Grafik Literatur-Tipp

Literatur-Tipp

Utopie auf hoher See, Kochen gegen die Herbstangst und eine Portion Diskurs-Punk

Als Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel ist Marion Regenscheit professionelle Vielleserin mit einem umfassenden Überblick. Für unser Magazin schreiben sie und ihr Team jeden Monat Leseempfehlungen.

Von Marion Regenscheit

Basel, 30.08.2022

7 min

Liebe Leser:innen

Im Spätsommer falle ich regelmässig in ein Lektüreloch. Warum? Das Festivalprogramm ist fertig (es wird richtig gut!), und plötzlich will ich nicht mehr in ein Buch, sondern in den Himmel schauen. Manchmal blättere ich in einem Magazin oder höre einige Kapitel eines Hörbuchs. Am allerliebsten koche ich aber gerade den Sommer ein. «Übertriebene Herbstangst» nennen das meine Freund:innen. Dabei geht es mir gar nicht um den Herbst, sondern um den Winter.

Kennt ihr das Kinderbuch von Leo Lionni über die Maus Frederick? Dann wisst ihr, wie ich das meine. Falls nein, keine Sorge, der Buchtipp folgt weiter unten. Ausnahmsweise empfehle ich euch deshalb keine Romane, sondern ein Magazin, ein Koch- und ein Kinderbuch. Valentina Bischof aus dem Festivalteam empfiehlt euch «Auf See» von Theresia Enzensberger, und am Ende dieses Artikels verrate ich euch, was auf meinem Bücherstapel liegt.

Bis bald und geniesst den Spätsommer!
Marion Regenscheit

 

 

«Das Wetter» – Magazin für Text und Musik

«Das Wetter» ist ein bald zehnjähriges, unabhängiges Kulturmagazin aus Berlin. Es erscheint vierteljährlich, und ich freue mich jedes Mal sehr, wenn es in meinem Briefkasten liegt. Die Schwerpunkte des Magazins liegen auf so ziemlich allen Kunstformen, die sich auf die eine oder andere Art mit Text und Musik auseinandersetzen. Für mich die perfekte Mischung aus Strassen-Rap, Zeitgeist, Zeitlosigkeit, Diskurs-Punk, Pop und Literatur. 

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«Das Wetter» – Magazin für Text und Musik
In Basel zu kaufen im Open Store
 und online hier: https://wetter-magazin.com/
Lesetipp von Marion Regenscheit

«Krautkopf – Vegetarisch kochen und geniessen»

Schon seit Jahren stöbere ich gelegentlich im Food-Blog von Yannic Schon und Susann Probst. Die Fotografen haben 2018 Berlin verlassen und sind aufs Land gezogen, wo sie ein altes Siedlerhaus umbauten und sich einen riesigen Garten anlegten. Das geerntete Gemüse dient ihnen aber nicht nur zur Selbstversorgung, sondern auch als Fotomotiv. Violette Bohnen, rote Tomaten, noch erdige Rüeblis: alles wahnsinnig ästhetisch, oft auch etwas mystisch und beinahe märchenhaft dargestellt. Gedruckt gibt es inzwischen zwei Kochbücher, voll mit wunderschönen Bildern und Rezepten. «Erde, Salz & Glut» habe ich noch nicht in meiner Küche, das wird sich aber bald ändern. Ah und: Die Rezepte sind unkompliziert und wirklich leicht nachzukochen. 

 

Krautkopf – Vegetarisch kochen und geniessen Susann Probst & Yannic Schon_in Frida_Magazin

«Krautkopf – Vegetarisch kochen und geniessen»
und
«Erde, Salz & Glut» 
Susann Probst & Yannic Schon.
Beide Bücher im Hölker Verlag, 2015 und 2021 erschienen.
Buchtipp von Marion Regenscheit

Leo Lionni: «Frederick»

Der moderne Kinderbuchklassiker des italienischen Autors, Malers und Grafikers Leo Lionni wurde 1967 veröffentlicht. Die Maus Frederick sammelt darin im Herbst nicht wie ihre Mäusefreund:innen Vorräte für den langen Winter, sondern konzentriert sich auf die Wärme des Spätsommers: sammelt Licht, Farben und Wörter.

Besonders an Leo Lionnis Illustrationsstil ist neben dem Gebrauch von unterschiedlichen Techniken und Materialien (bei Frederick sind es Tapete, Zeitungspapier und farbiger Karton) auch die Reduzierung der Geschichte auf das Wesentliche. Und mit «das Wesentliche» meine ich nicht nur die grafischen Bilder und die eingängige Erzählung, sondern auch die Fragen, die diese Kindergeschichte aufwirft: Was macht mich glücklich? Was fühlt sich gut an? Woran möchte ich mich erinnern? Ihr wisst, was ich meine. Oder? Und vermutlich jetzt auch, warum am Samstag Sugo gekocht wird!

Leo Lionni: «Frederick» Frida Magazin

Leo Lionni: «Frederick»
Julius Beltz Verlag
Buchtipp von Marion Regenscheit

 

Theresia Enzensberger: «Auf See»

«Auf See», das neue Buch von Theresia Enzensberger, ist auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Gelungen ist der Berliner Autorin eine Mischung aus journalistischem Dokumentarismus und dystopischem Roman.

Vineta – das Atlantis der Ostsee – ist nicht das glanzvolle libertäre Wunschparadies, das alle Yada glauben machen wollen. Als Tochter des Gründungsvaters der schwimmenden Seestadt ist sie seinem Gehirnwäscheregime in besonderem Masse ausgeliefert. Nach und nach befreit sie sich aus ihrer Unwissenheit und ergreift die Flucht. Zurück lässt sie ihre grosse Liebe und einen morbiden Inselstaat, der kurz vor einem Putschversuch seinem ungewissen Schicksal entgegentreibt.

Ausserhalb kämpft Yada ums Überleben in einer ihr unbekannten Realität. Schliesslich findet sie ihre verloren geglaubte Mutter als erfolgreiche Künstlerin in Berlin wieder. Ständig auf der Flucht und im Wahn einer neoliberalen Gesellschaft gefangen, muss sie erkennen, dass auch diese Welt hier draussen nicht besser ist als das vermeintliche Inselparadies.

«Auf See» ist eine beunruhigende Zeitdiagnose. Aus mehreren Perspektiven wird gezeigt, wohin fehlgeleitete Idealgesellschaften führen, jetzt, und in unmittelbarer Zukunft. 

Theresia Enzensberger: «Auf See» Hanser Verlag, 2022, im Frida magazin

Theresia Enzensberger: «Auf See»
Hanser Verlag, 2022
Buchtipp von Valentina Bischof

Weitere Empfehlungen

Auf dem Bücherstapel von Marion Regenscheidt liegen zurzeit folgende Werke:

Kim de l’Horizon: «Blutbuch»

Linda Boström Knausgård: «Oktoberkind»

Usama Al Shahmani: «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt»

Tsitsi Dangarembga: «Verleugnen»
Das Buch der Trilogie und erscheint zwar erst am 15. September, aber die beiden Bücher davor sind da:

Claudia Schumacher: «Liebe ist gewaltig»

Mohsin Hamid: «Der letzte weisse Mann»

 

 

Marion Regenscheit ist Leiterin des Literaturfestivals BuchBasel und eine chronische Vielleserin. Sie ist ständig von Büchern umgeben, sieht Bücher als ein gesellschaftliches Phänomen, liebt Geschichten und ist fasziniert von Schnittstellen und Interfaces aller Art – selbstverständlich besonders dann, wenn Bücher und ihre Leser:innen involviert sind.