kapriczenko und der Journalist Constantin Seibt öffentlich über ihr ADHS, letzterer in einer faszinierenden, sehr empfehlenswerten Artikelserie in der «Republik». 

Das Leben neu erzählen

ADHS sei eine ernste Sache und kein Spass, sagen alle übereinstimmend. Aber es gibt offensichtlich ein paar positive Aspekte, die ihnen ihre Karrieren überhaupt erst ermöglicht haben. Wissenschaftlich ist das bis jetzt zwar nicht einwandfrei nachgewiesen, aber: Menschen mit ADHS sollen besonders fantasiebegabt sein; es fällt ihnen leichter, divergent zu denken; sie sind in der Regel besonders empathisch; zeigen Verhandlungsgeschick – und sie funktionieren unter Druck besonders gut. Sie entwickeln einen sogenannten Hyper-Fokus, der es ihnen möglich macht, stundenlang unter höchster Konzentration überaus komplexe Dinge zu leisten. 

Für Paul geht es jetzt darum, die richtigen Schlüsse aus seiner Diagnose zu ziehen und seine Geschichte unter diesem Blickwinkel neu zu erzählen. Äusserlich hat sich ja eigentlich nichts geändert. Er ist nach wie vor der Gleiche, mit den gleichen Schrammen, Ecken und Kanten. 

Doch die Diagnose entlastet ihn, macht das Unerklärliche greifbar, ermöglicht es ihm, seinen Alltag konsequent zu organisieren, seinen Umgang mit der Krankheit zu trainieren und sein Augenmerk auf deren positive Aspekte zu lenken. Dann wird sein Leben vielleicht sogar noch die eine oder andere erstaunliche Wendung für ihn bereithalten. 

Wenn es nur auch für aktuelle gesellschaftliche Probleme so eine erlösende Diagnose gäbe!

Beunruhigende Symptome gibt es derzeit ja reichlich, und sie scheinen immer mehr zu werden: Die freiheitliche, demokratische Ordnung steht weltweit unter Beschuss; populistische Erzählungen verfangen bis tief in die Mitte der Gesellschaft; in den ostdeutschen Bundesländern wird die rechtsextreme AfD ziemlich sicher wählerstärkste Kraft; zusammen mit der Linkspartei wären es dann etwa die Hälfte der Wählenden, die der liberalen Demokratie gegenüber kritisch eingestellt sind. 

Rechtspopulismus will auch in der Schweiz immer cooler werden. Das verfängt zweifellos in weiten Teilen der Bevölkerung, daran wird auch der peinliche Fauxpas mit dem unsäglich uncoolen SVP-Popsong wenig ändern. Anti-Elitarismus rockt und hat in der diskreten Überheblichkeit des Bildungsbürgers ein Feindbild gefunden, das ähnlich gut funktioniert wie die Spiessbürger in den 60ern. 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Ort der Debatte und verbindendes Medium aller demokratischen Parteien steht in Deutschland immer bedrohlicher unter Beschuss; die Politik scheint das Thema zu meiden, denn damit lässt sich kaum noch punkten. 

Ein Funken Hoffnung

Auch in der Schweiz muss man sich ernsthaft Sorgen machen, dass die libertären Initianten mit ihrer Halbierungs-Initiative nun doch noch vollenden können, woran sie mit No-Billag krachend gescheitert waren. Natürlich darf man die SRG noch lange nicht verloren geben, aber wer sich in die Untiefen der Debatten in diversen Kommentar-Threads wagt, braucht viel Kraft für Optimismus. Das Lagerfeuer, an dem sich die Nation allabendlich versammelt (hat), könnte bald nur noch glimmen und in der Bedeutungslosigkeit versinken.

Einen Funken Hoffnung habe ich allerdings entdeckt: Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han diagnostiziert in einem schmalen, sehr lesenswerten Büchlein eine «Krise der Narration» als Ursache dieser Probleme. Das passt perfekt zu «Held:innen»:

Vereinfacht gesagt steckt in diesem Büchlein ein leidenschaftliches Plädoyer für engagiertes, sinnhaftes Erzählen in der Gemeinschaft. Das Informationszeitalter, argumentiert Han, beschleunige eine Entwicklung, die in Sinnleere und Orientierungslosigkeit Ausdruck findet.

In der «von Entgrenzung geprägten Spätmoderne» wächst das Bedürfnis nach Formen, die Ordnung, Sinn und Identität stiften.

Dieses Bedürfnis bedienen aber nicht mehr Erzählgemeinschaften, sondern «populistische, nationalistische, rechtsextreme oder tribalistische Narrative». Dazu zählt er auch Verschwörungserzählungen. 

Han kann aber auch wenig mit dem Gerede von «Narrativen» und «Storytelling» anfangen, das die Informationsgesellschaft charakterisiert. Diese Floskeln würden ihr weder sinnstiftende Erzählungen noch das Erzählen selbst zurückbringen. Denn die Begriffe tragen Unterschiedliches im Sinn. 

«Erzählungen bringen eine Gemeinschaft hervor. Storytelling hingegen bildet nur eine Community als Warenform der Gemeinschaft», schreibt Han. «Der digitale Bildschirm vereinzelt die Menschen als Konsumenten.» Sie verkümmern zu einem Datensatz, «der sich steuern und ausbeuten lässt». Eine Variante ist das Self-Tracking zum Vermessen der eigenen Körperfunktionen. Da wird gezählt, statt erzählt. 

Gemeinschaftliches Erzählen

Die Erzählung hingegen «führt, offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich. Dieser Nutzen mag einmal in einer Moral bestehen, ein andermal in einer praktischen Anweisung oder in einer Lebensregel.» Im Ausbleiben dieses Nutzens sieht Byung-Chul Han die Gefahr einer Entpolitisierung, weil «neoliberale Narrative wie Selbstoptimierung, Selbstverwirklichung oder Authentizität» die Gesellschaft destabilisieren, «indem sie die Menschen vereinzeln». Ohne Gemeinschaftserzählung, schreibt er, «bildet sich das Politische im emphatischen Sinne nicht heraus, das gemeinsames Handeln ermöglicht». 

Übersetzt man diese Diagnose in eine Handlungsanweisung, so könnte die in etwa so lauten:

Findet euch zusammen und erzählt euch die Welt jeden Tag neu!

Stellt diese Erzählungen zur Debatte. Kämpft gegen die Gleichgültigkeit an.

Sucht nach dem Zauber, den Wundern des Lebens!

Und: Tragt Sorge zu den Orten, an denen gemeinschaftliches Erzählen noch stattfindet: Theater, Kinos, Festivals, aber auch die öffentlich-rechtlichen Sender, die der Gemeinschaft dienen und sich nicht vorbehaltlos der Logik des Kapitals unterwerfen (müssen). 

Überlasst das Feld nicht denen, die längst erkannt haben, was für eine Macht Erzählungen haben, wenn man sie nutzt, um Ängste, Misstrauen und Argwohn zu wecken und systematisch zu kultivieren! 

Lasst uns Geschichten vom Miteinander erzählen, die so gross, so geheimnisvoll und so bewegend sind, dass viele sie hören und einander weitererzählen wollen! Und versucht daran zu glauben, denn der Glaube versetzt … na, ihr wisst schon.