Theater
Der Festival-Blog
Die beiden angehenden Kulturjournalistinnen Shannon Hughes und Aline Schmassmann haben mit dem FRIDA-Team täglich über das Theaterfestival Basel 2022 berichtet: Podcasts, Interviews, Hintergründe und Kritiken.
Basel, 24.08.2022
Das Ende ist schon da
Das Ende am Anfang, der Anfang am Ende: Mit der Erstaufführung «Wie Alles endet» von Manuela Infante schliesst das Theaterfestival Basel 2022. Zum Abschluss des Festival-Blogs und dem Festival-Podcast «FRIDA Face to Face» verabschieden sich Aline Schmassmann und Shannon Hughes – ganz natürlich per Audio.
To close off the Festival-Blog and the podcast «FRIDA Face to Face», Aline Schmassmann and Shannon Hughes take the time to reflect and say goodbye – by audio that is.
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Was ist ein Schwan ohne Flügel?
Buhle Ngaba zeigt «Swan Song» am Theaterfestival Basel. Bild: Leopold Frechow
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In our final episode of FRIDA Face to Face, Aline Schmassmann and Shannon Hughes meet the writer and performer of «Swan Song», Buhle Ngaba. Buhle is a South African artist, who started «Swan Song» as a poem and grew it into a captivating solo performance. The portruding shoulder blades of her character are the central theme of the play that explores the journey to self-acceptance. In our talk, Buhle discusses diverse forms of love and her relationship to her piece.
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Verzerrte Freiheit
Cherish Menzo zeigt «Jezebel» am Theaterfestival Basel. Bild: Bas De Brouwer.
Cherish Menzo is «FRIDA Face to Face’s» fourth guest who shares words to her dance performance «Jezebel» . In the piece, beautiful and grotesque elements are combined to bring novel experiences to the audience and herself as a performer. The Dutch choreographer and dancer speaks about empowering the video vixens, the hyper-sexualized female-presenting models who appeared in many hip-hop music videos throughout the 1990s, as well as matters of gender and body representation.
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Schlummernde Tiefsinnigkeit
«This Song Father Used To Sing (Three Days in May)» am Theaterfestival Basel. Bild: Wichaya Artamat
Es ist vier Uhr in der Nacht. Wir treten ein in eine bescheidene Wohnung in Bangkok. Die Küchenlampe spendet schummriges Licht, die Hitze drückt und durch das Fenster drängt der späte Strassenlärm einer Grossstadt. Ein erwachsenes Geschwisterpaar sitzt erschöpft am Küchentisch, der Tag war lang und immerzu nervt die Milben-Allergie.
Wir haben reichlich Zeit, das naturalistische Bühnenbild und die Geschwister in ihrem privaten Sein zu beobachten, bevor melancholische Klavierklänge das Stück einleiten. Die gewöhnliche Alltagssituation wird durch gewöhnliche Wortwechsel weitergeführt. Der Bruder scrollt abwesend auf seinem Mobiltelefon, während sich die Geschwister nebenbei über ihre aktuellen Lebenssituationen informieren. Zwar ist der Umgang vertraut, doch scheinen unsere Geschwister auseinandergelebt. Es ist lediglich der Todestag des Vaters, der die beiden alljährlich in ihrer alten Familienwohnung zusammenkommen lässt.
Sehnsucht nach Familie
Dieses Bild bleibt in den nächsten hundert Minuten so bestehen. Wir bleiben stille Beobachtende, während das Geschwisterpaar in Erinnerung an den Vater schwelgt. In unregelmässigen Abständen werden wir Teil von dreien dieser jährlichen Treffen und tauchen gänzlich in das thailändische Geschwisterleben ein. Im Stück sind wir stets Besuchende, nie Publikum.
Es ist eben diese unverstellte und gelassene Präsentation der Charaktere, welche feine Nuancen erkennen lässt. Unter oberflächlichen Nörgeleien und banalen Streitereien entpuppen sich langsam zwei verlassene Kinder mit Sehnsucht nach Familiengefühl. Ihren Vater scheinen sie nur begrenzt zu kennen, diskutieren über seine Vorlieben, sind unsicher über den Bestattungsort und sogar über seinen genauen Todestag. Und doch – auch wenn die Erinnerungszeremonien stets unbeholfen und etwas achtlos scheinen, so spüren wir mehr und mehr die Liebe für den gegangen Vater und für das, was einst Familie war.
