Titelbild der Kolumne von Felix Benesch mit dem Titel

Warum wir Geschichten brauchen

Der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch untersucht in seiner Serie «Held:innen» die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. In der neunten Folge geht es um einen vermeintlichen Verlierer und Versager. Er findet aus seiner Depression nicht heraus, weil er dazu die passende Story, seine ganz eigene Heldengeschichte noch nicht gefunden hat. Weder die gängigen Serien-Plots noch die herkömmlichen Dramen können ihm helfen. Er braucht, so der Autor, eine gute Dramaturgin, um sein Leben weitererzählen zu können.

Von Felix Benesch

Leipzig, 08.02.2023

7 min

Patrick geht kaum mehr unter Leute, denn er möchte seine Geschichte niemandem erzählen. Sie handelt davon, wie er in seinem Job auf mittlerer Management-Ebene im Kulturbereich zuerst gemobbt wurde, dann wegen eines Burnouts aussetzen musste, schliesslich hat man ihn ersetzt, als er weg war und sich nicht wehren konnte.

Zwei Frauen waren es, die ihm wirklich übel mitgespielt haben. Für einen weissen Mann in den Fünfzigern sieht das nicht gut aus. Sowohl aus seiner eigenen inneren Perspektive als auch von aussen.

Patrick schämt sich.

Wenn man es anders erzählt, ist es nichts wofür er sich schämen müsste: Patrick hat sich persönlich um sein Team gekümmert, hat die Sorgen seiner Mitarbeiter:innen ernst genommen, hat sich aufgerieben im Kampf für Reformen in einer verknöcherten Abteilung mit veralteten Strukturen, hat sich im Einsatz für die Sache mit anderen angelegt – und zahlt nun den Preis für deren Fehler.

Diese Version ist ebenso richtig wie die andere. Es kann sogar sein, dass der ganze Vorgang vor Gericht landet. Die Chancen, Recht zu bekommen, stehen gut für Patrick. Das weiss auch der Betrieb, für den er tätig war. Man bemüht sich um eine gütliche Einigung.

Doch das macht es nicht besser: Er schämt sich.

Seine eigene Geschichte weiterschreiben

In einer fiktionalen Serie wäre seine Krise ein guter Ausgangspunkt für eine ganze Staffel: Noch aus der stationären Burnout-Therapie heraus beginnt sich der Protagonist zu wehren. Er kämpft auf verlorenem Posten, aber setzt alles daran, seine Gegnerinnen zu konfrontieren und verzeichnet schliesslich erste Erfolge.

Schritt für Schritt gelingt es ihm, seine Ehre zurückzuholen, mit ihr auch die Liebe seiner Frau und den Respekt seiner Kinder. In der letzten Episode erkennen alle, wie richtig er lag, wie er seiner Zeit voraus war und unausweichliche Entwicklungen antizipiert hatte. Es kommt zu einem gefeierten Comeback, während eine neue Antagonistin für die folgende Staffel bereits die nächste Intrige spinnt.

Doch dafür müsste Patrick seine Scham überwinden und das Heft wieder in die Hand nehmen. Er müsste wieder Protagonist sein und handeln, seine eigene Geschichte weiterschreiben. Das fällt ihm aber schwer. Und deswegen schämt er sich noch mehr.

Warum lähmt ihn diese verdammte Scham?

Wer versagt, verliert die Ehre

Dazu gäbe es bestimmt einige psychologische Erklärungen und Therapie-Ansätze. Mich interessiert hier aber wie immer das Erzählerische, das zugrunde liegende Narrativ. Oder genauer: Die Narrative, die seine Scham begründen. Und wie immer finde ich meine Antworten in den Niederungen der populären Fiction, die unsere Wirklichkeit meines Erachtens mindestens so sehr prägt wie alles Faktische.

Man ging respektlos mit Patrick um. Ihm ist es nicht gelungen, sich dagegen zu wehren, deswegen hat er die Selbstachtung verloren, und damit auch den Respekt der Anderen. Oder etwas altmodischer: Er hat «sein Gesicht» verloren, «die Ehre».

So geht das erste Narrativ, dem er nun nicht mehr entspricht: Wir müssen uns behaupten, wenn wir etwas gelten wollen. Nur wer sich in seinem Bereich durchsetzt, darf glücklich sein und sich ausruhen. Das lässt sich in unzähligen Filmen und Serien besichtigen, von «The Godfather» über «Pulp Fiction», «Game of Thrones» bis «Squid Game», in letzterer sogar besonders deutlich.

Wer versagt, hat keine Ehre mehr und damit den Respekt seiner Mitmenschen nicht mehr verdient. Er hat sein Leben verwirkt. Egal, ob er im Recht ist oder nicht. Es bleibt ihm eine letzte Möglichkeit: Wenn er sich gegen alle anderen Versager durchsetzt und als einziger überlebt, kann er sich seine Ehre zurückholen und kriegt einen riesigen Haufen Geld obendrauf.

