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FRIDA Magazin am Zürcher Theater Spektakel

Theater

Zürcher Theater Spektakel

FRIDA ist zu Gast am Zürcher Theater Spektakel: Porträts, Hintergründe und Kritiken von Jana Avanzini, Anja Nora Schulthess und Mathias Balzer.

Von FRIDA-Redaktion

Zürich, 11.08.2023

17 min

Renata Carvalho – allein in der ersten Reihe

Die Schauspielerin Renata Carvalho wurde zu Beginn ihrer Karriere in Brasilien ignoriert. Mit zunehmendem Erfolg erhielt sie auch zunehmend Todesdrohungen. Heute ist sie eine preisgekrönte, international gebuchte Künstlerin und Trans-Aktivistin. Wir haben sie in Zürich getroffen.

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Lebender Kompost

Mit dem performativen Parcours «The School of Mountains and Water. Mountains in Resistance», einer Art Audio-Walk, will die Regisseurin Amanda Piña nichts Geringeres als die Teilnehmenden dazu zu bewegen, koloniales Denken zu verlernen. Ein Lehrstück darüber, warum Theater selten die richtige Form ist, um belehrend moralische Empörung zu vermitteln.

Von Anja Nora Schulthess

Rund 50 Personen versammelten sich am Freitagabend beim Schiffsteg auf der Landiwiese um am performativen Parcours teil zu nehmen. Kopfhörer werden verteilt, Instruktionen folgen, Personen mit gelben Westen schauen akribisch, dass die Gruppe zusammenbleibt. Mit experimentellen Klängen und Geräuschen auf dem Ohr beginnt «eine Reise in die Tiefe, die Zeit der Vorfahren und die Zeit vor dem Menschen».

Während man aufs Wasser des Zürichsees blickt, wird man in englischer Sprache mit zahlreichen Informationen beliefert: Die Entstehung des Zürichsees und der Alpen, tektonische Platten, Eiszeit, Gletscher und Erosionen, Wassergöttinnen und Erdgöttinnen. Field recordings verdoppeln und torpedieren Aussengeräusche, Störgeräusche mischen sich dazwischen und es brummt einem bereits der Kopf.

Die Hitze macht es nicht einfacher dem Text zu folgen und sich nicht von all den Leuten ablenken zu lassen, die in hedonistischer Manier den Sommerabend geniessen. Alphorn erklingt. Nun ist von Schamanen die Rede, die die Sprache der Berge und der Pflanzen und Tiere verstehen. Übrigens, informiert die Stimme, befinden wir uns auf einer Moräne und wir alle, Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine sind ein einziger lebender Kompostierkreislauf. Das ewige und uralte Element des Wassers sei zum Privileg geworden. «Wie lange noch gibt es genügend Wasser?», fragt die Stimme. Betretenes Schweigen, bevor der gut dreistündige Fussmarsch beginnt, angeführt von einer Frau mit einer schwarzen Fahne.

Die Fronten sind klar

Aufnahmen von politischen Parolen verstärken das kurzzeitige Gefühl, dass man hier irgendwie unfreiwillig zu einem kleinen Demonstrationsaufzug wird – wobei der kontrollierte Gestus einem eher zurückversetzt in eine Schulreise-Situation. Selbst die Trinkpausen wirken geplant und ich reagiere mit jener zuverlässigen Abwehr auf Vorschriften wie ein trotziges Schulkind.

Bei der Überquerung einer Strasse hält ein Mann in einem dicken fetten schwarzen Landrover und schaut etwas verwundert aus dem geöffneten Fenster, bis alle die Strasse überquert haben. Im Wohnquartier in Wollishofen hängt ein einzelnes Plakat zur Gletscherinitiative.

Die weibliche Stimme erzählt nun von seherischen Träumen, die sich später bewahrheitet haben: Dammbruch, Permafrost, das Schmelzen der letzten Gletscher, das Ende der Städte. Die Sihl habe zu ihr gesprochen, damals und damit den Anfang einer Periode eingeläutet, in der die Natur mit ihr zu kommunizieren begann. Von Göttinnen ist nun die Rede, Dämonen und Teufeln, männlichen und weiblichen Prinzipien und dem westlichen kolonialen Denken, welches Wasser als Objekt statt als Leben begreift.

Die Fronten sind klar: Da der Westen, Kolonialismus, Ausbeutung, Kapital, Akkumulation und Zerstörung, dort das eigentliche Sein, die Natur, die Göttinnen, das Weibliche, die indigenen Völker mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung, ihren Ritualen, die sich selbst als Teil des hierarchiefreien Ganzen verstehen und deren Wissen verdrängt und verschüttet wurde.