Vaters Song und Vaters Zigarette
Gerade wegen des konstant robusten Umgangs der Geschwister miteinander, berührt es umso mehr, wenn vereinzelt sensible Momente zum Vorschein kommen. So etwa, wenn der Bruder nach langen Gesprächen in Gedanken versinkt und leise eine Melodie zu summen beginnt. Eine Melodie, welche seine Schwester sofort erkennt – es ist das Lied, das Vater immer sang, the song father used to sing.
Jeden frühen Morgen, immer noch den Mond im Blick. Es ist diese eine Erinnerung, die ihnen gemeinsam ist. Besagtes Lied erklingt sanft im Hintergrund und die Geschwister nähern sich dem grossen Küchenfenster. Die Balkontür wird geöffnet und unser Bruder tritt heraus und zündet still eine Zigarette an. Oft hatten Vater und er heimlich zusammen geraucht, diese Zigarette teilt er mit ihm. Wir schauen durch die offene Balkontür und betrachten die Silhoutte eines rauchenden Sohnes, welcher zurückgelassen zum Himmel schaut. Die Tochter lehnt am Fenster und betrachtet den Sternenhimmel. Der Moment wird umarmt mit Vaters Lied, allgegenwärtig im Hintergrund.
Politik als feine Andeutung
Autor und Regisseur Wichaya Artamat gilt als führende Person in Thailands zeitgenössischer Theaterszene. Mit «This Song Father Used To Sing (Three Days In May)» gibt er uns Einblick in eine hier seltene Inszenierungsweise und nimmt uns mit in eine andere Welt. Unter den Gesprächen lässt Artamat zwischenzeitlich auch kurz gesellschaftliche und politische Probleme Thailands aufblitzen. Dies jedoch immer nur als feine Andeutungen, die mit entsprechendem Hintergrundwissen eine noch weitere Ebene öffnen.
«This Song Father Used To Sing (Three Days in May)», Mittwoch, 31. August, 19 Uhr, Junges Theater Basel.
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Was bleibt, sind Begeisterung und Fragen
«Hmadcha, Hors du Monde» von Taoufiq Izeddiou am Theaterfestival Basel. Bild: Agnès Mellon
«Hmadcha, Hors du monde», nicht von dieser Welt, nennt Taoufiq Izeddiou, sein Stück, das in Europa tourt und am Basler Festival zu sehen war. In Frankreich zum Choreografen ausgebildet, gründete er 2001 die erste Kompanie für zeitgenössischen Tanz in Marokko und betreibt seit kurzem eine Tanzschule in Marrakesch.
Izeddiou habe, so steht es im Programmheft, als Kind an einer «Hmadcha» beigewohnt, einer Sufi-Zeremonie, wie sie heute noch beispielsweise in Essaouira praktiziert wird. Der Schweizer Filmemacher Luca Lüdi hat 2011 einen Dokumentarfilm über diese Trance-Sessions gedreht, bei der die Psyche der Teilnehmenden gereinigt werden soll. Eine Art Familien-Seance in Innenhöfen, mit Musik, Essen, Tanz, nächtelang. In der marokkanischen Hafenstadt findet zudem jährlich das Gnaoua-Musikfestival statt, das ebenfalls der Musik der Sufis und neuer Formen derselben gewidmet ist.
Nicht von dieser Welt sein, tanzen bis zur ekstatischen Trance, Eins-Sein mit Gott oder dem Universum – das ist vor allem eine innere, mystische Erfahrung. Und so stellt sich bereits zu Beginn der Aufführung die Frage, ob ein solcher Zustand überhaupt dargestellt werden kann. Es ist eine von vielen Fragen, die dieser Abend evoziert. Um ihnen folgen zu können, hier eine Kurzbeschreibung des Gesehenen.
