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Still aus dem Trailer zu LOS, der «Lesung der anderen Art» von Klaus Merz.

Digitale Literatur

Kann Literatur digital sein und trotzdem glänzen?

Das Literaturfestival heisst immer noch Buch Basel, aber die dargebotene Literatur findet oft ausserhalb von Buchdeckeln statt. Das Team rund um die neue Festivalleiterin Marion Regenscheit hat einen diversen Literaturbegriff. Ein Schwerpunkt liegt dieses Jahr auf dem Digitalen. Wir fragen: Wie inklusiv kann Literatur sein, ohne ihren Kern zu verlieren? Und sollten wir Videospiele und Instagram-Feeds auf die gleiche Ebene mit Literatur heben?

Von Helena Krauser

Basel, 10.11.2022

5 min

Entgrenzen. Eine Tätigkeit. Grenzen wegmachen, aufbrechen, nicht respektieren, neu ausloten. Diesem Themenkomplex hat sich die Buch Basel dieses Jahr verschrieben. Ein sehr offen formuliertes Fokusthema.

Ein Thema, wie eine Brille, durch die die verschiedensten Ereignisse im aktuellen Zeitgeschehen betrachtet werden können. 

Das war eine clevere Entscheidung des Leitungsteams in einer Zeit, in der eine Krise die nächste überrollt und niemand mehr einschätzen kann, ob das, was uns heute erschüttert, schon morgen zur neuen Normalität geworden ist. Im Programmheft begegnen uns die Grenzen sogar auf visueller Ebene. Wie kleine Zäune umrahmen verschiedene Sonderzeichen in ewiger Aneinanderreihung die einzelnen Programmpunkte. 

Vandalismus am eigenen Werk

Jeder Sonderzeichenzaun hat eine eigene Bedeutung. Das neue Design kommt ziemlich minimalistisch daher. Einfach. Zweifarbig. Nur schwarze Schrift auf weissem Grund. Dazu gibt es Leuchtstifte, mit denen die Favoriten gehighlightet werden können. 

Das Festivalteam selbst zieht mit überdimensionalen Leuchtstiften durch die Stadt und malt die eigenen Plakate an. Laut Gesetz sei das Vandalismus, erzählt uns die Festivalleiterin Marion Regenscheit. Die Genehmigung der Allgemeinen Plakatgemeinschaft haben sie aber in der Tasche.

Auch die Digitalität wird am Festival eine grosse Rolle spielen. Aber nicht, weil das Team hofft, mit Computerspielen die Jugendlichen vom Coolnesfaktor der Literaturszene zu überzeugen. Dem Team der Buch Basel geht es vielmehr um die Möglichkeiten, Spielereien und neue Perspektiven, die die digitale Literatur eröffnen kann. 

 

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Eine Lesung ohne Autor

Ein Schwerpunktthema heisst dementsprechend auch «Potenzial Digital». Welchen Mehrwert kann das Digitale schaffen? Auf dem Weg nach Antworten folgen wir im Programmheft diesen Symbolen >>>>, sie umrahmen die Veranstaltungen zum Thema. Am Samstag findet von 11 bis 17 Uhr stündlich eine digitale Lesung zu LOS von Klaus Merz statt. Der 77-jährige Autor selbst wird nicht anwesend sein. Dafür aber einige Virtual-Reality-Brillen, mit denen die Besuchenden von Klaus Merz in eine surreale Welt geführt werden, die gefüllt ist mit bewegenden Bildern und der Geschichte seines Romans über das Abschiednehmen. 

Was Literatur ausserhalb von Buchdeckeln sonst noch kann, zeigt Svenja Viola Bungarten. Die junge Autorin erschafft neue literarische Welten im Internet. Eines ihrer Projekte, das sie als Teil des Kollektivs Antagonist:innen entwickelt hat, heisst Bermuda. Es ist ein Onlinegame und eine begehbare Textlandschaft. 

Sessel fliegen durchs Weltall, die Spielenden sprechen mit dem Badezimmerspiegel und am Ende steht die Frage: Spielst du das Game oder spielt das Game dich. 

Für die Buch Basel entwickelt sie ein neuartiges Lesungsformat. Irgendwo zwischen dem Hier und Jetzt und den Weiten des World Wide Web. So kryptisch die Ankündigung. Lassen wir uns also überraschen. 

Ein grosses Fragezeichen

Neben diesen zwei Experimenten setzt das Festival vor allem auf die Metaebene. Das Gespräch über das Digitale. Über das Potenzial. Über die Zukunft. Schliesslich wird da bald noch sehr viel mehr kommen. So zumindest die Annahme. 

Am Samstagnachmittag sprechen Katharina Nejdl und Jasmin Meerhoff über begehbare Romane und atmende Texte und am Sonntagnachmittag diskutieren die Autorin Elena Müller und der Autor Ralph Tharayil über digitale Möglichkeitsräume für Geschichten und immersive Welten.

Bei all dieser konfrontativen Unkonkretheit wird schnell klar, dass über diesem Themenkomplex ein grosses Fragezeichen steht. Dass es hier viel auszuprobieren und auszuloten gilt. Ist jede Narration Literatur? Was genau ist meine Rolle als Rezipient:in? Das Fokusthema «Entgrenzen» ist auch hier absolut tonangebend. 

Freiheit oder Schmerz?

In Lesungen und Diskussionsrunden wird ausserdem über politische und körperliche Grenzen diskutiert. Über Binarität und Krieg. Über die Grenzen des Erinnerns und der Sprache. Und vielleicht, um bei all den besorgniserregenden Krisen auch über Dinge streiten zu können, die nicht existenziell sind, werden Werke präsentiert, die die Worte auseinanderzupfen und mit Rechtschreibfehlern trapiert zum Genuss anbieten. 

Hier bitte, ein Satz ohne Artikel und Präpositionen, auseinandergerissene Wörter, bildhaft arrangierte Absätze. Tut das weh oder macht das frei? Unklar. Sicher ist aber, es passt wiederum stimmig in das Fokusthema «Entgrenzen». Diese thematische Wundertüte ohne Grenzen. 

Gelingt es, die Literatur vom Sockel zu heben, sie von allen vorgegebenen Formen zu lösen und in die Weiten des Internets zu entlassen, ohne dass sie dabei ihren Glanz verliert? Gelingt Qualität ohne Exklusivität? Oder suchen wir Festivalbesucher:innen intuitiv nach einer haltgebenden Stütze, wenn alle begrenzenden Geländer abmontiert wurden?

Wie inklusiv kann Literatur sein, ohne ihren Kern zu verlieren?

Und was ist eigentlich ihr Kern? Vielleicht ist es die Fantasie. Dieser ganz persönliche Film, der beim Lesen im Kopf entsteht und niemals identisch ist mit dem Leseerlebnis eines anderen Menschen. Ist nicht genau das der Zauber, der Literatur von Film, Fotografie, Musik und all den wunderbaren anderen Künsten unterscheidet? 

Wie wäre es, wenn Literatur nicht inklusiv sein muss, sondern Narration diverser wird? Wenn wir die Literatur nicht von ihrem Sockel heben und sich verflüchtigen lassen, sondern Sockel bauen für Videospiele, Animationen, Instagram-Feeds, Twitter-Threads und Podcasts? Wenn wir die Unterschiede anerkennen und uns über sie freuen, ohne sie gegeneinander aufzuwerten?