Hannah Villiger in Susch
Die brennende Feder
Das Muzeum Susch zeigt eine umfassende Schau der Schweizer Künstlerin Hannah Villiger. Eine Begegnung mit dem intensiven, visionären Werk einer Künstlerin, die in ihrem kurzen Leben Erstaunliches vollbracht hat – und der heutigen Selfie-Gesellschaft um Meilen voraus war.
Chur, 22.12.2022
Ein leicht verschwommenes Panorama, ein entrückter Horizont, davor eine durch die Luft schwebende Vogelfeder, die lichterloh brennt. Hannah Villiger hat diese Aufnahme als 25-Jährige gemacht und sie schlicht «Arbeit» genannt. Die junge Künstlerin konnte damals nicht ahnen, dass diese Fotografie im Rückblick als Sinnbild ihres kurzen, intensiven Lebens gelesen werden könnte.
Das von der polnischen Mäzenin Grazyna Kulczyk 2019 eröffnete Muzeum Susch, im kleinen Unterengadiner Weiler gelegen, am Ufer des Inns, hat sich ganz auf die Kunst von Frauen spezialisiert. Nach der spektakulären, in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bern, und parallel zur dortigen Ausstellung gezeigten Schau über Heidi Bucher folgt nun das Werk von Hannah Villiger.
Kulczyk selbst schreibt über die 1997 mit nur 45 Jahren Verstorbene: «Künstlerinnen scheuen sich nicht mehr, ihre durch Krankheit oder Alter beeinträchtigten Körper zu dokumentieren und oft werden diese Kunstwerke zu Chroniken des Schmerzes. (…) Künstlerinnen malten, fotografierten und modellierten sich selbst in einer Weise, dass sich die Scham angesichts der Nacktheit und Unvollkommenheit oft in einen Moment des Stolzes wandelte.
Hannah Villiger wurde mittels der Fotografien ihres Körpers zu einer eigentlichen Bildhauerin des Leibes.»
Der eigene Körper als Medium, Scham, Nacktheit, Unvollkommenheit: Vieles davon schwingt in der von Madelaine Schuppli und Yasmin Afschar kuratierten Ausstellung mit. Über sechzig Werke haben die Ausstellungsmacherinnen in Susch zusammengetragen und präsentieren diese fast durchgehend chronologisch. Die Besucher:innen folgen so Raum um Raum, Treppe um Treppe durch das verwinkelte alte Kloster der Entfaltung dieses erstaunlich gegenwärtigen Oeuvres. Der Titel ist dabei auch Besuchsprogramm: «Amaze me».
«Ich fühle mich nicht nackt. Man entblösst sich ja nicht. Die Haut ist ein Kleid»
sagt Hannah Villiger in einem Videoporträt, das Stationen ihres kurzen Lebens beleuchtet und Einblicke in ihre Arbeitsweise gibt. Der Film lässt Villiger selbst und Weggefährt:innen zu Wort kommen und zeichnet das Bild einer Künstlerin, die nicht bloss ihren Körper schonungslos und intensiv mit ihrer Kunst verbunden hat, sondern ihre gesamte Lebensweise.
Intensive Erotik und Sinnlichkeit, ein Hang zu exzessivem Leben trotz fragiler Gesundheit – Villiger war 1980 an einer offenen Lungentuberkulose erkrankt–, gepaart mit künstlerischer Askese. Sie habe, so berichtet eine Freundin im Videoporträt, sich immer nur mit dem Nötigsten umgeben. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Ausser einer kurzen Zeit in Basel, betrieb sie nie ein Atelier. Eine Ecke in der Wohnung genügte ihr, um ihr Werk zu entwickeln. Als klassische Bildhauerin ausgebildet, wandte sie sich bald der Fotografie zu. Die eingangs erwähnte brennende Feder gehört zu diesen frühen Werken.
Seit den Achtzigerjahren, seit ihrer Isolation im Basler Kantonsspital und folgendem Sanatoriumsaufenthalt in Davos, arbeitet sie ausschliesslich mit einer Polaroidkamera und verhandelt zwei Motive: den Blick aus dem Fenster und – vor allem – ihren eigenen Körper, ihre Haut. Ein Körper, von dem sie an anderer Stelle im Film (sinngemäss) sagt:
«Wir haben den Körper, um ihn zu verschwenden. Für die Arbeit, für ein intensives Leben.»
Hanna Villiger entwickelte im Laufe der Jahre eine Arbeitstechnik, die ebenso reduziert wie hochkomplex daherkommt. Sie fotografiert ihren Körper mit besagter Polaroidkamera, wählt ungewöhnliche Perspektiven, Verrenkungen, zoomt in Details, wählt Ausschnitte, spielt mit Schärfe und Licht, soweit das mit dieser Technik überhaupt möglich ist.
Aus dem verschwenderisch produzierten Material trifft sie dann eine präzise Auswahl, kombiniert die Polas zu Blocks von mehreren Bildern, dreht und collagiert, bis wiederum ein neues Ganzes entsteht. Erst nach Abschluss dieses Prozesses, stellt sie Negative der Polas her, aus denen sie wiederum einzelne Bildtafeln von rund einem Meter im Quadrat herstellen lässt.