Erster Teil
Die Tänzer, in schwarze Hosen gewandete Asketen, zelebrieren zu pupendem Minimal-Elektro Formen des ekstatischen Tanzes. Artistisch, schnell, schweisstreibend, repetitiv, kopfschüttelnd, sich im Kreise drehend, sehr körperlich, sehr männlich, sehr ernst.
Zweiter Teil
Der unrhythmische Teil. Elektrische Gitarre, eine Art Luft-Schwert-Kampf, nochmals das grosse Sich-Drehen.
Dritter Teil
Pianomusik, die aus einem europäischen Fin-de-siècle-Salon stammen könnte. Die schwarzen Hosen sind gefallen. Farbige Shorts kleiden die – übrigens wohltuend unterschiedlich geformten – Männerkörper. Wohltuend, weil hier kein Schönheitsideal praktiziert wird. Sie strecken sich gen Himmel. Eine Lautsprecherstimme sagt auf Französisch einen Text, aus dem ich das Wort «Dieu» heraushöre.
Vierter Teil
Taoufiq Izeddiou, selbst mittanzend, wandelt sich zu einer Art Speaker oder Beschwörer der Szenerie. Er spricht Arabisch, und es ist wiederum das Wort Allah zu verstehen. Dann beginnt die Truppe mit traditionellen Sufi-Trommeln und einer mit den Fussohlen betriebenen Beat-Machine ein ganz neues Ritual. Die Musik spielt jeweils für einzelne Tänzer. Der Reigen wird farbig, froh, die Ernsthaftigkeit des Beginns ist einem Lachen gewichen.
Epilog
Das stehende Publikum in der Kaserne klatscht und tanzt ebenfalls.
Es bleiben Fragen
Zweifellos: Dieser Tanzabend ist ein Ereignis. Eines, das aber auch nicht so einfach entschlüsselbar ist. Als europäisches Publikum verpassen wir wohl 80 Prozent der eingewobenen Codes und Formen, was im Grunde auch immer ein etwas unangenehmes Erlebnis ist. Könnte ja sein, dass wir nur mangels Referenzen so begeistert sind.
Ein inspirierendes Erlebnis ist der Besuch aber gerade auch wegen der Fragen, die er hinterlässt:
- War das nun eine Hommage an die Sufi-Tradition?
- Oder eine Kritik an ihre hochdisziplinierten Techniken, die nur Eingeweihten zugänglich sind?
- Ist die Aufforderung am Schluss, selbst zu tanzen, eine Absage an diese geschlossenen Zirkel, im Sinne von: Die Ekstase gehört allen?
- Welche Rolle spielt hier «Dieu» oder «Allah»?
- Sind die Texte so unwichtig, dass sie nicht übersetzt werden?
- Legen die Asketen ihr Gewand ab, um einer neuen, vielleicht sogar queeren Form von Tanz und Ekstase Platz zu machen?
- Und wo sind die Frauen in diesem ganzen Reigen? (In Taoufiq Izeddious Truppe und Schule tanzen auch Frauen).
- Ist Mystik reine Männersache?
- Die Kunst liegt im Auge des Betrachters. Ist dieser Leitsatz aus der europäischen Moderne noch zeitgemäss und auf einen globalen Austausch anwendbar?
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«Europa ist eine globale Konstruktion»
«Mitsouko & Mitsuko» von Michikazu Matsune am Theaterfestival Basel. Vorstellungen am Mittwoch, 31. August, 20 Uhr, und Donnerstag, 1. September, 19 Uhr. Bild: Elsa-Okazaki
Eine Einladung zur Gutmütigkeit
«Scores That Shaped our Friendship», Bild: Martina Marini Misterioso
The theatre festival podcast «FRIDA Face to Face» presents its second talk. Aline Schmassmann and Shannon Hughes invite the performers of the German-Polish production «SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP» to speak on the importance of strong friendships. The voices of Lucy Wilke (she/her), Pawel Duduś (they) and Kim_Twiddle (she/they) encourage the audience to enjoy playfulness more lightheartedly.
