«Hmadcha, Hors du monde», nicht von dieser Welt, nennt Taoufiq Izeddiou, sein Stück, das in Europa tourt und am Basler Festival zu sehen war. In Frankreich zum Choreografen ausgebildet, gründete er 2001 die erste Kompanie für zeitgenössischen Tanz in Marokko und betreibt seit kurzem eine Tanzschule in Marrakesch.
Izeddiou habe, so steht es im Programmheft, als Kind an einer «Hmadcha» beigewohnt, einer Sufi-Zeremonie, wie sie heute noch beispielsweise in Essaouira praktiziert wird. Der Schweizer Filmemacher Luca Lüdi hat 2011 einen Dokumentarfilm über diese Trance-Sessions gedreht, bei der die Psyche der Teilnehmenden gereinigt werden soll. Eine Art Familien-Seance in Innenhöfen, mit Musik, Essen, Tanz, nächtelang. In der marokkanischen Hafenstadt findet zudem jährlich das Gnaoua-Musikfestival statt, das ebenfalls der Musik der Sufis und neuer Formen derselben gewidmet ist.
Nicht von dieser Welt sein, tanzen bis zur ekstatischen Trance, Eins-Sein mit Gott oder dem Universum – das ist vor allem eine innere, mystische Erfahrung. Und so stellt sich bereits zu Beginn der Aufführung die Frage, ob ein solcher Zustand überhaupt dargestellt werden kann. Es ist eine von vielen Fragen, die dieser Abend evoziert. Um ihnen folgen zu können, hier eine Kurzbeschreibung des Gesehenen.
Erster Teil
Die Tänzer, in schwarze Hosen gewandete Asketen, zelebrieren zu pupendem Minimal-Elektro Formen des ekstatischen Tanzes. Artistisch, schnell, schweisstreibend, repetitiv, kopfschüttelnd, sich im Kreise drehend, sehr körperlich, sehr männlich, sehr ernst.
Zweiter Teil
Der unrhythmische Teil. Elektrische Gitarre, eine Art Luft-Schwert-Kampf, nochmals das grosse Sich-Drehen.
Dritter Teil
Pianomusik, die aus einem europäischen Fin-de-siècle-Salon stammen könnte. Die schwarzen Hosen sind gefallen. Farbige Shorts kleiden die – übrigens wohltuend unterschiedlich geformten – Männerkörper. Wohltuend, weil hier kein Schönheitsideal praktiziert wird. Sie strecken sich gen Himmel. Eine Lautsprecherstimme sagt auf Französisch einen Text, aus dem ich das Wort «Dieu» heraushöre.
Vierter Teil
Taoufiq Izeddiou, selbst mittanzend, wandelt sich zu einer Art Speaker oder Beschwörer der Szenerie. Er spricht Arabisch, und es ist wiederum das Wort Allah zu verstehen. Dann beginnt die Truppe mit traditionellen Sufi-Trommeln und einer mit den Fussohlen betriebenen Beat-Machine ein ganz neues Ritual. Die Musik spielt jeweils für einzelne Tänzer. Der Reigen wird farbig, froh, die Ernsthaftigkeit des Beginns ist einem Lachen gewichen.
Epilog
Das stehende Publikum in der Kaserne klatscht und tanzt ebenfalls.
Es bleiben Fragen
Zweifellos: Dieser Tanzabend ist ein Ereignis. Eines, das aber auch nicht so einfach entschlüsselbar ist. Als europäisches Publikum verpassen wir wohl 80 Prozent der eingewobenen Codes und Formen, was im Grunde auch immer ein etwas unangenehmes Erlebnis ist. Könnte ja sein, dass wir nur mangels Referenzen so begeistert sind.
Ein inspirierendes Erlebnis ist der Besuch aber gerade auch wegen der Fragen, die er hinterlässt:
- War das nun eine Hommage an die Sufi-Tradition?
- Oder eine Kritik an ihre hochdisziplinierten Techniken, die nur Eingeweihten zugänglich sind?
- Ist die Aufforderung am Schluss, selbst zu tanzen, eine Absage an diese geschlossenen Zirkel, im Sinne von: Die Ekstase gehört allen?
- Welche Rolle spielt hier «Dieu» oder «Allah»?
- Sind die Texte so unwichtig, dass sie nicht übersetzt werden?
- Legen die Asketen ihr Gewand ab, um einer neuen, vielleicht sogar queeren Form von Tanz und Ekstase Platz zu machen?
- Und wo sind die Frauen in diesem ganzen Reigen? (In Taoufiq Izeddious Truppe und Schule tanzen auch Frauen).
- Ist Mystik reine Männersache?
- Die Kunst liegt im Auge des Betrachters. Ist dieser Leitsatz aus der europäischen Moderne noch zeitgemäss und auf einen globalen Austausch anwendbar?