Anfangs sind die Blocks noch von einem gewissen Naturalismus geprägt und spiegeln das unbeschwert erotische Leben der jungen Künstlerin. Rot dominiert, Gesichter, Körper, Lippen sind noch klar als solche erkennbar. Neben der Künstlerin tritt auch ihre Liebhaberin, die Galeristin Susan Wyss, auf.
Die Bild-Asketin
Doch bald einmal kippt diese sinnliche Unbeschwertheit in eine Art Bild-Askese. Es erscheinen fast ausschliesslich Körper und Haut der Künstlerin selbst, aber mehr und mehr fragmentiert, Arme, Beine, Hände, Körperöffnungen als skulpturale Elemente inszeniert, neu zusammengesetzt, immer mehr in Abstraktionen kippend, die jedoch stets die Sinnlichkeit von Haut und Körper mittransportieren.
Genauso raffiniert schafft Villiger es, mit ihren Aufnahmen von Fensteraussichten in den Wohnungen in Basel oder in Paris Dachlandschaften oder Bäume in eine nicht naturalistische, abstrakte Bildwelt zu verwandeln.
Die höchste Komplexitätsstufe erreicht ihre Bildwelt mit dem Einsatz von Spiegeln. Es entstehen Abstraktionen, deren Herkunft nurmehr schwer auf einen Körper zurückzuführen sind. Das ist schlicht meisterhaft und betörend gemacht.
Gegen Ende des Gesamtwerks kurz vor ihrem plötzlichen Tod 1997 – scheint die «asketische Phase» auszuklingen. Mit Vehemenz kehrt die Farbe – Rot! – zurück. Und auf den letzten Bildern verschwindet der Körper beinah ganz. Villiger fotografiert Kleider. Es sind Hüllen, die jemand liegen gelassen hat, wie Haut, die abgestreift worden ist.
Das abrupte Ende
Hannah Villigers Werk in dieser schön inszenierten Übersicht zu sehen, macht augenscheinlich, dass hier eine bedeutende Pionierin der Kunstfotografie und der feministischen Kunst am Werk war. Und wie gern würde man dieser Reise weiter folgen, anstatt sie so abrupt enden zu sehen. Was wäre hier noch entstanden? Wie wäre Villiger mit der digitalen Fotografie umgegangen, die gerade zur Zeit ihres Todes aufkam?
Ihre intensiven, abstrahierenden Körperbefragungen im beinah quadratischen, heute milliardenfach genutztem Instagram-Format, sind in Zeiten von Geschlechterfluidität und Selbstermächtigungsdiskursen hochaktuell. Inmitten des unaufhörlichen Bild-Tsunamis, den wir heute erzeugen, erscheint dieses Werk wie ein erratisch erhabener Block. Es sagt: Seht her. Dies ist möglich, wenn ihr genau hinschaut, anstatt bloss rumzuknipsen, um das geknipste gleich wieder zu vergessen.
Bereits als 21-Jährige schrieb Hannah Villiger in ihr Tagebuch:
«Kunst ist kein Beruf, sondern ein Weg zur Wahrheit und Selbstverwirklichung, sowohl für den Künstler wie für den Betrachter.»
Das mit der Selbstverwirklichung hat die Generation Insta bereits begriffen. Wahrheit ist da schon schwieriger zu fassen. Aber vielleicht ist sie ja eine brennende Feder, die nur kurz auftaucht vor dem Horizont.
Hannah Villiger «Amaze me», Muzeum Susch, Susch, 4. Januar bis 2. Juli 2023
Hannah Villiger
wuchs in Cham (CH) als viertes von fünf Kindern auf, in einer Metzger- und Viehhändlerfamilie. Nach ihrem Studium an der Kunstgewerbeschule in Luzern lebte und pendelte Villiger zwischen Toronto, Rom, Montefalco und der Schweiz, bis sie sich schliesslich 1977 in Basel niederliess.
Villiger erkrankte 1980 an offener Lungentuberkulose. Trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes hörte die Künstlerin nicht auf, zu arbeiten und ihre Werke auszustellen.
Von 1981 bis 1982 unternahm sie zusammen mit Susan Wyss, mit der sie seit 1975 in einer Beziehung lebte, eine Weltreise. Anfang der 1980er-Jahre entfernte sich die Künstlerin zunehmend von der klassischen Schwarz-Weiss- und Farbfotografie und begann mit Polaroid-Kameras vor allem ihren eigenen Körper zu erkunden.
Zwischen 1992 und 1997 unterrichtete Villiger an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel, bevor sie 1997 an Herzversagen starb.
Bereits zu ihren Lebzeiten wurden Villigers Werke in bedeutenden institutionellen Ausstellungen und Biennalen gezeigt, unter anderem der 22nd Bienal de São Paulo, Brazil (1994), 9th Biennale de Paris (1975) und die 1st and 3rd Biennale Schweizer Kunst (1971 and 1978), Kunsthaus Zurich. Weitere Informationen zur Künstlerin finden Sie hier.