auawirleben Theaterfestival Bern: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Dries Verhoeven

Dries Verhoeven zeigt am aua «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit»

Bild: Willem Popelier

Festival «auawirleben»

«Das Leben tut weh, ist aber schön»

Das «auawirleben Theaterfestival Bern» feiert sein 40-jähriges Jubiläum. Eine Annäherung an das internationale Festival in sechs Stichworten.

Von Flavia von Gunten

Bern, 05.05.2022

9 min

1. Die Stücke

In den 1980er-Jahren wurden auf den Bühnen der Schauspielhäuser fast nur Klassiker gezeigt: Schiller, Goethe und ein paar Franzosen. Dass zeitgenössische Autor:innen Stücke schrieben, die aufgeführt wurden, kam nicht vor. Um dieser sogenannten Neuen Dramatik einen Platz zu geben, gründete der damalige Stadttheater-Direktor Peter Borchardt das «auawirleben»-Theaterfestival (aua), das damals noch leicht anders hiess (siehe weiter unten).

Heute hat sich die Neue Dramatik in den meisten Häusern etabliert. Bei den Bühnen Bern ist mit «Das Ende von Schilda» ein solches Stück im aktuellen Programm: Ariane von Graffenried und Martin Bieri haben es speziell für Bühnen Bern geschrieben.

«Bis heute prägt die Frage, was auf den Berner Theaterbühnen nicht stattfindet, die Programmierung des aua», sagt Nicolette Kretz, Leiterin des Festivals. Sie denkt dabei an Formate, die einen Festival-Rahmen brauchen oder nicht um acht Uhr abends in einer Spielstätte starten.

Dazu gehört in diesem Jahr das «Physical Evidence Museum»: In einer Wohnung in Bern sind Gegenstände von Frauen ausgestellt, die mit einer Gewaltgeschichte verbunden sind. Oder «The Center of Negativity»: Im Einzelgespräch kann man dem Künstler seine negativen Gefühle erzählen und erhält anschliessend ein Diplom.

Nicolette Kretz: «Viele Leute nennen das vielleicht nicht Theater. Aber bei uns passt das rein.»

Die Gruppe BERLIN aus Antwerpen zeigt am auawirleben ihr Stück «True Copy»

Die Gruppe BERLIN aus Antwerpen zeigt am auawirleben ihr Stück «True Copy»

Bild: Koen Broos

2. Beatrix Bühler

Die Bedeutung von Beatrix Bühler für das Theaterfestival lässt sich in einem Satz zusammenfassen: «Trix war aua und aua war Trix», sagt Nicolette Kretz. Bis zu Bühlers Tod 2014 leitete Kretz gemeinsam mit Bühler das Festival. «Trix besass ein Riesenbündel von Wissen über internationales Theater.»

Beatrix Bühler kam 1948 in Freiburg im Breisgau zur Welt. Nach ihrem Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik arbeitete sie ab 1981 als Regieassistentin am Berner Stadttheater. Dort gründete der damalige Direktor Peter Borchardt 1982 das aua. Bühler war von Beginn weg eng eingebunden – ab 1985 als künstlerische Leiterin, nach Borchardts Abgang 1998 bis zu ihrem Tod als Gesamtleiterin.

Nicolette Kretz stiess 2006 zum aua als Zuständige für das Rahmenprogramm, später war sie Dramaturgin. «Als junge Theatermacherin konnte ich sehr viel lernen von Trix. Sie hatte keine Angst, ihr Wissen zu teilen.» Ein «unglaubliches Arbeitstier» sei sie gewesen, «Wochenenden und Tagesrhythmen kannte sie nicht.»

Kretz erinnert sich, dass Bühler regelmässig Mails morgens um vier Uhr versandt hat. Und als es mal um einen Sitzungstermin ging, schlug Bühler einen vor, der auf einen Sonntag fiel, «bis sie realisierte, dass andere Menschen dann frei machen.»

Bühlers Zuhause lag in der Berner Matte. «Die Wohnung war vollgestopft mit Büchern, ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und VHS-Kassetten», erinnert sich Kretz. Ferien habe sie kaum gemacht, bis auf sporadische Besuche ihrer Familie in Kanada.

Fehlte dem Festival einmal Geld für ein Stück, das Bühler unbedingt zeigen wollte, füllte sie die Lücke mit ihrem Lohn. Bühler habe keine vermögende Familie im Rücken gehabt, aber sehr sparsam gelebt, so Kretz. «Sie hat fast nur gearbeitet und geraucht.»

2014 ist Beatrix Bühler 65-jährig an Krebs gestorben.

3. Der Name

«Aua, wir leben!» (1982 bis 1989)

«Aua wir leben» (1989 bis 1998)

«Auawirleben» (1998 bis 2014)

«auawirleben» (2014 bis heute)

Jede Anpassung der Orthografie geht einher mit einer Änderung in der Organisation: Zuerst die Loslösung vom Stadttheater, darauf der Abgang von Gründer Borchardt, dann die Gesamtleitung durch Nicolette Kretz.

