Samuel Herzog auf den Spuren von Osamine durch Graubünden. Frida Magazin

Samuel Herzog besucht auf den Spuren der geheimnisvollen Osamine das Puschlav.

Bild: Samuel Herzog

Unterwegs in Graubünden

Le Prese am Lago di Poschiavo

Im Mai 2022 findet der Journalist Samuel Herzog 16 Postkarten aus dem Jahr 1966, geschrieben von einer Osamine, adressiert an Schaki Bùfftù, wohnhaft in Port-Louis, der Hauptstadt der fiktiven Insel Lemusa. Im Sommer 2022 unternimmt er eine Reihe von Ausflügen in die Gegenden, die auf den Postkarten von Osamine abgebildet sind. Er fotografiert und schreibt jeweils einen kurzen Text über das, was er selbst vor Ort erlebt.

Von Samuel Herzog

Le Prese, 28.09.2022

9 min
Plötzlich fliegt mir eine kleine Sonnenblume vor die Füße. «Das passt nicht, das ist viel zu gross», vernehme ich eine heiser verärgerte Stimme ganz in meiner Nähe. Sie gehört einer vielleicht siebzigjährigen Frau in einem rosaroten Vlies. Sie ist wie aus dem Nichts erschienen und hat sich so dicht neben mir aufgestellt, dass ich einen Schritt zur Seite treten muss, um sie ohne Lesebrille überhaupt scharf zu sehen.
Sie hält einen mächtigen Strauss mit Blumen und Kräutern in der Hand, den sie mit gerunzelter Stirn betrachtet und mit energischen Griffen in Form bringt. Jetzt zupft sie einen dunkelvioletten Lippenblütler aus dem Ensemble und schleudert ihn mit einer unmutigen Geste zu Boden.

Die ganzen Schönheiten stammen offensichtlich von den Feldern hier an der Nordseite des Lago di Poschiavo, auf denen mehrheitlich Gewürz- und Arzneipflanzen angebaut werden. Ich erkenne in ihrer Hand Calendula, Kamille, Rose, Salbei und Eisenkraut. Ich selbst habe nur einen Zweig amerikanische Minze abgeknickt, den ich mir dann und wann verstohlen an die Nase führe. Sie aber hat sich richtig bedient. «Schöne Blumen», sagt sie jetzt und schürzt zufrieden die Lippen: «Schön, aber nicht sehr farbig.»

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Rückseite der Postkarte, die Osamine aus Le Prese geschrieben hat.

Ich nicke brav. Sie deutet mit dem Strauss auf die Felder vor uns, wo vier Frauen damit beschäftigt sind, Blüten zu pflücken. Langsam kommen sie den Pflanzenreihen entlang in unsere Richtung, bücken sich immer wieder leicht, lesen ein paar Köpfe ab und lassen sie in Weidenkörbe gleiten, die sie über den Hüften tragen. Ich habe mich auf dem schmalen Grasstreifen zwischen dem Acker und der Seepromenade in Position gebracht und schaue ihnen nun schon eine ganze Weile zu.

«Als ich Sie da so stehen sah, habe ich zu meinem Mann gesagt: Der Herr weiss sicher, was die Frauen da machen», sagt meine Nachbarin nun und deutet erneut mit ihrem Strauss auf den Kamp: «Stehlen die Blumen?»

Die Frage überrascht mich so, dass ich lachen muss. Sie schaut mich verständnislos an und wiederholt ihre Frage, nun mit hochgezogenen Augenbrauen.

«Sie meinen diese Frauen da? Ich glaube, denen gehören die Felder. Die müssen da nichts stehlen.»

«Sehen Sie, dann hatte ich recht! Ich habe es meinem Mann ja gesagt, dass sich die nicht wie Diebe aufführen. Aber er wollte es nicht glauben. Er hat da schlechte Erfahrungen gemacht. Wissen Sie, im Krieg …»

Sie bricht ihre Rede plötzlich ab, räuspert sich nervös, zieht die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schaut jetzt sehr kritisch in Richtung der Erntehelferinnen, böse fast: «Dann bauen die hier vielleicht Drogen an?»

«Drogen?» Wieder muss ich lachen: «Ich habe Kornblumen, Minzen, Zitronenmelisse und andere Kräuter gesehen – aber nichts, aus dem man Drogen machen könnte. So weit ich das beurteilen kann.»

«Und der Mohn?»

«Gibt es Mohn hier? Müsste der nicht rot sein?»

«Ich bin leider farbenblind. Also ich sehe schon Farben, aber die sind dann anders, grün ist blau und gelb ist rot. Schmutzig alles.»

«Oh, das stelle ich mir kompliziert vor.»

«Ja, und hier ist es besonders unübersichtlich! Das habe ich auch zu meinem Mann gesagt: Was für ein Chaos.»

«Nun, ich weiss auch nicht sicher, ob ich alle Farben richtig …»

«Sehen Sie! Es wäre also möglich, dass hier alles voller Mohn ist – und uns fällt es gar nicht auf!»

Ich seufze zustimmend diskret und fürchte, dass ich gleich in eine Diskussion verstrickt werde, die ich gar nicht führen möchte.

«In der Schweiz, das sagt auch mein Mann immer, haben wir eine Politik … da, schauen Sie!» 
Sie hebt den Arm und zeigt auf eine Art Mähgerät, das zwischen den Blumenfeldern hindurchfährt. Ich habe die Maschine eben schon auf einem Feld mit Eisenkraut in Aktion gesehen.

«Ist das nicht rot?»

