Eva von Redecker in Interview beim FRIDA Magazin

Angereichert mit persönlichen Anekdoten und Erzählungen kreiert die Soziologin und Philosophin Eva von Redecker in «Bleibefreiheit» ein neues Freiheitskonzept.

Foto: Philipp Plum

Gespräch mit Eva von Redecker

Die Freiheit, bleiben zu dürfen

Was wäre, wenn wir die Möglichkeit, an einem Ort bleiben zu dürfen, nicht als Einschränkung, sondern als Freiheit betrachten würden? Welche Auswirkungen hätte das auf unsere Lebenszufriedenheit und unser Miteinander? Diese Fragen stellt sich die deutsche Soziologin und Philosophin Eva von Redecker in ihrem Buch «Bleibefreiheit», aus dem sie bei der Buch Basel lesen wird.

Von Helena Krauser

Basel - Brandenburg, 16.11.2023

6 min

Frau Redecker, der Begriff «Freiheit» wird zurzeit in allen politischen Lagern, in der Werbung und der Selbstoptimierungsbranche inflationär verwendet. Sie geben diesem umkämpften Begriff in ihrem Buch «Bleibefreiheit» eine neue Rahmung. Er beschreibt nun die Freiheit zu bleiben, in einer Welt, in der angesichts der Klimakrise und politischer Konflikte die Orte schwinden, an denen es sich in Frieden leben lässt.
Ist die Bleibefreiheit etwas, das ich für mich selbst entscheiden kann oder muss das kollektivistisch passieren?

Eva von Redecker: Einzeln kann man sich meist nur dafür entscheiden, diese Werte in den Mittelpunkt zu stellen. Um sie leben zu können, müssen sich Menschen zusammentun.

Schon in kleinen Gruppen geht es besser, aber die wirklichen Weichenstellungen treffen Wirtschaft und Politik. Aber es ist ja nicht unbedeutend, zu wissen, mit welchen Zielen man auf die einwirken sollte.

Wie würde sich unser Alltag dadurch verändern?

Er würde langsamer werden und ich würde auch sagen «bewusster» oder «behutsamer». Bewusster, weil wir uns auf ganz neues Wissen konzentrieren würden:

Welche Zeit steckt in den Dingen unseres Alltags? Wessen Zeit wird geraubt, um anderen den Rücken freizuhalten?

Wie können wir sicherstellen, uns selbst nicht übermäßig zu erschöpfen und unsere begrenzte Lebenszeit nicht für sinnlose Tätigkeiten zu vergeuden?

Wieso wird diese neue Definition der Freiheit häufig als Einschränkung missverstanden?

Weil sie das aus Sicht des besitzstandsorientierten, auf Willkürspielräume setzenden Freiheitsverständnisses auch ist. Und solange politisch keine Anstrengungen unternommen werden, die Bleibefreiheit wirklich allen zu sichern, liegt der Verdacht natürlich nahe, dass man kurz bevor sowieso alles an die Wand fährt, noch ein paar Gewohnheiten und Ansprüche aus der Hand geben soll.

Zugleich würde ich aber betonen, dass es nur eine bestimmte, schon sehr an Privilegien gewöhnte und in Bezug auf grössere Hoffnungen zynische Gruppe ist, die befürchtet, es ginge bei der Bleibefreiheit darum, jemandem heimlich etwas aus der Tasche zu ziehen. Denken Sie an die riesigen Kündigungswellen in den USA und hierzulande nach den Covid-Lockdowns. Das waren klare Entscheidungen für erfüllte Zeit und gegen die Erschöpfung. Und mir begegnen ständig Leute, die diese Erfahrung, dass Freiheit manchmal im «Bleiben» gefunden wird, schon machen und sich freuen, einen Begriff dafür zu entdecken.

 

Bleibefreiheit von Eva von Redecker

Eva von Redecker ist eine deutsche Philosophin und Soziologin. Sie setzt sich in ihrer Arbeit mit politischer Philosophie, feministischer Philosophie und Gesellschaftskritik auseinander. Eva von Redecker hat mehrere Werke veröffentlicht, darunter Bücher wie «Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen» und «Praxis und Revolution. Eine Sozialtheorie radikalen Wandels». Ihr neustes Buch «Bleibefreiheit» ist 2023 erschienen.

