10-rp-kms-100-stadt-klagenfurt-copyright-arnold-poeschl

Die Inszenierung «100% Stadt» bei der Aufführung in Klagenfurt.

Foto: Arnold Pöschl

Gespräch mit Daniel Wetzel

Das Publikum macht das Stück

Im Solothurner Kunstmuseum lädt das Theaterkollektiv Rimini Protokoll zur Werkschau. Theater wird zur Installation. Funktioniert das? Darüber haben wir mit Daniel Wetzel vom Kollektiv gesprochen und ihn ausserdem gefragt, warum sich die Zuschauenden bei ihren Stücken nicht einfach berieseln lassen dürfen.

Von Helena Krauser

Solothurn, 09.02.2023

12 min

Ist das die Ausstellung oder wird hier gerade noch umgeräumt? Der Boden ist mit Abdeckfolie beklebt, gleich neben der Tür steht ein Operationstisch, auf der anderen Seite ein Schrank mit medizinischem Material und ein Ventilator. In der Mitte des Raumes ist ein Tisch mit vier Bildschirmen aufgebaut. All das steht im krassen Kontrast zu dem neoklassizistischen Foyer, durch das ich gerade gelaufen bin.

Es fühlt sich an, als hätte ich aus Versehen einen geheimen Raum betreten, irgendetwas zwischen Kommandozentrale, OP-Saal und Werkstatt. Mit dem Saaltext in der Hand weiss ich aber, das hat alles seine Richtigkeit. Ich bin im Kunstmuseum in Solothurn und besuche die Ausstellung «Rimini Protokoll. Wer will besser sein als die anderen?». Hier wird Theater ausgestellt.

Das Theaterkollektiv Rimini Protokoll sind: Helgard Haug (*1969), Stefan Kaegi (*1972) und Daniel Wetzel (*1969). In über 20 Jahren gemeinsamer Arbeit haben sie rund 130 Projekte an der Schnittstelle zwischen Theater, Kunst, Gesellschaft und Forschung kreiert. Realisiert und aufgeführt werden die Arbeiten auf der ganzen Welt.

In Solothurn präsentiert Rimini Protokoll nun erstmals eine Auswahl der Projekte als Werkschau. Hier geht es um globale Netzwerke von Waffenhandel und Lebensmittelindustrie, um Klimawandel und Migration, und um die Frage, was passiert, wenn die Statistik der Stadt Solothurn 100 Gesichter bekommt.

rpsr

Der erste Raum der Ausstellung.

Foto: hel

Was wie ein erschlagender Newsfeed zum aktuellen Weltgeschehen klingt, fühlt sich auch so an. Die ersten beiden Räume arbeiten mit Videoinstallationen. Ich ziehe mir die dazugehörigen Kopfhörer auf. Einen nach dem anderen.

Der Mitarbeiter eines Schweizer Rüstungskonzerns berichtet mit einer absurden Selbstverständlichkeit von seinen Arbeitsabläufen bei der Herstellung der Hightech-Waffenteile, an der fiktiven Weltklimakonferenz wird über die Aussichtslosigkeit der Klimakrise diskutiert und ein Film zeigt die unerschütterliche soziale und wirtschaftliche Orchestrierung der Hauptversammlung der Daimler AG.

Als Zuschauerin werde ich nicht nur mit den katastrophalen Zuständen konfrontiert, sondern vor allem auch mit einem Ohnmachtsgefühl, das hier, im schicken Kunstmuseum, abgeschirmt von der realen Aussenwelt noch einmal viel intensiver wirkt, als wenn ich zu Hause die Nachrichten schaue.

Im Zoom-Gespräch berichte ich Daniel Wetzel von diesem Eindruck.