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Der Neubau der Kaserne als spektakuläre Bühne
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Geschichte braucht verschiedenen Perspektiven
Sankar Venkateswaran (links) hat am Theaterfestival Basel mit «My Name is Tamizh» Premiere gefeiert. Bild: Katharina Seibt
In the first episode of the theatre festival podcast «FRIDA Face to Face», Aline Schmassmann and Shannon Hughes meet Indian theatre director Sankar Venkateswaran, member of the programme board of Theaterfestival Basel. They discuss his piece, «My Name is Tamizh», which deals with the aftermath of the Sri Lankan civil war through a series of personal monologues. Intracultural exchange, the sharing of stories and the question of understanding are central in this talk.
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Eine Feier auf das Leben
Die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues hat mit «Encantado» das Basler Publikum begeistert.
Lia Rodrigues und ihre Companhia de Danças zeigen «Encantado». Bild: Sammi Landweer
Mit Lia Rodrigues und ihrer Companhia de Danças holt sich das Theaterfestival Basel hohen Besuch ins Haus. Die Brasilianerin Lia Rodrigues ist international mehrfach preisgekrönte Tänzerin sowie Choreographin und gilt als zentrale Figur des zeitgenössischen Tanzes Südamerikas. Bereits seit 1990 führt sie ihre Companhia de Danças und gründete 2004 ihre kostenfreie Tanzschule mit Kulturzentrum in einem der grössten Favelas Rio de Janeiros. Lia Rodrigues ist fraglos eine Frau mit erwähnenswertem sozialen Engament, doch ist sie auch bewundernswerte Künstlerin – und als diese wollen wir sie heute betrachten.
«Encantado» heisst Rodrigues aktuelles Tanzstück, welches sein Publikum letzten Donnerstag in einer Standing Ovation hinterliess. «Encantado» ist portugisisch und heisst übersetzt «verzaubert, entzückt, begeistert» – eine gekonnte Beschreibung der vermittelten Stimmung.
Zu Stückbeginn lässt sich noch schwer erahnen, was die Companhia de Danças die nächsten sechzig Minuten bieten wird. Die Bühne liegt einsam und verlassen als schwarze Leere da, lediglich am hinteren Rand lässt sich eine bunte Stoffrolle erahnen. Es herrscht schwere Stille, als die Darstellenden seitengleich die Bühne betreten und sich zur Stoffrolle begeben. Ihre Bewegungen sind ruhig und bedacht, während sie gemeinsam die Rolle in unsere Richtung ausbreiten. Durch den Verzicht auf klangliche Untermalung und auffallende Bewegungen wird der Fokus bewusst auf die visuelle Veränderung der Bühne gelegt. Wo vorher noch leere Dunkelheit herrschte, leuchtet nun ein flächendeckender, kunterbunter Teppich aus mehreren Stoffen in verschiedensten Mustern und Farben. Die erste Verwandlung hat stattgefunden, die Darstellenden treten ab, die Bühne ist bereit für die Companhia de Danças.
Die ewige Verwandlung als Konstante
Es ist diese Art des Spannungsaufbaus und der bewussten Fokussetzung, die das Stück prägen. Auch die ewige Verwandlung zieht sich durch «Encantado». Denn obwohl die Tanzenden im folgenden Akt noch komplett entkleidet und isoliert auf die Bühne treten und sich in ruhigen Bewegungen unter Tüchern verstecken, so bleibt am Ende des Stücks eine komplett andere Stimmung in Erinnerung.
Im Verlauf der Aufführung treten die Tanzenden immer mehr miteinander und auch mit dem Publikum in Kontakt. Sie verwandeln sich in bunt gekleidete Tiere, Fabelwesen, Geister, Freund:innen und Familien, verharren jedoch nie länger in ihren Rollen. Der ganze Abend ist geprägt durch diese stete Veränderung, nur die Lebensfreude und die Intensität der Hintergrundmusik wachsen konstant.
In dem anfangs stillen und leeren Bühnenbild findet sich gegen Schluss eine kraftvoll tanzende Truppe, welche als Gemeinschaft spielerisch und kokett ihre bunten Tücher schwingt. Auch die zu Beginn lang nicht vorhandene Hintergrundakustik tritt erstmals als zartes Rasseln auf und intensiviert sich stetig, um in einer erfüllenden, omnipräsenten Melodie aus rhythmischen Trommeln und feierlichem Charakter zu enden.