Ist die Freiheit, wie sie herkömmlich definiert wird, im Sinne einer Mobilitätsfreiheit eine Illusion?

Nein, nicht per se. Aber ich denke, wir spüren derzeit deutlich, dass ihr die Grundlage wegbricht. Ein perfektes Bild dafür waren für mich zum Beispiel die inmitten grüner Berge mit sterbenden Fichten künstlich angelegten Skipisten. Mir kommen die Forstarbeiter, die hier in Brandenburg engagiert darüber diskutieren, dass sie Esskastanien einführen und wie sie Mischwälder anpflanzen, deutlich freier vor als die Luxusurlauber in den Alpen.

Wird die Lebenszeit automatisch erfüllter, wenn ich die Bleibefreiheit habe? Oder ist die Herstellung von erfüllter Zeit ein Zusatz, den die Individuen erstellen müssen, um die Möglichkeit zu bleiben, als Freiheit empfinden zu können?

Ich würde sagen, dass die erfüllte Zeit – das ist die Zeit, die uns unsere spontane Verwirklichung in Neuanfängen erlaubt –, gerade der Kontaktpunkt ist zwischen Individuen mit bestimmten Wünschen und Sehnsüchten und der Welt, die uns entgegenkommt, Anstösse und Anknüpfungspunkte bietet.

Sie philosophieren in ihrem Buch auch über das Alleinsein auf dem Mars. Weshalb macht uns die Abwesenheit der Mitmenschen nicht freier?

Weil Menschen keine Hindernisse sind. Sie können das natürlich sein, vor allem unter Bedingungen von Konkurrenz.

Aber sinnstiftende Handlungen brauchen Gegenüber, oft auch Mittäter.

Dafür brauchen wir einander.

Die Zeitlichkeit spielt auch in Bezug auf die Natur eine grosse Rolle. Welche Wechselwirkung besteht zwischen der Regenerationszeit der Natur und der Freiheit von uns Menschen?

Eine grosse, die sich aber nur mühsam in unser gängiges Freiheitsverständnis einfügen lässt. Bisher stand die Gegebenheit grundsätzlicher natürlicher Regenerationszyklen gar nicht infrage. Aber davon, ob es fruchtbaren Boden, sauberes Wasser und Atemluft gibt, hängt unsere Handlungsfähigkeit vollkommen ab. Je schlechter die Bedingungen, desto mehr ist unser Agieren an den blossen Überlebenskampf gefesselt. Zudem ist aber die Erholung in und mit der Natur mehr als eine blosse Hintergrundbedingung.

Wir empfinden unsere Freiheit überhaupt erst, wenn wir in eine reichhaltige, lebendige Welt hineinwirken und sie auch geniessen können.

Könnte diese Form der vermeintlichen Beschränkung, die zu mehr Freiheit führt, auch auf andere Lebensbereiche anwendbar sein?

Ich glaube, dass Menschen in allen Lebensvollzügen, auch im sehr banalen Alltag, Freiheit verwirklichen können. Insofern, ja, klar. Aber nochmals: Ich finde die Rede von Beschränkung irreleitend. Ich würde es Konzentration nennen.

Ist dieses neue Konzept der «Bleibefreiheit» ein politisches Angebot an konservative Kräfte, die Einschränkungen, die die Zukunft mit sich bringen wird, positiv zu sehen und deshalb Veränderungen zuzustimmen?

Ich würde es eher als eine Einladung verstehen, sich auf Wesentliches zu besinnen und zu fordern, dass viele derzeit bestehende Einschränkungen aufgehoben werden. Dass wir uns nicht damit abfinden, jede halbe Stunde eine Art aussterben zu lassen, Menschen obdachlos werden zu sehen und jede Minute des Lebens mit Stress und Leistungsdruck zu füllen.


An der Buch Basel ist Eva von Redecker gleich zweimal anzutreffen. 

Einmal am Samstag um 18:30 Uhr im Jazzcampus an der Lesung zu ihrem Buch «Bleibefreiheit», moderiert von Franziska Schutzbach, und einmal auf dem Podium zum Thema «Wir – Die Kraft des Kollektiven» am Sonntag um 14 Uhr im Volkshaus.