Seine Reaktion:

Daniel Wetzel: Ich finde den Aufbau von Newssendungen sehr krass. Erst geht es um Palästina, dann um die USA, dann um Russland. Selbst wenn die Dinge unmittelbar zusammenhängen, werden sie so auseinandersortiert, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Früher gab es in den dritten Programmen Sendungen, die die Zusammenhänge hergestellt haben, die gibt es aber so nicht mehr, denn das schaut sich keiner an. Es wäre natürlich schade, wenn man die eine Sache und die andere nicht zusammengedacht bekommt. Aber ich wüsste nicht, wie mir das gelingt, wenn ich durch die Ausstellung gehe. 

Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll.

Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel.

Rimini Protokoll

Helgard HaugStefan Kaegi und Daniel Wetzel haben im Jahr 2000  das Theater-Label Rimini Protokoll gegründet und arbeiten seither in verschiedenen Konstellationen unter diesem Namen. Stück für Stück erweitern sie die Mittel des Theaters, um neue Perspektiven auf die Wirklichkeit zu schaffen.

Rimini Protokoll entwickeln ihre Bühnenstücke, Interventionen, szenischen Installationen und Hörspiele oft mit Expert:innen, die ihr Wissen und Können jenseits des Theaters erprobt haben. Außerdem übersetzen sie gerne Räume oder soziale Ordnungen in theatrale Formate. Viele ihrer Arbeiten zeichnen sich durch Interaktivität und einen spielerischen Umgang mit Technik aus.

 

FRIDA Magazin: Wie hängen die Arbeiten denn zusammen, ausser durch Rimini Protokoll als gemeinsamen Nenner?

Für mich ist ein roter Faden die Versammlung. Unter der Überschrift, dass alle Projekte verschiedene Versammlungen sind, bekomme ich eigentlich alle gedacht. Mal deutlicher, mal weniger. Ein Grossteil der Arbeiten hat, als sie stattfanden, zum Konzept gehabt, dass sich unsere Gäste treffen und etwas durcharbeiten beziehungsweise erfahren. 

Aber grundsätzlich geht es in der Ausstellung darum, dass die Besucher:innen eine Art Spaziergang durch unsere Art zu arbeiten machen können. Was die Leute dann dabei erleben, denken und mitnehmen, will ich gar nicht bewerten. Wir haben auch Versuche gemacht, die Arbeiten noch enger miteinander zu verbinden. Es wurde aber klar, entweder man schlägt Kapriolen um den eigenen Nabel herum, oder man begibt sich auf ein Level der Reflexion, das den einfachen Zugang schwieriger macht. 

5-rp-kms-feast-of-food-1-copyright-david-aebi

Die Installation zu «Feast of Food».

Foto: David Aebi

In dem Raum zum Projekt «Feast of Food» steht ein Tisch mit einer weissen Tischdecke. Auf die Tischdecke hat jemand sechs Teller und Bestecksets gemalt. Das einzig Reale sind die Virtual-Reality-Brillen, die auf den gemalten Tellern liegen.

Ich setzte die erste auf und stehe plötzlich mitten in einer Fleischfabrik. Umringt von grossen Fleischstücken in einer riesigen Halle voller Menschen in weissen Schutzanzügen. Die Mitarbeitenden schauen mich an, wie ich langsam an ihnen vorbeigleite und widmen sich dann wieder ihrer Arbeit. Ich kann sie so lange und intensiv anstarren, wie ich will, sie sehen mich ja nicht. Ich sitze weiterhin auf dem Holzstuhl im Museum, umringt von thematisch zur Lebensmittelindustrie passenden Gemälden von Pieter Bruegel dem Älteren.

«Es empfiehlt sich zu sitzen mit der Virtual-Reality-Brille», sagte der einzig andere Ausstellungsbesucher zu mir. Und er hatte recht. Die virtuelle und die tatsächliche Realität zusammenzubringen, ist schwindelerregend. Während ich mich in der Fleischfabrik umschaue, weiss ich nicht mehr, in welcher Richtung sich die Tür befindet, durch die ich gerade in diesen Raum gegangen bin.