Feierlichen Charakter hat «Encantado» zweifellos. Wer am Ende auf die Bühne schaut, blickt auf einen Boden mit wild verteilten, kunterbunten Tüchern. Es ist klar, hier wurde getanzt, hier wurde gespielt, hier wurde gelebt.
Lia Rodrigues erzählt uns im Nachgespräch, wie die Truppe das Tanzstück in Zeiten der Pandemie entwickelte. Auch diese Zeit begann in einsamer Abgrenzung, erlaubte nur zögerlich erste Begegnungen, lehrte letztendlich aber grosse Freude und Dankbarkeit für ein Leben in Gemeinschaft und Verbundenheit. «Encantado», eine Feier auf das Leben, die Verbundenheit und den ständigen Wechsel.
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Schöner neuer Pavillon – aber zu teuer?
Nach diversen Zwischenlösungen besitzt das Festival nun einen eigenen Pavillon. Schön luftig, grosszügig. Aber es gibt auch Kritik. Vor allem an den Kosten.
Der neue Festival-Pavillon auf dem Kasernenareal sorgt für Gesprächsstoff. Bild: Katharina Seibt
Das neue Festivalzentrum auf der Kasernenwiese gibt bei den Gästen zu reden. 200’000 Franken habe der Bau gekostet. 10’000 Franken koste der Auf- und Abbau. Der Pavillon soll in Zukunft auch von anderen Kulturinstitutionen und Festivals genutzt werden können. Das könne sich ja kaum ein anderer Veranstalter leisten, wird moniert.
Wir haben bei Thomas Keller nachgefragt, ob diese Zahlen stimmen. Der Geschäftsleiter der Kaserne und des Theaterfestivals hat die Planung, Finanzierung und den Bau eng begleitet.
In der Vergangenheit wurde der Festival-Pavillon alle zwei Jahre von Szenografie-Student:innen der Fachhochschule Nordwestschweiz neu konzipiert. Eine zwar schöne, aber auch aufwendige Idee, so Keller. Im Jahr 2020, es gab ein Sommerloch in der Pandemie, konnte das Festival kurzfristig durchgeführt, der Pavillon vom Theaterspektakel Zürich ausgeliehen werden. Einmalig, da die Zürcher den Bau nun auch wieder brauchen. So entstand die Idee, selbst ein Festival-Pavillon zu bauen.
Entworfen hat ihn der Architekt Ralph Müller, der bereits zahlreiche mobile Bauten für das Spektakel in Zürich gebaut hat. Nachhaltigkeit war Vorgabe: Schweizer Holz und Schweizer Firmen. Gekostet hat der Pavillon 230’000 Franken. Finanziert wurde er zum Grossteil über Transformationsgelder von Kanton Baselstadt und Bund. Die Kaserne und das Festival bezahlten den Rest.
Entgegen der landläufigen Meinung unterstützt der in der Pandemie entstandene Transformations-Fond nicht nur digitale Projekte, sondern eben auch solche, die zur Publikumsgewinnung und -pflege dienen. Ein Pavillon kann da anscheinend auch dazu gehören.
Laut Keller war immer geplant, dass der mobile Bau nicht nur dem Theaterfestival und der Kaserne zur Verfügung steht, im Gegenteil. Bereits im Vorfeld habe man eine Bedarfsabklärung bei Institutionen wie dem Theater Basel, dem Museum Tinguely oder dem Bildrausch Festival gemacht. Das Signal sei klar gewesen: Es besteht Bedarf und der Pavillon würde auch von anderen Institutionen genutzt.
Aber 10’000 Franken für Auf- und Abbau, wer kann und will sich das leisten? Und warum so teuer?
Dem Info-Blatt zum Pavillon ist zu entnehmen: Es braucht drei Tage Aufbau-, zwei Tage Abbauzeit mit jeweils sechs Personen. Plus Transportkosten.
