Warum wir Geschichten brauchen
Wir gegen den Rest der Welt!
Der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch untersucht in seiner Serie «Held:innen» die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. Diesmal erzählt er von einem nächtlichen Traum und der Kraft des Antagonisten.
Leipzig, 19.04.2023
Kürzlich hatte ich einen Traum, den ich gleich nach dem Aufwachen meinem Lieblingsmenschen erzählt habe, deswegen weiss ich ihn noch. Träume, die man nicht erzählt, verschwinden ja bekanntlich innert kürzester Zeit. Es ist, als ob sie erst durchs Erzählen in der Wirklichkeit ankämen. Womöglich ist das mit allem so, nicht nur mit Träumen.
Ich erinnere mich ganz konkret an jedes Detail dieses Traumes. Und jedes Mal, wenn ich ihn wieder erzähle, kommen neue Details hinzu.
Ich war im Kreis einer kleinen Gruppe von sehr unterschiedlichen Menschen verschiedenen Alters. Wir kannten einander nicht, dennoch gab es eine grosse Vertrautheit unter uns. Es einte uns nämlich etwas Höheres, ein Plan, eine grosse Idee.
Plötzlich Teil der «Klima-Kleber»
Schweigend schritten wir zur Tat. Jeder und jede wusste, was zu tun war. Jeder Handgriff war abgesprochen und wurde mit einer gewissen Feierlichkeit ausgeführt: Wir streiften uns Leuchtwesten über, verteilten die Dosen, überprüften die Planen mit den Schriftzügen. Eine gewisse Anspannung lag in der Luft, aber durchwegs heiter und positiv. Natürlich hatten wir ein bisschen Angst, aber die Gruppe gab uns Sicherheit. Niemand stellte die Aktion infrage. Jedes Detail hatten wir ausgekundschaftet und mehrere Male besprochen.
Dann ging alles ganz schnell: Wir stiegen aus und betraten die Fahrbahn, direkt vor dem Portal zum Tunnel, wo sich der monströse, metallisch glitzernde Lindwurm grollend hinein wälzte. Entschlossen marschierten wir zwischen die Autos, rollten die Transparente aus, setzten uns und klebten uns fest. Jemand filmte.
Ja, richtig, ich habe geträumt, dass ich einer der Klima-Aktivisten von «renovate Switzerland» bin, die sich vor dem Gotthardtunnel mitten im Osterstau auf dem Strassenbelag der A2 festgeklebt haben.
Voller Endorphine
Ich erinnere mich genau, welche Gefühle ich dabei hatte: Hier waren wir, dort die Anderen. Ich sass da und konnte deutlich sehen, wie hinter Windschutzscheiben manchen im Zorn die Gesichtszüge entgleisten. Ein vielstimmiges Hupkonzert schwoll an. Einzelne Autofahrer stiegen aus, beschimpften uns, rissen uns die Transparente aus den Händen… Doch das machte mir nichts aus.
Ich fühlte mich grossartig.
Ich war voll mit Adrenalin und Endorphinen. Die Welt blickte auf uns. Mit nichts als unseren verletzlichen Körpern haben wir eine 15 Kilometer lange Kolonne aus abertausenden Tonnen Stahl, mit der Kraft von vielen Millionen Pferdestärken, zum Stillstand gebracht.
In meinem Traum war ich Teil einer grossartigen Story: Wir gegen den Rest der Welt!
Auch wenn manche die «Klima-Kleber» zur Verantwortung ziehen und ins Gefängnis stecken wollen oder ihnen gar den Tod wünschen – es ist und bleibt sonnenklar, wer moralisch auf der richtigen Seite steht: Sie!
Die Grösse des Gegenspielers
Aus Sicht des Storytellings ist dieser moralische Aspekt allerdings untergeordnet. Wichtiger ist die Grösse des Gegenspielers. Je mächtiger er ist, und je verletzlicher die Protagonisten, desto mehr bewegt die Story unsere Emotionen.
Wenn sich eine junge Frau im geblümten Sommerkleid einem Panzer in den Weg stellt, fliegen ihr unsere Herzen zu. Wir sind bei ihr, nicht bei den Panzersoldaten, die in voller Montur aus der Luke schauen, selbst wenn sie eigentlich zu den Guten gehörten. Vor einer verletzlichen, stolzen und mutigen Frau schrumpft der Panzer zum hässlichen Spielzeug und die Soldaten werden zu Zwergen.