Diese Art des konfrontativen Involviertseins und doch Nicht-eingreifen-könnens ist sinnbildlich für einen grossen Teil der Arbeiten von Rimini Protokoll. Projekte wie «Situation Room», «Welt-Klimakonferenz» und «Evros Walk Water» stellen den Zuschauenden teilweise erschütternde Fakten vor Augen, funktionieren aber nur, wenn die Zuschauenden sich an genaue Handlungsabläufe halten und nicht davon abweichen.

Die Besucher:innen müssen beispielsweise Gegenstände an den dafür vorgesehenen Platz stellen, mit anderen Menschen nach bestimmten Vorschriften interagieren oder Wege innerhalb eines gewissen Zeit-Slots hinter sich bringen. Das gilt allerdings grösstenteils nur für die Aufführungen im Theaterkontext. Im Museum funktionieren die meisten Installationen ohne Interaktion.

6-rp-kms-feast-of-food-2-copyright-samuel-muehleisen

Virtual-Reality-Brille im Einsatz bei «Feast of Food».

Foto: Samuel Muehleisen

Was hat es auf sich mit dieser besonderen Rolle der Zuschauenden bei Rimini Protokoll?

Es geht nicht darum, dass wir unbedingt wollen, dass Regeln befolgt werden, aber die Ästhetik der Stücke besteht teilweise auf Kooperation. Wenn du das Werkzeug nicht in den Mantel zurücksteckst, passiert nichts Schlimmes, du verstehst aber, dass der nächste Mensch, der den Mantel anzieht, nicht dieselbe Erfahrung machen kann, wenn du nicht mitspielst. 

Die Zuschauenden müssen also mitmachen und können sich nicht berieseln lassen.

Ja, du machst das Stück. Ohne dich findet es nicht statt. Es gibt keine Aussenperspektive. Und das ist es, was wir politisch finden. Wir wechseln vom Zeigen eines Spiegels zu einem System, in dem du gar nicht anders kannst, als deinen Platz zu haben. Wir stellen also immer sehr explizit die Frage nach der Position, auf der du gerade bist. Die Geschichten, die wir erzählen, erfordern es manchmal, dass man solidarisch mit der Person kooperiert, der man zuhört. «Tu jetzt, was ich getan habe». 

Geht es dabei um Identifikation?

Ja, aber nicht im Sinn von «ich finde alles gut, was der andere macht», sondern um eine sensorische Identifikation auf Zeit. Denn du weisst nie, was auf dich zukommt. Dir wird nicht gesagt: Hast du Lust, jetzt 12 Minuten einem Sales Manager von Defence Systems zuzuhören, sondern nur «setz die Kopfhörer auf und höre zu!». Und während dem du zuhörst, verstehst du, was das für eine Person ist, die da spricht. Also hast du gar keine Wahl, zu überlegen, ob du dich mit dieser Person identifizieren willst oder nicht. Man könnte pathetisch sagen: Es ist einfach echtes Zuhören. 

Im Gegensatz zu Milo Rau, der mit seinem Theater ins Weltgeschehen eingreifen möchte, wird Rimini Protokoll die Rolle des stillen Beobachters zugesprochen. Ist das zutreffend?

Stiller Beobachter finde ich etwas sehr passiv. Da sehe ich jemanden an der Bushaltestelle oder im Gerichtssaal sitzen und mitschreiben. Wir beobachten nicht, sondern organisieren Beobachtung für das Publikum. Wir laden Leute aktiv ein. Autor:innen sind oft präzise Analytiker:innen. Sie schauen genau hin und beschrieben aus der Distanz. Wir wollen hingegen Sowohl-als-auch-Momente kreieren. Das hat den Preis, dass es nicht so haargenau und analytisch ist. 

9-rp-kms-100-stadt-copyright-david-aebi

Das Projekt «100% Stadt» wird per Video vermittelt.