«Doch, schon, aber …»

«Sehen Sie, da haben wir es. Das muss ich meinem Mann erzählen.»
Sie schwenkt den Blumenstrauß in die Luft, dreht sich ab und stapft durch das Gras zur Seepromenade zurück: «Passen Sie nur auf! Man wird ganz schnell süchtig! Viel schneller als man denkt!»

Neugierig, wie wohl der Mann einer solchen Frau aussieht, schaue ihr nach. Aber ich sehe unter den Bäumen am Ufer niemanden, der auf sie warten würde. Ganz allein geht sie in Richtung Dorf davon.

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Vorderseite der Postkarte, die Osamine aus Le Prese geschrieben hat.

Ich bin nach Le Prese gefahren, weil Osamine auf einer ihrer Postkarten von den völlig verschiedenen Blumen im Tal schwärmt. Und die Gegend am Lago di Poschiavo ist ja bekannt für die Blüten und Kräuter, die Reto Raselli und andere Landwirte hier anbauen und schweizweit in allen möglichen Geschäften, sogar in Supermärkten verkaufen. Allerdings war Reto Raselli, der heute als Re delle erbe gefeiert wird, 1966, als Osamine hier weilte, selbst noch ein Bambino.

Und vom Kräuteranbau war im Tal noch keine Rede. Der kam erst ab den Achtzigerjahren in Schwung. Von Rasellis Blumen kann Osamine also nicht gesprochen haben. Zufällig habe ich gestern auf einem Spaziergang durch Poschiavo entdeckt, welche «richesse formidable de fleurs différentes» Osamine wohl meint.

In der Collegiata di San Vittore Mauro nämlich ist das Gewölbe in Kirche und Chorraum mit ganz verschiedenen Blumen verziert, die da mit Stiel und Blatt, also fast wie in einem Herbarium auftreten. Und eine dieser Blumen gleicht stark einer Zeichnung auf der Rückseite der Postkarte von Osamine. 

Jetzt sind zwei der Frauen am Rand des Feldes angelangt. Ich gehe zu ihnen hin: «Buongiorno, sind das Kornblumen, was sie da ernten?»

Die zwei Lachen, ich habe sie mit meinem plötzlichen Auftauchen ganz offenbar aus den Tiefen eines Gesprächs gerissen. 
«Ja, Kornblumen, ganz genau.»

«Sind das die Blüten, die man dann in kleinen Tüten in den Geschäften kaufen kann?»

«Si! Exactamente!»

Vielleicht sollte ich sie noch fragen, ob man Kornblumen auch als Drogen verwenden kann. Doch die zwei sind schon wieder in ihr Gespräch vertieft. Und mir fällt ein, dass man in der Pharmazie ja alle getrockneten Zutaten auch Drogen nennt. 

Einen Moment lang überlege ich, die Sonnenblume aufzuheben. Für die Augen der Welt allerdings würde ich so selbst zum Dieb. Also lasse ich sie lieber am Boden verrotten.

***

 

Kornblume


Die Kornblume ist eigentlich ein Unkraut, wird aber heute auf stattlichen Feldern im Val Poschiavo angebaut (teilweise in Kombination mit Kamille). Centaurea cyanus war im Mittelalter ein bedeutendes Symbol für Maria. Später wurde sie für allerlei politische Zwecke instrumentalisiert. Lange war die Kornblume auch in der Kräutermedizin eine beliebte Droge gegen Erkältungskrankheiten, Menstruationsstörungen, Appetitlosigkeit, Augenkrankheiten etc. Heute wird sie fast nur noch wegen ihrer blauen oder je nach Sorte rosaroten Farbe als Schmuck in Tees oder als Dekoration von Suppen, Desserts und anderen Speisen eingesetzt.

 

 

Alpenaustern schlürft man nicht

Im Mai 2022 findet Samuel Herzog, Künstler und Journalist aus Zürich, bei einem Pariser Brocanteur einen Stapel von 16 Postkarten, geschrieben von einer Osamine, adressiert an Schaki Bùfftù, wohnhaft Rue de Bendalis 7 in Port-Louis, der Hauptstadt der fiktiven Insel Lemusa.

Die Vorderseiten der Postkarten sind mit unbeholfenen Aquarellen versehen, die verschiedene Gegenden im Graubünden zeigen. Auf den Rückseiten schildert Osamine ihre Abenteuer en route und oft auch ihre kulinarischen Erfahrungen. Über die Verfasserin ist so wenig bekannt wie über den Adressaten. Aufgegeben wurden die Karten allesamt am 27. Juni 1966 auf dem Postamt der Gemeinde Leumasnun. 

Im Sommer 2022 unternimmt Samuel Herzog eine Reihe von Ausflügen in die Gegenden, die auf den Postkarten von Osamine abgebildet sind. Er fotografiert und schreibt jeweils einen kurzen Text über das, was er selbst vor Ort erlebt.

Für das Kunsthausfest im Bündner Kunstmuseum am 26. November 2022 (mehr Informationen) entwickelt Herzog aus den kulinarischen Spezialitäten, die Osamine auf ihren Karten anspricht, eine Reihe von 16 verschiedenen Tischbildern. Tischbilder sind ornamentale oder narrative Arrangements aus verschiedenen Nahrungsmitteln, inszeniert auf schwarzen Unterlagen. Diese Bilder werden im Anschluss an ihre Erschaffung sofort verzehrt.

Die Postkarten von Osamine, die Texte und Bilder von Herzog und Fotografien der Tischbilder werden im Dezember 2022 zu einem Buch zusammengeführt, das kurz vor Weihnachten in der Edition Frida erscheint.