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Die Genre-Falle

In seiner monatlichen Kolumne untersucht der Theaterregisseur und Drehbuchautor Felix Benesch die Wechselwirkung zwischen Erzählung, Narrativ und Wirklichkeit. Heute nimmt er uns mit auf einen abenteuerlichen Sonntagsspaziergang. Welches Genre erwartet den Autor, wenn er über den elektrischen Weidezaun steigt?

Von Felix Benesch

Leipzig, 12.01.2023

8 min

Neulich auf einem Sonntagsspaziergang in einer rauen, wildromantischen Landschaft im Osten Deutschlands. Es wurde schon langsam dunkel. Kein Mensch weit und breit. Das Smartphone zeigte uns, dass der Weg zum Auto noch etwa eineinhalb Stunden dauern würde. Es sei denn, wir riskieren eine Abkürzung durch unwegsames Gelände, Unterholz, Gebüsch, vielleicht mit Dornen, wahrscheinlich sumpfig, es gab da Tümpel und einen Bach. Schlimmstenfalls werden wir nicht durchkommen. Dann müssten wir umkehren und wären noch um einiges länger unterwegs. Aber was soll’s. Ein bisschen Abenteuer belebt die partnerschaftliche Beziehung. 

Zuerst mussten wir einen kräftig gebauten Weidezaun überwinden, der, wie wir feststellten, unter ziemlich starkem Strom stand. Stärker und massiver als die Weidezäune, die wir von unseren Wanderungen in den Alpen kennen. Wir hatten keine Ahnung, was für Tiere hinter diesem Zaun lebten. Überhaupt waren wir zum ersten Mal in dieser Gegend und kannten gar nichts hier. Doch wir hatten nun mal diese Richtung eingeschlagen. Wir gingen weiter. 

Unsere Schuhe schmatzten, der Boden war matschig vom Januarregen. In den Abdrücken grosser Hufe sammelte sich Wasser. Was waren das für Tiere, die so grosse Spuren hinterlassen? Pferde kamen nicht infrage, es waren Paarhufer, aber grösser als Kühe. Auch die immensen Kothaufen hatten nichts gemein mit harmlosen Kuhfladen. Wir liessen uns nichts anmerken, aber beide spitzten wir die Ohren, spannten die Nerven, blickten uns nervös um. Die Dämmerung tauchte alles in ein fahles Grau. Gebüsch und Bäume versperrten die Sicht. Doch nichts war zu hören. Oder doch? Was war das für ein Knacken eben? 

Warum bloss hatten wir den breiten Weg verlassen? Dort waren wir immerhin Teil einer beschaulichen Naturdoku, sie war vielleicht etwas langatmig, aber friedlich und durchaus schön. Jetzt steckten wir mitten im Anfang eines Horror-Thrillers. Und es gab kein Zurück mehr. Das war die Realität, wir waren in diesem ungemütlichen Genre gefangen und mussten da durch. 

Genres sind mächtig. Sie engen ein. Sie geben vor, was geschehen muss. Sie sind oft stärker als das, was für eine handelnde Figur richtig und wichtig wäre. Sie sind wie das Wiesel im Bachgeriesel, das alles nur um des Reimes Willen tut. Die Figuren in einer Komödie tun Dinge, damit es lustig ist. Wer in einem Drama lebt, sucht mehr oder weniger freiwillig die aufwühlende, tragische Wendung. In einem Thriller muss sich eine schwache, verletzliche Figur einer übermächtigen, lebensbedrohlichen Gefahr stellen. 

Fuck! Warum sind wir nicht rechtzeitig umgekehrt?

Die Storys sind austauschbar

(Fast) jeder Film und jede Serie macht in den ersten Minuten klar, in welchem Genre wir uns befinden und was wir zu erwarten haben. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wir alle sind als Zuschauende so geübt, dass wir ein Genre oft schon nach wenigen Sekunden erkennen. Die Romantic Comedy offenbart sich gerne bereits im Vorspann. Eine Science-Fiction-Story erkennen wir in der ersten Einstellung. Das gilt erst recht für einen Western oder ein Historiendrama.

Als Autor habe ich gelernt, ein Genre zu bedienen. Wer versucht, die Regeln eines Genres zu brechen, muss lange dafür kämpfen und hat wenig Aussicht auf Erfolg. Entwicklungsprozesse für Film und Fernsehen finden immer in Teams statt. Es sitzen zahlreiche Menschen mit am Tisch, deren Job es ist, darüber zu wachen, dass die Story «funktioniert», dass sie erfolgreich werden, die Erwartungen erfüllen kann. Oft bedeutet das: Man orientiert sich an Dingen, die schon mal funktioniert haben. Man variiert immer wieder die gleichen Konzepte. 

Auch das unendliche Meer von Serien, mit denen wir geflutet werden, ist bei genauerem Hinsehen weit weniger vielfältig, als es scheint. Viele Storys erlebe ich als austauschbar. Es spielt nur oberflächlich eine Rolle, ob eine Geschichte unter Inuit in Alaska spielt, unter Rechtsanwälten in New York oder auf einem Bauernhof im Schweizer Mittelland. Unverwechselbare Eigenarten sind bestenfalls Accessoires und haben wenig Einfluss auf die Charaktere und die Plots, die in einem professionalisierten und ökonomisierten Entwicklungsprozess weitgehend vorgegebenen Regeln folgen. 