Foto: David Aebi

So richtig zu Darstellenden auf der Bühne wird das Publikum bei «100% Stadt». Rimini Protokoll folgte bei der Konzipierung der Frage:

«Wie entsteht ein sogenannter Querschnitt durch die Gesellschaft und wie lässt er sich darstellen?»

Die Uraufführung fand 2008 in Berlin statt, darauf folgten Vorstellungen in über 40 Städten weltweit. Den Projektaufbau beschreibt Rimini Protokoll wie folgt: Über mehrere Monate hinweg werden 100 Einwohner:innen einer Stadt gesucht, die in fünf statistischen Kriterien (Geschlecht, Alter, Familienstand, Nationalität und Wohnbezirk) mit dem Querschnitt der Stadt übereinstimmen.

Die 100 Städter:innen treffen auf einer Bühne zusammen, um Fragen zu behandeln, die gewöhnlich nicht in offiziellen Statistiken zu finden sind: Wer gehört einer politischen Partei an? Wer war schon mal obdachlos? Wer hat immer alles richtig gemacht? Auf einer zweigeteilten Bühne «Ich»- und einer «Ich-Nicht»-Hälfte mischt sich die Gruppe mit jeder Frage neu.

Auch hier ist also kein klassisches Theater mit Schauspieler:innen auf der Bühne und einem klaren Skript.

Wie kam Rimini Protokoll zu dieser besonderen Art, Theater zu machen?

Diese Art zu arbeiten hat sich bei uns dreien im Laufe der Zeit entwickelt. Als wir in Zürich 2007 «Uraufführung: Der Besuch der alten Dame» inszeniert haben, stellte sich raus, dass die lineare Erzählweise für drei Regiehirne ein bisschen zu eng ist. Wir hatten dann plötzlich vier Prologe. Daraus haben wir gelernt, dass wir besser in multiplen Formaten arbeiten. So haben wir alle unsere Gestaltungszonen, in denen wir einzeln in die Vollen gehen können. Bei den drei Stücken «Situation Rooms», «Welt-Klimakonferenz» und «Evros Walk Water» ist das Prinzip, dass alle Episoden die gleiche Länge haben. Dann gibt es einen Shift, und alle wechseln die Position. Damit haben wir eine Art Algorithmus entwickelt, den wir immer wieder adaptieren können. 

Gibt es einen erwünschten Effekt, der beim Publikum ausgelöst werden soll?

Ja, wir möchten, dass du mitbekommst, was wir entdeckt haben, oder wen wir entdeckt haben, und dass du dem zuhörst. Also Hinhören. Ein Grundvertrauen in fremde Menschen, dass man schon etwas mit ihnen anfangen können wird auch in den Zeiten der identitätspolitischen Einsprüche.

Viele sagen, ihr könnt so nicht mehr reden, ihr schliesst uns aus, ihr beleidigt uns, ihr traumatisiert uns, wenn ihr diese Grammatik benutzt. Da kommt die Frage auf: Haben nur Leute, die eine gewisse Erfahrung gemacht haben, das Recht, bestimmte ästhetische Äusserungen zu machen? Für Schauspieler:innen ist das natürlich ein Skandal. Die wollen ja genau in die Haut anderer Rollen schlüpfen und sich verwandeln.

Bei unseren Stücken ist es auch erstmal so, dass du in die Haut unterschiedlicher Personen schlüpfen können sollst. Ich mute dir zu, dass du zwölf Minuten einem männlich gelesenen Kindersoldaten zuhörst und dann einer weiblich gelesenen Aktivistin. Da steht auch die Setzung drin, dass alle einander zuhören können.

Vielleicht liegt es an dem erwähnten Algorithmus, der das Publikum für sein Funktionieren benötigt und an dem In-die-Haut-eines-anderen-schlüpfen, dass diese Projekte auch auf der Metaebene als Theater-Werkschau im Museum so gut funktioniert.

 


Rimini Protokoll

Solothurn, Kunstmuseum Solothurn

22.01. – 30.04.2023