Ein schwarz-weisser Krauskopf-Lemur liegt auf einem toten Baumstamm mit einer schwarz-weissen Zeichnung von Bäumen an der Rückwand seines kleinen Käfigs, aber ohne lebende natürliche Vegetation, am Welttierschutztag im Pata Zoo in Bangkok, Thailand, 04. Oktober 2014.

Lemur im Zoo von Bangkok, Thailand: Die Affenart aus Madagaskar ist wie tausende andere auch vom derzeitigen Massenaussterben bedroht.

Bild: Barbara Walton/Keystone

Interview mit Boris Previšic

«Die Erdgeschichte überrollt uns einfach»

Was hat Max Frisch mit dem Klimawandel zu tun? Und was die Erd- mit der Menschheitsgeschichte? Kulturwissenschaftler Boris Previšic über die letzte Chance, das nächste Massenaussterben noch zu verhindern.

Von David Sieber

Basel, 25.05.2022

13 min

 

David Sieber: Herr Previšic, stehen wir vor der finalen Erzählung der Menschheitsgeschichte?

Boris Previšic: Es gibt verschiedene Indikatoren, die nahelegen, dass wir vor dem Finale stehen. Es ist mein Anliegen, dass man die Zivilisationsgeschichte der Menschheit mit der Erdgeschichte zusammendenkt. Man weiss erst seit rund 30 Jahren, unter welchen klimatischen Bedingungen sich erdgeschichtlich die Biosphäre entwickeln konnte. Da gibt es verschiedene Dimensionen. Wenn man die letzten 541 Millionen Jahre des Phanerozoikums, des jüngsten Äons der Erdgeschichte, anschaut, in denen sichtbares Leben entstand, sehen wir, dass diese Geschichte sehr wechselvoll war. Es gab mehrere Massenaussterben. Diese so genannten «Faunenschnitte», Big Five genannt, ereigneten sich circa alle 100 Millionen Jahre…

…Und waren nie menschgemacht, weil es noch gar keine Menschen gab.

Der Mensch als Homo sapiens kam erst vor 300 000 Jahren dazu. Und wir werden uns bewusst, dass der Mensch dabei ist, ein sechstes Massenaussterben auszulösen, wodurch auch er selbst zugrunde gehen wird. Man weiss inzwischen, dass vier der fünf bisherigen Massenaussterben durch Klimaerwärmungen ausgelöst worden sind. Das waren Klimaerwärmungen, die sich zum Teil über tausende von Jahren hinzogen. Heute hingegen geht es rasend schnell. Inzwischen kann die Biosphäre in ihre Vegetationszyklen den Kohlenstoff nicht mehr integrieren, den wir in Form des Treibhausgases CO2 in die Luft blasen. Verschiedene Kipppunkte sind wahrscheinlich erreicht: Das Amazonasgebiet gibt mehr CO2 ab, als es noch binden kann, die Versauerung der Meere kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, Korallenriffe bleichen aus und sterben. Die Natur vergibt uns nicht mehr, weil sie nicht mehr dazu imstande ist. 

Und die Erwärmung?

Wahrscheinlich war es noch nie so warm im Holozän in den letzten
11 700 Jahren. Aber das allein ist nicht das grösste Problem. Das grösste Problem ist die Rasanz, mit der wir auf ein Ereignis zusteuern, das die Grossereignisse der erdgeschichtlichen Vergangenheit übertrifft.

 

Foto des Kulturwissenschaftlers Boris Previšic

Boris Previšić

Boris Previšić (49) ist ein Mann mit vielen Talenten und Interessen: Literaturwissenschaftler, Musiker (Flötist), Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern und Direkter des Urner Instituts Kulturen der Alpen. Entsprechend breit gefächert sind seine Publikationen. Seit 2018 befasst er sich intensiv mit klimapolitischen Fragen und findet dazu überraschende Zugänge. Zum Beispiel an der Vorlesung «Klimakollaps – Zeitkollaps. Lässt sich das noch erzählen», die er im Herbst 2021 an der Universität Basel hielt. Aufgewachsen auf einem Biobauernhof zieht es Previšić immer wieder in die Alpen.

Es scheint, Sie seien bereits auf der letzten Seite des Buches über die Erd- und Menschheitsgeschichte angelangt.