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«The School of Mountains and Water. Mountains in Resistance». Bild: Christian Altorfer

Und während wir durch die Pforte des Friedhofs Manegg geschleust werden – Teer unter den Füssen, knackender Untergrund im Ohr – erklingen Trommeln und Gesänge, die man als westlich Unwissende unweigerlich vereinfachend mit Afrika assoziiert.

Ernst und andächtig

Nun gut, die Lage ist ernst, die Aussicht auf die Zukunft der Menschheit und der Erde fatal: «Were all gonna diiieee!!», sagt mein Kollege mit tiefer Stimme zu mir. Wir lachen. Die Personen neben uns finden das weniger lustig. Die allgemeine Stimmung ist ernst und andächtig. Überhaupt gleicht die ganze Performance bis zu dem Zeitpunkt eher einer leicht depressiv-moralischen, wissenschaftlichen Recherchearbeit denn einer Theater-Performance.

Wie genau, frage ich mich, soll ich meine westliche Prägung während eines dreistündigen Spaziergangs verlernen?

Und was sollen die zahlreichen Informationen, die mir als Kulturwissenschaftlerin zum Grossteil bekannt sind, in mir auslösen? Scham? Wut? Demut?

Es mag sein, dass ich dermassen reizüberflutet bin von Geräuschen und Bildern, bei gleichzeitigem Versuch, Notizen zu machen, nicht zu stolpern und keine Witze zu machen, dass meine Aufnahmefähigkeit dem eines Schafes gleicht. Wobei: Was weiss ich schon von Schafen?

Die Gruppe Schafe auf dem Friedhof, die neugierig herbeirennen, scheinen zu sagen: endliche Lebende! Ein anthropozentrischer Gedanke, natürlich. Nur, entkommt man ihm überhaupt als notwendig in der Kultur und Sprache wohnendes Wesen? Und wem ist geholfen den Dualismus von Natur und Kultur mittels Verklärung des Ersteren zu überwinden?

Gezähmte Natur, theoretische Allgemeinplätze

Was die Macht der Sprache bewirken kann, zeigt sich exemplarisch, als wir über die riesige eindrückliche Autobahnbrücke Richtung Allmend schreiten. Wiesen, kleine Wege, Bäume, wie schön! «Das ist nicht Natur», belehrt uns die Stimme, sondern zum Objekt gemachte, gezähmte Natur, Kultur, Design, wo die Städter:innen sich von der Kultur erholen. Und der Üetliberg steht dann auch exemplarisch für die Akkumulation von Kapital.

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«The School of Mountains and Water. Mountains in Resistance». Bild: Christian Altorfer

So weit so gut. Alles richtig, nur ist auch klar, dass die Aufgabe der Zähmung der Natur unseren sicheren Tod bedeutet. Darüber hinaus reagiert man zunehmend allergisch, wenn man als belesene und  informierte Person mit derartig theoretischen Allgemeinplätzen belehrt wird. Wo geht es denn zurück zum Theater bitte? Fast etwas beschämt, und daran zweifelnd, dass auf der letzten Strecke noch die Wende kommt, frage ich nach zwei Stunden, ob ich mich vorzeitig abseilen darf und was denn nun noch passieren werde. Es gehe nun noch durch den Wald, die Kopfhörer würden gleich abgegeben.

Die Antwort, dass man sich selbstverständlich jederzeit verabschieden dürfe, enttäuscht mich nun fast ein wenig. Hätte man «Nein» gesagt und mich als weisse privilegierte Westlerin verpflichtet, ohne Wasser und Abendessen weiterzugehen und etwa an einem schamanistischen Ritual teilzunehmen, bei dem der Kolonialismus verbrannt wird, so hätte mich das Ganze vermutlich wieder gepackt: mittels Irritation, Verfremdung, ernsthaftem Spiel. Das ist es denn auch, was der Produktion grundlegend fehlt: der künstlerische Gehalt, die Irritation, die Verfremdung, die Grenzüberschreitung. Wie soll Theater, insbesondere politisches Theater ohne dieses eigentliche Theatralische funktionieren?