Keller sagt zur Kritik am stolzen Mietpreis: «Es war immer klar, dass dieser Bau nicht für ein bis zwei Tage Nutzung konzipiert ist.» Es lohne sich nur, wenn eine Veranstaltung oder ein Festival länger dauere. «Oder wenn sich Veranstalter mit der Nutzung zusammenschliessen», so Keller. Heisst: Festivals die nacheinander am selben Ort stattfinden, könnten sich die Kosten teilen. Was z.B. beim Polyphon- und Treibstoff-Festival bereits angedacht sei.
Und Keller sagt auch: «Alle reden immer von Nachhaltigkeit. Anstatt, dass jeder seinen eigenen Pavillon baut, hat man jetzt Gelegenheit, Synergien zu nutzen.»
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«Eine Matratze zum Schlafen reicht mir »
Sandro Lunin hat den internationalen Austausch von Tanz- und Theaterproduktion in der Schweiz die letzten Jahrzehnte massgeblich mitgeprägt. Nun läuft in Basel das vorerst letzte von ihm kuratierte Festival. Ein Rückblick auf den Werdegang dieses Spezialisten für globales Theaterschaffen.
Wie ist Sandro Lunin zum Spezialisten für globales Theater geworden? Warum sieht er sich nicht als Entwicklungshelfer, und was macht er nach seiner letzten Festivalausgabe? Die Antworten gibt es hier
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Unglaublich ehrlich und nah
«Die Zukunft ist zum Glück immer schwer zu glauben» – Los Años von Mariano Pensotti zeigt, wie verworren die Zeit sein kann.
Der argentinische Regisseur Mariano Pensotti hat mit «Los Años» das Theaterfestival Basel eröffnet.
Bild: Isabel Machado Rias
Das Eröffnungsstück des Theaterfestivals Basel, «Los Años» des argentinischen Autors und Regisseurs Mariano Pensotti, erzählt eine vielschichtige Familien- und Künstlergeschichte, in der die Zeit sich dreht und wendet.
Zwischen der Vergangenheit 2020 und der imaginierten Gegenwart 2050 springt das Stück hin und her, und das von Bühne zu Bühne. Klirrend wirkt die Vergangenheit 2020, weil sie für das Publikum nur zwei Jahre zurück liegt. Von der Zukunftsperspektive aus beschrieben tritt sie aber erschreckend genau auf, auch wenn dann und wann ein Augenzwinkern dabei ist.
Der ehemalige Architekt Manuel, der mit einem zufällig entstandenem Dokumentarfilm Berühmtheit erlangt, Argentinien für die Kunst verlässt und an einem eintönigen Lehrstuhl an einer deutschen Universität landet, kehrt nach 30 Jahren zurück nach Buenos Aires. Dort will er sich seiner entfremdeten Tochter Laura und seiner Vergangenheit wieder annähern. Beides ist schwieriger als erhofft.
Die Handlung spielt in ein und derselben Wohnung, die doppelt auf der Bühne zu sehen ist. Getrennt werden die beiden Bühnenhälften durch die Jahre. Eine weitere Erzählebene wird durch die Projektion des Durchbruchfilms von Manuel geschaffen, der vom Jungen Raùl handelt, der plötzlich alleine leben muss.
Der Film beeinflusst das Leben von Manuel und den Menschen um ihn durch die Zeit. Konflikte, Liebschaften und Selbstverwirklichung werden an die Dokumentation der Geschichte eines Fremden, des Kindes Raùl, gebunden. Das Filmische prägt nicht nur die Handlung auf der Bühne, sie fliesst auch in die Erzählweise ein, die eher der einer Serie als einem zeitgenössischen Theaterstück gleicht. Kein Wunder in einer Welt, in der die «Goldene Zeit des Fernsehens» schon lange eingeläutet wurde, und die Serienfülle immer wieder aus dem hier und jetzt lockt.
Besonders die Metaebenen, die sich gegen Ende des Stücks anbahnen, erinnern an vergangenes Theaterschaffen, orientieren sich aber auch an Serienhits der letzten Jahre. Durch die stringente Erzählweise bleiben die verschieden Zeitebenen und die Rollenwechsel fassbar, auch wenn sie immer dynamischer bespielt werden. Und wie im Stück deklariert wird: Originalität gibt es schon lange nicht mehr.