(zögert lange) Es ist eigentlich nur noch die Frage, wie optimistisch man noch sein möchte. Es gibt auch technologieaffine Zweige der Wissenschaft, die meinen, wir schaffen das, wenn wir denn das Steuer herumreissen wollen. Es ist auch möglich. Bloss zeigen die letzten 30 Jahre, dass die immer genauer ausgearbeiteten Klimamodelle, zu keinem Umdenken geführt haben. Jedenfalls keinem, das in grossem Stil zu CO2-vermeidenden Massnahmen geführt hätte. 

Was ist mit den Kipppunkten?

Schlimm wird es dann, wenn es zu positiven Rückkopplungen kommt. Wenn das Grönlandeis und die Westantarktis abschmelzen, Tropenwälder vertrocknen und ausgasen, Permafrost über ein bestimmtes Mass auftaut und Methan entlässt: Dann schaukeln sich die einzelnen Systeme gegenseitig auf, ohne dass der Mensch auch noch mit den grössten Anstrengungen eine Chance hätte, diese Teufelskreise zu durchbrechen.

In Ihrem Buch, das sinnigerweise «Fünf nach Zwölf» heisst, schrieben Sie, wenn ab jetzt, sofort, kein CO2 mehr in die Atmosphäre geblasen wird und gleichzeitig in grossem Stil CO2 gebunden werden würde, dann gäbe es noch eine Chance, den Kollaps abzuwenden. Und wir, zum Beispiel in Basel-Stadt, streiten uns, ob «Netto Null» 2040 oder 2030 erreicht werden soll. «Jetzt» ist das nicht. Oder erdgeschichtlich schon?

Im Hintergrund haben wir die Erdgeschichte. Dank diesem stabilen Hintergrund haben wir die Zivilisationsgeschichte. So ist es aber nicht mehr. Die langsam verlaufende Erdgeschichte beschleunigt sich massiv und überrollt uns einfach. Dennoch ist es richtig, was Basel-Stadt macht. Entscheidend ist nicht mehr nur, dass wir möglichst schnell bei Netto Null sind, sondern auch, wie schnell wir wieviel CO2 aus der Atmosphäre entfernen.

Naja, ein kleiner Kanton ist nicht gerade die Welt.

Es ist der mögliche Anfang einer positiven Entwicklung. Dekarbonisierung ist möglich, aber das geht nicht ohne Opfer. Wir müssen nicht nur Hitzewellen und Extremwetter widerstehen, sondern auch die Energiegewinnung sicherstellen. Windparks und grosse Solarfarmen benötigen einmal Flächen. Doch verglichen mit den fossilen Energieträgern ist selbst mit den grössten Windparks und Solarfreiflächen der Bedarf überschaubar. Wie neueste Studien zeigen, lässt sich Biodiversität oder landwirtschaftliche Produktivität mit Solarfreiflächen gewinnbringend gut kombinieren. Es ist eine politische Herausforderung, hier sinnvolle Lösungen zu finden.

Das ist der politische Zielkonflikt in einer Wohlstandsgesellschaft. In den Schwellenländern steigt mit dem wirtschaftlichen Aufstieg auch der CO2-Ausstoss. Haben wir das Recht, diesen Menschen zu sagen, ihr dürft nicht nach dem streben, was wir hier haben?

Diese Frage ist berechtigt. Doch es ist nun mal so, dass die Disruption von der Erde selbst ausgeht. Das spüren diese Länder noch unmittelbarer als wir. Es gibt gewisse planetare Grenzen, die eingehalten werden müssen. Dazu gehört der Stickstoffkreislauf, die Biodiversität, Schutz der Ozonschicht und die Klimaerwärmung. Das müssen wir zusammendenken. Ich bin mir nicht sicher, ob Wohlstand, respektive Verzicht auf Wohlstand gleichzusetzen ist mit dem Einhalten dieser planetaren Grenzen. Energie, zum Beispiel, wäre genug vorhanden, aber eben Sonnenenergie. 

Die Menschen in China oder Indien wollen aber ein richtiges Auto, keinen E-Scooter.

Letztlich geht es um Lebensqualität. Und die zerstören wir mit unserer CO2-Wirtschaft eben auch. Es ist doch absurd, dass wir fossile Energien, die vor über 300 Millionen Jahre aus Biomasse entstanden sind, aus der Erde holen und ein feines, aber überlebensnotwendiges Zusammenspiel von Atmosphäre, Meeren und Biosphäre zerstören, während uns die Sonne auf den Kopf scheint, welche direkt genutzt werden kann.

Wir müssen in fünf bis acht Jahren dekarbonisiert sein.

Und dann müssen wir damit beginnen, mit technischen Lösungen das CO2 aus der Atmosphäre zu holen. Daran führt kein Weg und kein Auto vorbei.

Cover: CO2: Fünf nach Zwölf Wie wir den Klimakollaps verhindern können Boris Previšić, 160 Seiten, Mandelbaum, Berlin und Wien.

CO2: Fünf nach Zwölf
Wie wir den Klimakollaps verhindern können
Boris Previšić, 160 Seiten, Mandelbaum, Berlin und Wien.

In Ihrer Vorlesung haben sie Max Frisch mit seinem Spätwerk «Der Mensch erscheint im Holozän» (erschienen 1979) zum Ausgangspunkt für ihre These genommen. Der Protagonist, alt, einsam, mit beginnender Demenz, sitzt in seinem Tessiner Häuschen, lauscht dem Dauerregen, macht sich fleissig Notizen dazu und hat Angst, dass der Berg runterkommt, was natürlich auch geschieht. Von dieser Erzählung zum Klimawandel ist es doch etwas ein weiter Weg.

Max Frisch hat vorausgeahnt, dass die Erdgeschichte bald die Menschheitsgeschichte überrollt. So verwebt er eben in dieser Erzählung die beiden Geschichten. Einige Literaten haben das getan, Frisch aber am augenfälligsten. Wenn sich der Protagonist notiert, wo die Erosionskraft der Maggia am stärksten ist, und wo das Gestein am jüngsten, nämlich in Island, dann definiert Frisch auch das Anthropozän als Ära der Eingriffe des Menschen in die Natur. 

War er der Erste?

Er war sicher einer der ersten, die die literarische Erzählform des 19. Jahrhunderts aufbrach, eine Erzählform, welche von der Stabilität der Erdgeschichte ausgeht. Sie galt in der Geologie bis in die 1980er Jahre als im Vergleich zur Menschheitsgeschichte unendlich langsam, mit Veränderungen, die Millionen von Jahre dauern. Frisch scheint es aber geahnt zu haben: Wenn der Berg kommt, kommt er. Schnell und unerbittlich. Genauso wie der Klimawandel.

Hat denn niemand auf die Naturwissenschaft gehört?

Die Naturwissenschaft selbst war doch selbst gefangen in diesem Gegensatz. Noch in den 1980iger-Jahren erhielt man als Geologe keine Anstellung, wenn man sich zur Impakttheorie bekannte, wonach ein Meteorit einschlug, das letzte grosse Massenaussterben auslöste und unter anderem die Dinosaurier vom Erdboden fegte. Obwohl sich die Indizien zugunsten der Impakttheorie zusehends verdichteten, konnte es aus der Sicht der damaligen Geologie nicht sein, dass sich Erdgeschichte auch in Sekunden ereignen kann. Katastrophengeschichten, von der Sintflut bis zum Vulkanausbruch, kennt der Mensch, seit es ihn gibt, bloss hat er diese im Laufe des 19. Jahrhunderts verdrängt.

Warum gibt es noch immer ziemlich viele Klimawandelskeptiker?

Einerseits hat das mit den modernen Narrativen zu tun, die ich vorhin erläutert habe. Andererseits ist aber ein psychologisches Moment nicht zu vernachlässigen: Wenn ich von etwas zeitlich und örtlich nicht unmittelbar wie von einer Kriegsfront, aber latent wie von den Auswirkungen des Klimawandels bedroht bin:

Was mache ich, damit es mir weiterhin wenigstens kurzfristig psychisch gut geht? Ich rede nicht drüber. Ich blende es aus.

In der Hoffnung, dass das Problem auch verschwindet, wenn ich es ignoriere. Nur ist das leider nicht der Fall.

Vor allem muss ich mein Verhalten nicht anpassen.

Bequemlichkeit ist sicher ein Faktor. Vor allem handelt es sich auch um einen angeborenen Schutzmechanismus. 

Sie sind Direktor des Urner Instituts Kulturen der Alpen. Die Alpen gelten als besonders betroffen vom Klimawandel. Zufall?

Nein, natürlich nicht. Mich hat immer die Verschränkung menschlichen Handels mit dem Feedback der Natur darauf fasziniert. Und dieses Feedback ist viel grösser in den Alpen als in einem urbanen Raum. Das Abschmelzen der Gletscher, das Steigen der Waldgrenze, das Verschwinden des Permafrosts. Auf der anderen Seite ist die menschgemachte Kulturlandschaft, die Biodiversität, die topgraphisch bedingte Kleinräumigkeit, die Interaktion des Tourismus, der Energiewirtschaft und der Landwirtschaft mit der Biosphäre nirgends so ausgeprägt wie im Alpenraum. 

Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet in den Alpenkantonen die Sensibilität für den Klimawandel in Politik und Wirtschaft zumeist ziemlich gering ist? Ausnahme ist Glarus. Dort wurde an der Landsgemeinde der Klimaschutz in die Kantonsverfassung geschrieben.

Der historisch bedingte und verständliche Konservatismus im Alpenraum wird politisch von einer turboökonomischen Gilde instrumentalisiert, die rein physisch mit den Alpen nicht viel zu tun hat. Die Diskrepanz zwischen eigener Erfahrung und politischem Denken ist in Alpentälern wie im Puschlav geradezu mit den Händen greifbar: Da gibt es eigentlich nur biologische Landwirtschaftsbetriebe. Die meisten sind es aus Überzeugung, weil sie wissen, weshalb sie es tun: gerade auch für die Biodiversität und die landschaftliche Integrität. Diese aus der Erfahrung genährte Überzeugung wird aber übersteuert von anderen diffuseren Themen wie zum Beispiel der Überfremdung, weshalb sie die einschlägige Partei dazu wählen. Und dies, obwohl das mit ihrem Alltagsleben eigentlich nichts zu tun hat. Genauso ist es mit dem Klimawandel. Das Alltagswissen ist vorhanden. Sie können mit einem Förster über die Veränderungen im Baumbestand sprechen, mit Bauern über Trockenheit. Aber direkte politische Konsequenzen ziehen sie daraus noch zaghaft. Diese beiden Diskurse haben sich die letzten dreissig Jahre voneinander entkoppelt, weil der Kontext mit der Erdgeschichte nicht hergestellt wird und die politischen Narrative ganz anders laufen. Stichwort Traditionsbewusstsein…

…und Eigenständigkeit. Es soll ihnen ja niemand dreinreden. Auch ein Thema aus ihrer Vorlesung: Weil sich jeder Nationalstaat und jede Gemeinschaft als etwas Besonderes erachtet und Sonderrechte reklamiert, ist gemeinsames Handeln schwierig.

Genau. Dabei müssten wir anerkennen, dass es weltweit nur eine Atmosphäre gibt und dass wir aktuell einen ganzen Industriezweig aus dem Boden stampfen sollten, der CO2 aus der Luft holt. Und das weltweit.

Warum ist es möglich, aufgrund des Ukraine-Krieges Tempo Teufel vom russischen Gas wegzukommen und auf Flüssiggas zu setzen, nicht aber angesichts der Klimakrise ebenso schnell und ebenso konsequent in erneuerbare Energien zu investieren?

Weil das System Politik im besten Fall der Demokratie auf vier oder fünf Jahre Legislatur ausgerichtet ist. Der Zeitfaktor – wir haben es ja schon in der Unterscheidung zwischen historischer und erdgeschichtlicher Zeit gesehen – spielt die zentrale Rolle. Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Wir brauchen jetzt eine Lösung. Und deshalb reist ein grüner deutscher Wirtschaftsminister nach Katar.

Wir Menschen scheinen verlernt zu haben, die verschiedenen Zeitebenen zusammenzudenken.

Es gibt nicht nur einen Zeitstrahl, dem wir Schritt für Schritt folgen. Deshalb ist es mir so wichtig, die Erdgeschichte mit der Zivilisationsgeschichte zu verknüpfen, Zeit eben als vielschichtiges Ineinander zu verstehen, in dem es heisst: Das Eine tun heisst nicht, das Andere zu lassen, sondern im Gegenteil zu kombinieren: so rasch wie möglich sich mit den Erneuerbaren, insbesondere mit Photovoltaik in der Schweiz, aber auch mit Wind in Europa und mit Wasserstoffproduktion aus Sonne in den Wüstenstaaten zu befreien und Biodiversität zu garantieren, zu dekarbonisieren und CO2 zurückzubinden.

Sie müssen wohl noch ein Buch schreiben.

Da bin ich dran. Der Arbeitstitel lautet «Zeitkollaps». Uns geht die Zeit aus. Dazu sammle ich Indizien und beschreibe, wie etwa die Naturwissenschaft anhand des Konzepts des so genannten «Kohlenstoffbudgets» auf die Politik einwirkt und umgekehrt. Ich möchte dazu anregen, die verschiedenen Zeitkonzeptionen in Politik, Wissenschaft und dem kulturellen Denken nachhaltig zu implementieren.

Sie haben dazu noch höchstens acht Jahre Zeit.

Das wäre deutlich zu spät. Das Buch kommt bald.