Moralisches Theater

Es gibt sie zwar, jene performativen Elemente, in denen Szenographie, Choreographie und Kostüm genutzt werden. Etwa auf der Allmend, wo eine Gruppe von Frauen sich mit Steinen in den Händen um einen Steinhaufen bewegt. Man hält sie von weitem für eine Gruppe Hipster, die Thai-Chi praktizieren. Und später dann im Wald, wie der Trailer der Produktion verrät, ein Tier-Mensch-Wesen und eine Trommel-Sequenz. Diese Elemente sind jedoch sehr spärlich eingesetzt und werden von der dominanten Tonspur überlagert, die zwar wichtige Themen anspricht, jedoch dermassen belehrend, dass man sich leicht genervt vor allem auf das Ende freut, auf das Baden unter den Unbeschwerten und das Konsumieren von teuren Bio-Limonaden auf der Landiwiese.

Auf dem langen Rückweg durch die hübschen bürgerlichen Wohnquartiere mit adretten Einfamilienhäusern und Villen sprechen mein Kollege und ich über das klassische moralische Theater, das zwar im Kern dasselbe zum Ziel hat wie die eben verlassene Performance, jedoch wenigstens mit Figuren operiert, denen man beim gekonnt inszenierten Leiden, Schwitzen und Kämpfen zusehen kann. Im besten Fall entsteht dabei Pathos, Empathie, Katharsis. Die Produktion, die hier zu Achtsamkeit und Ablegen falscher Ideologien animieren will, befeuert in mir jedoch maximal apokalyptische Sehnsuchtsszenarien.

 

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Religiös, privat oder hochpolitisch – wie der Name Geschichte schreibt

Zwei Installationen am Theater Spektakel tauchen in die alltägliche, doch überraschend vielsagende Welt unserer Namen ein. Wie werden sie vergeben, was sagen sie aus, was sagen wir mit ihnen über uns aus?

Von Jana Avanzini

Deinen Namen hast du erhalten, wahrscheinlich eine Weile bevor du dich damit auseinandersetzen konntest. Er ist Teil deines Lebens, deiner Identität, ist Ausdruck deiner Herkunft vielleicht, deiner Kultur. Vielleicht sagt er etwas darüber aus, wer dein Onkel ist, an welchem Tag oder unter welchen Sternen du geboren wurdest. Vielleicht verrät dein Name, welcher Religion deine Eltern angehör(t)en, eine Auffälligkeit deines Äusseren, etwas, das du besonders gut kannst, oder auf welchem Hof du geboren bist.

Was ist die Geschichte hinter deinem Namen? Wenn Larissa Mettler diese Frage stellt, erhält sie oft die gleiche Antwort. – Das ist halt einfach mein Name! Meist jedoch beginnt anschliessend eine persönliche, oft auch sehr politische und kulturell interessante Geschichte.

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Larissa Mettlers Installation auf der Landiwiese. Bild: Kira Kynd

Mettlers Projekt «Was steckt in deinem Namen?», das am Theater Spektakel als Installation erlebbar ist, erforscht die Bedeutung von Namen. In kurzen Videos, die man mit Klingeln wie an der Haustür auslöst, erzählen Menschen, woher ihr Name kommt und was er bedeutet.

Das geht von der Auseinandersetzung damit, was für ein Familienname bei der Eheschliessung oder Scheidung gewählt wird, weshalb manche ihren Rufnamen ändern, über die Bedeutungen hinter Namen, hin zu kulturellen und politischen Hintergründen, Stolz und Scham. Es geht um Eigenheiten von Sprache, wie beispielsweise in der Gehörlosen-Community – und ganz oft geht es um Machstrukturen – wie in der Geschichte des von Sklaven abstammenden Malcolm X.

Von «falsch» und «richtig»

Larissa Mettler, die heute in Zürich lebt, nur einen Katzensprung entfernt von der Landiwiese, auf der wir nun sitzen, hat internationale Beziehungen studiert und war seither ihre ganze Karriere im Menschenrechtsbereich tätig. So lebte und arbeitet sie in Nepal, der Türkei oder Laos, in Palästina, Tadschikistan, im Kosovo, in Albanien und den USA. Und erlebte dabei ständige Perspektivenwechsel. «Was mich dabei interessiert, ist, was uns alle in der Vielfalt eint», sagt sie.

Als Kind einer Amerikanerin und eines Schweizers wuchs Larissa Mettler im Appenzell auf, in einem runden Haus, einem Haus ohne rechte Winkel. Bald fiel ihr auf, dass ihre Vorstellung von «Haus» sich stark von den Bildern anderer Menschen unterschied. Als Kind besuchte sie England und war erstaunt, dass man hier auf der «falschen» Seite fährt. «Kindern wird früh vermittelt, was richtig oder falsch ist, was zur Norm gehört und von der Norm abweicht», sagt sie. Oft bleibt bei Erwachsenen Unverständnis für andere Herangehensweisen, oder die oft unbewusste Überzeugung, dass die eigene Art etwas zu tun, die einzig «richtige» sei.