Spiegelungen in Musik und Text
Eine Fülle an Themen fliesst in «Los Años» ein: gegenwärtiger Weltschmerz, Theater im Theater, Zukunftssatire, Postkolonialismus, Identitätssuche – aber besonders ist es die Spiegelung, die das Stück gesamthaft formt und bewegt. Begonnen bei der Musik, die den tickenden Lauf der Zeit vertont. Der sachte Anfang kulminiert immer wieder in Klänge, die Veränderungen und Konflikte mit ihrer Intensität quasi vorwegnehmen. Diese Beschleunigungen werden in der zweiten Hälfte des Stücks von einem Gitarrenkonzert aufgelöst, kehren aber danach wieder zurück und verlaufen in die weichen Töne des Anfangs.
Gespiegelt wird auch im Text: Manuel wiederholt denselben Satz mit fast 30 sowie mit fast 60 Jahren, und geteilte Satzfetzen werden über die Bühnen – also die Zeitebenen – geworfen. Charaktere wandern über die Spiegellinie zwischen den beiden Bühnen und werden älter – oder stellen wen ganz anderes dar.
Mit den vielen Spiegelungen des Stücks kommen auch Verzerrungen. Diese äussern sich in den Wahrnehmungen der Figuren zu ihren Beziehungen, ihren Überzeugungen und besonders sich selbst. Erst als die Zeiten vollkommen in einander überfliessen, und sich die beiden Versionen von Manuel gegenüberstehen, werden sie sich über die eigenen Grenzen klar. «Los Años» ist unglaublich ehrlich und nah, gerade auch mit sich selbst.
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Sandro Lunin und sein Team eröffnen das Theaterfestival Basel. Bild: Mathias Balzer
Das Theater als Chance
Während sich die Spätsommersonne hinter den Türmen der Kaserne Basel verabschiedet, begrüssen und begutachten sich eintrudelnde Kulturliebhabende im Innenhof. Inmitten von diesem blitzt hellweiss der frisch errichtete Kulturpavillon und empfängt seine Gäste. Begrüssungsküsse, klirrende Apérogläser und die pinkstrahlenden Banner lassen erahnen – das Theaterfestival Basel 2022 möchte eröffnet werden.
Neugierde und Vorfreude werden erhört und Festivalleitung Sandro Lunin betritt die Bühne. Lunin heisst willkommen, stellt uns stolz die diesjährigen Programm-Kuratierenden vor und leitet über an Grussreden von Stephanie Eymann (Regierungsrätin Kanton BS), Esther Roth (Amtsleiterin Kultur Kanton BL) und Sankar Venkateswaran (Mitglied Programmgruppe Theaterfestival Basel).
Hält sich der Ton anfangs noch leicht, während Frau Eymann freudig über aufregende Festivalerneuerungen berichtet, so knickt dieser zwischenzeitlich auch immer wieder ein, wenn sich die Redenden an die vergangenen Pandemiejahre erinnern müssen. Ein bekanntlich tiefer Schlag für Kulturschaffende weltweit, mit noch sensibler Wunde im Heilungsprozess.
Der Ton wandelt sich aber auch teils von gebrochen zu kräftig. So etwa, wenn uns Esther Roth auffordert, Verantwortung zu übernehmen und die Kraft des Theaters zu erkennen. Theater als Chance, den Blick auf Ungerechtigkeiten ausserhalb privilegierter Positionen zu wenden. Theater als Chance, Erfahrungen mitzuempfinden, ohne diese selbst erleben zu müssen. Theater als Chance auf Reflektion, Mitgefühl und Veränderung.
Das Theaterfestival Basel offeriert uns die kommenden zwölf Tage eine Vielfalt von Einblicken in andere Welten und Konflikte. Das Ende der Festivaleröffnung entlässt ein motiviertes Publikum in die Sommernacht – auf zum ersten Einblick mit Eröffnungsstück «Los Años»!
FRIDA hat Besucher:innen und Theaterschaffenden zu ihren Vorfreuden, Stück Empfehlungen und Gedanken zum Theaterfestival Basel 2022 befragt. Die Collage zur Eröffnung des Festivals gibt es hier zu hören: