Renata Carvalho – allein in der ersten Reihe
Die Schauspielerin Renata Carvalho wurde zu Beginn ihrer Karriere in Brasilien ignoriert. Mit zunehmendem Erfolg erhielt sie auch zunehmend Todesdrohungen. Heute ist sie eine preisgekrönte, international gebuchte Künstlerin und Trans-Aktivistin. Wir haben sie in Zürich getroffen.
***
Lebender Kompost
Mit dem performativen Parcours «The School of Mountains and Water. Mountains in Resistance», einer Art Audio-Walk, will die Regisseurin Amanda Piña nichts Geringeres als die Teilnehmenden dazu zu bewegen, koloniales Denken zu verlernen. Ein Lehrstück darüber, warum Theater selten die richtige Form ist, um belehrend moralische Empörung zu vermitteln.
Rund 50 Personen versammelten sich am Freitagabend beim Schiffsteg auf der Landiwiese um am performativen Parcours teil zu nehmen. Kopfhörer werden verteilt, Instruktionen folgen, Personen mit gelben Westen schauen akribisch, dass die Gruppe zusammenbleibt. Mit experimentellen Klängen und Geräuschen auf dem Ohr beginnt «eine Reise in die Tiefe, die Zeit der Vorfahren und die Zeit vor dem Menschen».
Während man aufs Wasser des Zürichsees blickt, wird man in englischer Sprache mit zahlreichen Informationen beliefert: Die Entstehung des Zürichsees und der Alpen, tektonische Platten, Eiszeit, Gletscher und Erosionen, Wassergöttinnen und Erdgöttinnen. Field recordings verdoppeln und torpedieren Aussengeräusche, Störgeräusche mischen sich dazwischen und es brummt einem bereits der Kopf.
Die Hitze macht es nicht einfacher dem Text zu folgen und sich nicht von all den Leuten ablenken zu lassen, die in hedonistischer Manier den Sommerabend geniessen. Alphorn erklingt. Nun ist von Schamanen die Rede, die die Sprache der Berge und der Pflanzen und Tiere verstehen. Übrigens, informiert die Stimme, befinden wir uns auf einer Moräne und wir alle, Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine sind ein einziger lebender Kompostierkreislauf. Das ewige und uralte Element des Wassers sei zum Privileg geworden. «Wie lange noch gibt es genügend Wasser?», fragt die Stimme. Betretenes Schweigen, bevor der gut dreistündige Fussmarsch beginnt, angeführt von einer Frau mit einer schwarzen Fahne.
Die Fronten sind klar
Aufnahmen von politischen Parolen verstärken das kurzzeitige Gefühl, dass man hier irgendwie unfreiwillig zu einem kleinen Demonstrationsaufzug wird – wobei der kontrollierte Gestus einem eher zurückversetzt in eine Schulreise-Situation. Selbst die Trinkpausen wirken geplant und ich reagiere mit jener zuverlässigen Abwehr auf Vorschriften wie ein trotziges Schulkind.
Bei der Überquerung einer Strasse hält ein Mann in einem dicken fetten schwarzen Landrover und schaut etwas verwundert aus dem geöffneten Fenster, bis alle die Strasse überquert haben. Im Wohnquartier in Wollishofen hängt ein einzelnes Plakat zur Gletscherinitiative.
Die weibliche Stimme erzählt nun von seherischen Träumen, die sich später bewahrheitet haben: Dammbruch, Permafrost, das Schmelzen der letzten Gletscher, das Ende der Städte. Die Sihl habe zu ihr gesprochen, damals und damit den Anfang einer Periode eingeläutet, in der die Natur mit ihr zu kommunizieren begann. Von Göttinnen ist nun die Rede, Dämonen und Teufeln, männlichen und weiblichen Prinzipien und dem westlichen kolonialen Denken, welches Wasser als Objekt statt als Leben begreift.
Die Fronten sind klar: Da der Westen, Kolonialismus, Ausbeutung, Kapital, Akkumulation und Zerstörung, dort das eigentliche Sein, die Natur, die Göttinnen, das Weibliche, die indigenen Völker mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung, ihren Ritualen, die sich selbst als Teil des hierarchiefreien Ganzen verstehen und deren Wissen verdrängt und verschüttet wurde.