Manchmal beschleicht mich die bange Frage: Braucht es dafür überhaupt noch Autor:innen? Versuche mit künstlicher Intelligenz sollen bereits recht vielversprechende Ergebnisse liefern. 

Gefangen im Genre des eigenen Lebens

Unser Sonntagsspaziergang war kein Film. Bildeten wir uns die Gefahr nur ein oder war sie real? Was sollten wir tun, wenn plötzlich ein gewaltiger Elch im Halbdunkel vor uns steht? Ich hab mal gelesen, dass Elche gefährlicher als Bären sein können. Würde er uns als Eindringlinge in seinem Revier bekämpfen und damit die vom Genre vorgegebene Rolle des übermächtigen Antagonisten übernehmen?

Sowohl bei mir selber als auch bei Freunden und Bekannten beobachte ich hie und da, dass wir auch im Alltag in einem Plot gefangen sind, der uns vorgibt, was wir als Nächstes zu tun haben. Melanie zum Beispiel entscheidet sich bei der Partnerwahl regelmässig für Männer, die ihr nicht guttun. Aber dafür funktioniert mit ihnen eine Zeit lang der Erotik-Thriller weiter, den sie so toll findet. Manchmal würde sie das Genre gerne wechseln. Ein Familienfilm wäre auch schön. Doch wer die Regeln eines Genres brechen will, der muss – siehe oben – lange kämpfen. 

Paul möchte seinen sicheren Job aufgeben, weil ihm in den ewig gleichen und vorhersehbaren Abläufen die überraschenden Wendungen fehlen. Die findet er zwar bei Pokerturnieren in seiner Freizeit, doch das reicht nicht. Sein persönlicher Abenteuer-Plot verlangt danach, das Pokern ins Zentrum der Handlung zu rücken. 

Lena muss einfach manchmal etwas klauen. Sie braucht das Risiko, den Kitzel. Ihr ist völlig klar, dass sie damit womöglich ihre ganze Existenz aufs Spiel setzt, denn sie unterrichtet Kunst an einem Gymnasium. Eine klauende Gymnasiallehrerin! Natürlich hat sie Bedenken. Doch das Genre und ihr persönliches Rollenbild haben mehr Gewicht. Sie lebt in einem Emanzipationsdrama und sieht sich als unabhängige Frau, die sich von niemandem einschränken lassen will.

Auch News brauchen Storys, die häufig den Gesetzen von Genres folgen. Der Ukraine-Krieg beispielsweise passte von Anfang an ins Kriegsfilm-Genre, in dem die Guten gegen eine böse Übermacht antreten und diese dank ihrer mentalen Stärke tatsächlich zurückdrängen können. Die internationale Gemeinschaft liefert fast alles, was die Rüstungsindustrie hergibt, damit sich diese Story auch so weiterschreibt. 

Was bewegt sich da im Gebüsch?

Doch was wäre, wenn sich das Blatt plötzlich wendet? Wenn es Goliath doch noch gelänge, den tapferen David zu überwältigen? Undenkbar ist das nicht. Es wäre ein Wechsel in eine schwer zu ertragende Tragödie und würde zweifellos zur Folge haben, dass viel Publikum verloren ginge. Der Krieg im Jemen verursacht seit Jahren unfassbares Elend und fordert Tausende Opfer, doch er ist diffus und unübersichtlich, er passt in kein Genre und lässt sich schlecht erzählen. Deswegen findet er in unserer Wahrnehmung kaum statt.

Es ist schon viele Jahre her, da ist mir selber ein Genre-Wechsel gelungen, über den ich bis heute sehr froh bin. Damals lebte ich in einem wirklich aufregenden und aufreibenden Beziehungsdrama. Es war eine Künstler-Ehe, wie von August Strindberg geschrieben. Egal was wir taten, es wurde immer eine filmreife Szene daraus, mit abgründigen Dialogen, zersplittertem Glas und allerlei anderen Kollateralschäden.

Mit der Zeit wurde das quälend. Wir litten darunter. Doch es liess sich nicht ändern, so sehr wir uns auch bemühten. Es half nur die Trennung. Sie war zwar schmerzhaft und dauerte ihre Zeit, doch sie schaffte schliesslich den Raum für eine wunderbare Liebeskomödie, die bis heute weiterläuft, mich jeden Tag zum Lachen bringt und nie langweilig wird. 

Langweilig war unser Gang durch die graue Wildnis nicht, aber das Lachen ist uns vergangen. Plötzlich ein Geräusch. Aus einem Baum in der Nähe flog ein ganzer Vogelschwarm auf. Das Blut in unseren Adern gefror. Wir blieben stehen, verharrten, lauschten – doch nur die Silhouette eines Rehs sprang vorbei und verschwand im Dickicht.

Nach einer Weile lichtete sich die Vegetation, wir kamen wieder an einen Zaun, krochen unten durch und traten auf einen breiten Weg, der uns direkt zu unserem Auto führte. Wir lachten viel über unsere Ängste und malten uns die absurdesten Szenarien aus, was hätte passieren können. Die Komödie war zurück. Das fühlte sich grossartig an.

Bis jetzt weiss ich allerdings nicht, was für Tiere dort im grauen Dickicht zu Hause waren. Kürzlich stand ich an einem Gehege von amerikanischen Bisons. Die großen Kothügel passten einigermassen zu denen, die ich von unserem Ausflug in Erinnerung habe. Am Zaun hing ein Schild mit roter Warnschrift: «Vorsicht. Lebensgefahr!»