Gibt es den glücklichen Abstieg?

Das vermischt sich mit einer zweiten, uns alle prägenden Erzählung: Eine erfolgreiche und glückliche Lebenslinie zeigt nach oben. Wer in fiktionalen Storys einen höheren Status erreicht, führt ein glücklicheres Leben. Solange wir in der Hierarchie aufsteigen, ist alles gut. Dann ist es eine positive Heldengeschichte, mit der wir uns gerne identifizieren.

Patrick hingegen steht jetzt wahrscheinlich ein sozialer Abstieg bevor. Nicht existenzbedrohend, aber doch ein Abstieg. Damit fängt unweigerlich auch das Drama an. Aus Glück wird Unglück. Ein sozialer Abstieg ist in Film- und Fernseherzählungen immer ein Drama. Einen positiven, glücklichen Abstieg gibt es nicht. Oder anders formuliert: Für einen guten Ausstieg aus der Karriere gibt es keine (oder nur sehr wenige) Story-Vorbilder. Wir haben solche Erzählungen nicht trainiert. Abstieg ist und bleibt Schmach. Aber ehrlich: Muss das so sein?

Wir wissen doch auch, dass grade ärmere und sozial schlechter gestellte Menschen glücksfähiger sind als die Reichen. Zumindest im Film sind sie das. In «Titanic», einem der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, tobt bei den Armen in der dritten Klasse die Party, während oben in der ersten Klasse die Neurosen blühen und Intrigen gesponnen werden.

Kein Wunder ist die schöne und edle Rose vom Humor und der entwaffnenden Offenheit des mittellosen Jack fasziniert. Der Beginn dieser wunderbaren Lovestory ist aber auch hier der Beginn eines grossen Dramas, an dessen Ende Rose einen hohen Preis bezahlt und auf ihren Status verzichtet. Aber immerhin: Sie darf sich emanzipieren.

Schlechter Start an der «Opfer-Olympiade»

Das ist längst noch nicht alles. Patrick hat sich in weiteren Narrativen verstrickt, aus denen er sich nur sehr schwer wieder raus erzählen kann: Seine Gegenspielerinnen sind ausschliesslich Frauen, vielleicht sind sie sogar auf die eine oder andere Weise queer. Er hingegen spielt in dieser Story die Rolle des älteren, hetero-normativen, weissen Cis- Mannes, der eine Führungsposition innehatte. Obwohl er zum privilegiertesten Teil der Menschheit gehört, die noch immer den grössten Teil der Macht auf der Welt unter sich aufteilt, hat er es nicht geschafft, sich auf seiner Position zu halten.

Dass ihm Unrecht getan wurde und er Opfer einer fiesen Intrige wurde, macht es nicht einfacher. Die Opferrolle liegt ihm nicht. Sie passt schlecht zu allem anderen. Oder wie es ein Deutscher Comedian vor einiger Zeit mal formuliert hat: In der «Opfer-Olympiade» hat er die denkbar schlechtesten Startchancen.

Dazu kommt die uralte, biblische Erzählung vom Mann als Oberhaupt, Beschützer und Ernährer (s)einer Familie. Ich kann nicht für alle Männer sprechen, aber die meisten Männer meiner Generation tragen dieses Narrativ nach wie vor in sich, auch wenn sich die Gesellschaft diesbezüglich grade wandelt und neue Narrative geprägt werden.

Das gehört auch zu Patricks Verständnis von sich selber. Doch nun ist für ihn auch diese Erzählung ins Stocken geraten. Wird er vor Jana (seiner Frau) und den Kindern jemals wieder zurück in seine alte Rolle finden?

Du musst Deine Geschichte neu erzählen

«Ich wünsche mir, dass Patrick endlich wieder glücklich ist!», platzte es aus Jana heraus, als wir neulich zum Abendessen beisammen sassen. Das hat mich berührt. Ich konnte es nur zu gut nachvollziehen. Ich habe mir daraufhin vorgenommen, über unsere Glücksbilder, über die vielen uns umgebenden Erzählungen vom Glücklichsein nachzudenken und zu schreiben.

Doch nach drei erfolglosen Anläufen war mir wieder einmal klar, dass Glück kaum Stoff für eine Erzählung bietet. Es ist ein (meist nicht lange anhaltender) Zustand, der häufig am Ende einer Erzählung eintritt. Es ist der Moment, wo es im Märchen heisst: «Sie lebten glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.»

Ich wünsche mir für Patrick eine sehr begabte Dramaturgin, die ihm hilft, diese vielen Erzählfäden zu entwirren und zu einer neuen, knackigen Story zusammen zu knüpfen. Die Fortsetzung seiner Lebensgeschichte soll er als handelnde Figur wieder selber vorantreiben und prägen, sie soll so packend und wendungsreich sein, dass er sich wieder spüren und gut finden kann. Eine Story, die ihm wieder Kraft und Lebensfreude schenkt.

Momente des Glücks kommen dann ganz von selber.