Fast alle Menschen haben einen Namen. Doch wie wird die Aufgabe, die Problemstellung der Namensgebung gelöst? – das ist, was Mettler uns aufzeigt.

Entscheiden die Eltern, der Wochentag der Geburt, eine wichtige Person der Gemeinschaft, staatliche Richtlinien oder der pure Zufall beispielsweise über den Vornamen?

Dies erkundet die 49-Jährige schon seit Jahren. Durch die Videos mit sehr persönlichen Geschichten will sie die Neugier der Betrachtenden wecken und Impulse zur Selbstreflektion geben. Dies mit der Absicht, dass diese die Art, etwas anders zu tun nicht als exotisch und schon gar nicht als «falsch» ansehen.

«Ich will Verständnis für Menschen in ihrer Vielfalt vertiefen und dabei das Einigende aufzeigen. Aber auch die Auseinandersetzung mit den eigenen, als selbstverständlich erachteten Praktiken und Gewohnheiten fördern.» Und sie wolle unerwartete Begegnungen ermöglichen. «Vielleicht ist das idealistisch. Aber es braucht Gegengewichte zur Polarisierung, die wir besonders in der Politik erleben», sagt Larissa Mettler.

Von den Klingeln zu den Klängen

Spaziert man am Theaterspektakel von Larissa Mettlers Installation weiter Richtung Saffainsel, vorbei an der Brücke, die auf sie führen würde, dann landet man mit wenigen Schritten bei der Bank, bei welcher die Audio-Installation von Friederike Haug erklingt. Und Friederike Haug sammelt Vornamen. Beziehungsweise sammelt sie, wie Menschen ihren eigenen Vornamen aussprechen. Die Künstlerin und Sprachwissenschaftlerin hat diese in unterschiedlichen Ländern aufgenommen.

Die Installation nennt sie «Candy for the Mind», und ist hier in Zürich ein Zusammenschnitt von 450 Namen, nach alphabetischer Reihenfolge geordnet. «Es sind kurze, kürzeste Porträts dieser Personen», sagt Haug, die sonst hauptsächlich als bildende Künstlerin arbeitet. «Es ist eine wertvolle Sammlung, wie eine Perlenkette von Konzentraten dieser Menschen.»

«Die Art, wie man sich vorstellt, wie man den eigenen Namen ausspricht und ihn betont, ist meist sehr eingeschliffen», erklärt die Künstlerin, während wir uns auf eine Bank in der Nähe der Installation setzen. «Wie die Stimme dabei klingt, welche Energie darin liegt, wie sich die Intonation unterscheidet, personifiziert diese kurzen Tonaufnahmen sehr.»

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Begonnen hat sie mit dem Projekt bereits 2018, als sie nach der Kunststudium ihr zweites, das der Sprachwissenschaft in Angriff genommen hatte. Eine Art «Namen-Fetisch» kenne sie jedoch bereits seit ihrer Kindheit – vielleicht auch verbunden mit einem gewissen «Fremdeln», dem eigenen Vornamen gegenüber. «Ich persönlich musste erst in meinen Namen reinwachsen», sagt die 36-Jährige.

Sammlertrieb im Einsatz

Das Projekt «Candy for the Mind» ist eines der vielen Begegnungen, aber auch eines von viel Aufregung. Für Haug ist es jedesmal eine Überwindung, auf die Menschen zuzugehen und ihnen das Diktiergerät vorzuhalten. Zuhause in Düsseldorf, in Rumänien oder der Türkei sammelte sie und freut sie besonders, wenn sie einen Namen aufnimmt, den sie bereits vielfach «besitzt» – wie Anna, Alex oder Elena. «Da wird mein Sammlertrieb geweckt», sagt die Künstlerin. Doch auch noch nie zuvor gehörte Namen begeistern Haug. Ein Mädchen mit dem Namen «Atlas», oder eine ältere Dame, die «Undine» heisst. Rund 650 Vornamen hat sie bisher in ihrem Archiv und sie sammelt weiter.

«Besonders viel Spass machen auch Kinder, die ihre Namen manchmal fast herausschreien, aus Stolz vielleicht, oder aus Freude darüber», so Haug. Sie versuche ihr Sammlung möglichst breit aufzustellen, was Alter, Herkunft oder Geschlecht betrifft. Gleichzeitig bestehe kein Forschungsanspruch, sie mache das Projekt als Künstlerin, nicht als Sprachwissenschafterin. Die Auswahl soll und dürfe subjektiv und situativ beeinflusst sein. Für sie selbst seien die kurzen Tonaufnahmen sowieso stark mit der Erinnerung an den Moment verbunden.

