Frau Redecker, der Begriff «Freiheit» wird zurzeit in allen politischen Lagern, in der Werbung und der Selbstoptimierungsbranche inflationär verwendet. Sie geben diesem umkämpften Begriff in ihrem Buch «Bleibefreiheit» eine neue Rahmung. Er beschreibt nun die Freiheit zu bleiben, in einer Welt, in der angesichts der Klimakrise und politischer Konflikte die Orte schwinden, an denen es sich in Frieden leben lässt.
Ist die Bleibefreiheit etwas, das ich für mich selbst entscheiden kann oder muss das kollektivistisch passieren?
Eva von Redecker: Einzeln kann man sich meist nur dafür entscheiden, diese Werte in den Mittelpunkt zu stellen. Um sie leben zu können, müssen sich Menschen zusammentun.
Schon in kleinen Gruppen geht es besser, aber die wirklichen Weichenstellungen treffen Wirtschaft und Politik. Aber es ist ja nicht unbedeutend, zu wissen, mit welchen Zielen man auf die einwirken sollte.
Wie würde sich unser Alltag dadurch verändern?
Er würde langsamer werden und ich würde auch sagen «bewusster» oder «behutsamer». Bewusster, weil wir uns auf ganz neues Wissen konzentrieren würden:
Welche Zeit steckt in den Dingen unseres Alltags? Wessen Zeit wird geraubt, um anderen den Rücken freizuhalten?
Wie können wir sicherstellen, uns selbst nicht übermäßig zu erschöpfen und unsere begrenzte Lebenszeit nicht für sinnlose Tätigkeiten zu vergeuden?
Wieso wird diese neue Definition der Freiheit häufig als Einschränkung missverstanden?
Weil sie das aus Sicht des besitzstandsorientierten, auf Willkürspielräume setzenden Freiheitsverständnisses auch ist. Und solange politisch keine Anstrengungen unternommen werden, die Bleibefreiheit wirklich allen zu sichern, liegt der Verdacht natürlich nahe, dass man kurz bevor sowieso alles an die Wand fährt, noch ein paar Gewohnheiten und Ansprüche aus der Hand geben soll.
Zugleich würde ich aber betonen, dass es nur eine bestimmte, schon sehr an Privilegien gewöhnte und in Bezug auf grössere Hoffnungen zynische Gruppe ist, die befürchtet, es ginge bei der Bleibefreiheit darum, jemandem heimlich etwas aus der Tasche zu ziehen. Denken Sie an die riesigen Kündigungswellen in den USA und hierzulande nach den Covid-Lockdowns. Das waren klare Entscheidungen für erfüllte Zeit und gegen die Erschöpfung. Und mir begegnen ständig Leute, die diese Erfahrung, dass Freiheit manchmal im «Bleiben» gefunden wird, schon machen und sich freuen, einen Begriff dafür zu entdecken.