Grundlegend falsches Setting
Ende der Neunzigerjahre war ich für die Stoffentwicklung einer Action-Serie in Berlin zuständig. Im Zentrum stand ein High-Tech-Hubschrauber, der mit allen erdenklichen Features ausgerüstet war. Eine Spezialeinheit ging damit in Berlin auf Verbrecherjagd.
Es waren Pionierzeiten, die Anfänge des Privatfernsehens in Deutschland. Damals war man noch Lichtjahre entfernt von den professionalisierten und durchrationalisierten Erzähl-Fabriken unserer Gegenwart. Das Serien-Geschäft war in der Hand von Abenteurern und Hasardeuren.
Deswegen hat man wohl auch drei Staffeln lang gebraucht, bis allen endlich klar wurde, wie grundlegend falsch dieses Setting war: Damit dieser Hubschrauber Sinn machte, brauchte es einen Gegenspieler vom Format eines Ernst Stavro Blofeld. Es hätte um Weltherrschaft und Apokalypse gehen müssen, wie bei James Bond. Doch im Berlin um das Jahr 2000 rum waren solche Plots schwer vorstellbar, schon gar nicht für 34 Episoden. Eher ging es um Bankräuber und Kindesentführer.
Dieser Super-Hubschrauber war die sprichwörtliche Kanone, mit der wir auf Spatzen zielten. Dass wir dabei einen Grossteil der Berliner Architektur virtuell in die Luft gesprengt haben, war die logische Konsequenz, löste aber kaum Emotionen aus und verpuffte damit wirkungslos.
Man kann über die Klima-Kleber denken was man will, eines kann man ihnen nicht absprechen: Sie wecken Emotionen, sie lassen niemanden kalt.
Ein Storytelling, das Emotionen weckt, ist auch in der Politik bare Münze. Ganz besonders dort, wo es um Personen geht und weniger um Inhalte. Ich war mir ja eigentlich schon fast sicher, dass wir das Phänomen Donald Trump endlich im Nebel der Vergangenheit versinken lassen können, doch leider: Er ist wieder da.
Seine Erzählungen, die er seinen Wähler:innen jetzt wieder auftischt, sind reine Fiktion und speziell in Hinblick auf die Konstruktion der vermeintlichen Gegenspieler interessant. Wie immer geht es um eine Verschwörung einer raffgierigen und verdorbenen Elite, die nichts anderes im Sinn hat, als die USA zugrunde zu richten. Es gibt nur eine einzige Person, die über das Elixier gegen diese Bedrohung verfügt, und das ist Donald Trump himself.
Damit er aber als rettende Lichtgestalt in angemessener Größe erscheinen kann, muss er seine Gegenspieler ins Monströse dämonisieren. Je bedrohlicher er die Antagonisten zeichnet, desto grösser und unwiderstehlicher wird er als Retter, der die Welt vor ihnen bewahren will. So gesehen muss er die Demokraten und parteiinterne Kritiker:innen zu linksradikalen, fehlgeleiteten, völlig irren Marxisten machen. Es geht gar nicht anders.
Die Erzählung der Autokraten
Dazu gehört auch, dass er sich zum Opfer stilisiert. Einer, der nicht anders kann, als zu tun, was getan werden muss; der sich für Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzt und dafür in Kauf nimmt, verteufelt und verfolgt zu werden; einer, dem man die Wahl stiehlt und den man mit politischen Schauprozessen fertig machen will.
Solche Erzählungen gehören zum Repertoire von Autokraten auf der ganzen Welt. Sie waren schon in den Dreißigerjahren der Boden, auf dem der Faschismus wuchs. Auch der kriegerische Diktator Putin benutzt sie, um seine Macht zu festigen.
In meinem Traum hielt mir eine Journalistin ein Mikrofon entgegen und ich hörte mich die Worte sagen: «Ich mach das doch nicht zum Spass! Ich würde jetzt auch lieber mit einem Glas Prosecco am Lago Maggiore sitzen. Ich muss das tun! Wenn wir so so weitermachen, gibt es eine Katastrophe biblischen Ausmasses.»
Die Journalistin fragte: «Wäre es nicht sinnvoller, sich in eine Innenstadt zu stellen und für Ja-Stimmen zum Klimaschutz-Gesetz zu werben? So funktioniert Demokratie!»
Ich überlegte, wie ich darauf antworten sollte, doch dann wachte ich auf.
Ich war aufgewühlt und schweissgebadet. Was war das bloss?