Für das Publikum hingegen lösen sind die Stimmen und Namen ganz andere Assoziationen aus. Manchmal seien dir Reaktionen berührt, manchmal amüsiert, manchmal irritiert oder auch inspiriert, sagt Friederike Haug. Diskussionen jedenfalls über den eigenen Namen, wie man dazu kam, was er bedeutet, die beginnt auch an dieser Ecke des Theater Spektakels ganz automatisch.

Beide Installationen sind während der Öffnungszeiten des Theaterspektakels zu sehen und zu hören. Oder hier:
https://names.one-humanity.info/
https://friederikehaug.com/

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Der Mensch taumelt, das Pferd gähnt

Zur Eröffnung bringt das Festival erstmals den französisch-katalanischen Zirkus Baro d’evel in die Schweiz. 

Von Mathias Balzer

Die Kreation «Falaise» tourt seit der Premiere 2019 in Barcelona weltweit. Falaise bedeutet einerseits Kliffküste, andererseits ist es der Name einer Stadt in der Normandie, in der im Zweiten Weltkrieg nicht bloss der Ort, sondern gleich zwei deutsche Armeen vernichtet wurden.

Vielleicht erklärt dies das düstere Setting: schwarze Ruinen. In ihnen Leben Figuren, die Wände durchbrechen, um nach draussen zu kommen. Einzeln, oder als ganze Körperknäuel winden sie sich ans Licht. Dort führt die Schwerkraft Regime. Der Mensch kann sich in diesem Universum kaum gerade auf den Beinen halten, biegt und windet sich, versucht Halt zu finden, wo es keinen gibt und spricht meist in Rätseln: «Was tun wir?» «Ich weiss es nicht.» «Wer weiss die Antwort?« «Niemand.» «Wer hat eine Strategie?» Nur ein stammelnder Möchtegern.

Absurd und grotesk sind also die Voraussetzungen für den gut zweistündigen Reigen, den das Ensemble traumtänzerisch ausbreitet. Und natürlich sind wir im Zirkus, wenn auch auf der dunkeln Seite des Mondes. Die existentielle Krise verwandelt sich in Slapstick, betörende Arien, traurige Musik und stampfende Tänze. Dialoge verheddern sich in Nonsens und jeder Ansatz von Harmonie in Streit.

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Wie ein Zeichen unerreichbaren Glücks schwebt eine weisse Braut über dieser Gesellschaft – oder taumelt Kopf hintenüber in ihr herum. Ihr Brautstrauss wandert von Szene zu Szene, und ab und zu leuchtet der Hoffnungsschimmer der Liebe, die, kaum gewonnen, schon wieder kaputt geht.

Das Festival labelt «Falaise» «für Kinder und Familien». Womit einige Kinder, die die Vorstellung frühzeitig verliessen, wohl nicht ganz einverstanden waren. Oder waren es die Eltern? Dieser absurd-groteske, ins Traurig-Düstere gekehrte Zirkus ist eben keine KiTa. Und doch ist diese Produktion eine wunderbare Schule des Theaters. Hier spielt der Mensch den Menschen, der nicht mehr weiss, was er spielen soll – und wieso.

Eine tief surreale Dimension erhält dieses Stück durch die Tauben, die im Schwarm punktgenau auftreten, vorbeifliegen, sich auf Händen und Füssen der Figuren niederlassen. Und da ist das weisse Pferd, das die Szenerie stoisch durchquert – oder sich eben weigert, dies zu tun.

Nicht nur der Farbe wegen ist diese Kreatur der Kontrapunkt zu dieser Ruinengesellschaft. Seine Anwesenheit verweist darauf, dass vielleicht alles ganz anders sein könnte. Wenn schon ohne Sinn, dann in Schönheit und Gelassenheit. Wie wunderbar es gähnen kann, dieses Tier!

Das Publikum dankte es ihm und dem Ensemble mit Standing Ovations.

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Dòra Kapusta – die Pionierin der Theater-Übertitelung

Dòra Kapusta macht seit dreissig Jahren Theater-Übertitelungen – und hat damit auch das Zürcher Theater Spektakel mitgeprägt.  Wie es dazu kam, was genau diesen Beruf ausmacht und warum Übertitel manchmal auch überflüssig sind, hat sie uns in ihrem Atelier erzählt. Hier geht es zum Porträt.

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