Wichtiger aber als die veränderten Namen findet Kretz die Änderung des Untertitels. «Zeitgenössisches Theatertreffen Bern» lautete dieser von der Gründung bis 2014, heute «Theaterfestival Bern». Kretz will damit der Internationalität des Festivals Rechnung tragen: «Den neuen Untertitel verstehen auch Menschen, die nicht Deutsch sprechen.» Denn während das Festival in der Anfangszeit vor allem Stücke aus der Schweiz und dem deutschsprachigen Raum zeigte, nahm über die Jahre der Anteil internationaler Produktionen zu.

Ausserdem wirke ein «Theaterfestival» zugänglicher als ein «Theatertreffen», das eher den Anschein einer internen Angelegenheit erwecke, sagt Kretz.

Im Namen spiegelt sich die thematische Ausrichtung: Ernste Themen, vermittelt auf eine lustvolle Art. «Das Leben tut weh, ist aber schön. ‹Aua› steht für den Schmerz, ‹wir leben› ist positiv», erklärt Kretz. Stücke, die rein dem ästhetischen Vergnügen oder der Unterhaltung dienen, hätten keinen Platz im Programm.

Das Team von auawirleben Theaterfestival Bern
Das Team von auawirleben Theaterfestival Bern v.l.n.r.: Nicolette Kretz, Silja Gruner, Isabelle Jakob, Bettina Tanner. (Credits: Nathalie Jufer)

4. Der Aussenblick

Anruf bei Sibylle Heiniger, Vorsitzende von «t. Theaterschaffen Bern». Der Verband vertritt die Interessen aller Akteur:innen des freien Theaters.

Welche Bedeutung hat das aua für die Berner Theaterszene?
Das aua ist eine wichtige Bereicherung. Die Macher:innen bringen die Avantgarde des zeitgenössischen Theaterschaffens nach Bern. Tendenzen, die sich erst gerade entwickeln, sind so in Bern zu sehen.

Zum Beispiel?
Schon früh hat das aua Diversität abgebildet: Menschen mit Behinderungen traten auf und Menschen mit vielfältigen kulturellen und ethnischen Hintergründen standen auf der Bühne. Auch bei den Formaten ist das Festival fortschrittlich und zeigt zum Beispiel Installationen und Performances. Dieser offene Theaterbegriff gefällt mir.

In Ihrer Funktion beim Verband «t. Theaterschaffen» setzen Sie sich für die Anliegen von Berner Theaterschaffenden ein. Machen die internationalen Theatergruppen, die am aua auftreten, den lokalen die Auftrittsplätze strittig?
Das sehe ich nicht so. Das Festival hat eine andere Ausrichtung. Berner Theaterschaffende können von den Künstler:innen aus dem Ausland profitieren, indem sie sich mit ihnen während des Festivals austauschen und vernetzen. Wichtig ist, dass während der Zeit ausserhalb des Festivals in den Spielstätten die Arbeiten von Berner Theaterschaffenden gezeigt werden.

Wie stehen Sie persönlich zum aua?
Seit ich Ende der 1990er-Jahre nach Bern gezogen bin und später dort Theaterwissenschaft studiert habe, besuche ich das aua regelmässig – auch wenn ich inzwischen in Biel wohne. Mir gefällt, wie die Veranstalte:innen während des Festivals präsent und ansprechbar sind für alle Besucher:innen, egal ob sie der Theaterszene angehören oder nicht.

Plakat auawirleben Theaterfestival Bern

Das auawirleben bringt seit 40 Jahren neue, aktuelle Theaterformen in die Schweizer Hauptstadt.

5. Das Geld

Vor zwei Jahren erhöhte die Stadt Bern die Subventionen für das aua um beachtliche 80 Prozent. Mindestens bis 2024 erhält das Festival pro Jahr 600’000 Franken von der Stadt. Beim Gesuch hätten die Organisator:innen aufgezeigt, dass das aua im Vergleich mit Festivals ähnlichen Kalibers – namentlich das Belluard Bollwerk in Fribourg und das Theaterfestival Basel – viel weniger Geld erhalte und nur durch die «Ausbeutung des Teams» funktioniere, sagt Kretz. Das sei «nicht mehr tragbar» gewesen. «Den Künstler*innen haben wir immer gute Gagen bezahlt», betont Kretz.

Seit der Erhöhung der Subventionen sind die Mitarbeiter:innen in einem höheren Pensum angestellt und es konnte eine zusätzliche Stelle für die Kommunikation geschaffen werden. Wie sich das grössere Budget im Programm spiegelt, wird sich erst zeigen: Die Ausgabe 2020 wurde wegen der Pandemie abgesagt; jene von 2021 fand in abgespecktem Rahmen statt. «Sicher aber werden wir nicht 80 Prozent mehr Sachen bieten», so Kretz. Fest steht: Das Programm 2022 ist das umfangreichste in der aua-Geschichte.

6. Das Manifest

Im Zuge der Eingabe für die höheren Subventionen hat das Team seine Werte aufgeschrieben und in ein Manifest gegossen, das sich auf der Website abrufen lässt. Im Manifest stehen unter anderem Werte wie Respekt, Diversität sowie Selbstverpflichtungen zu Lohntransparenz, umweltverträglichem Handeln und Zugänglichkeit für ein diverses Publikum. «Die Publikation ist wichtig, damit wir zur Verantwortung gezogen werden können. Sei es von den Künstler:innen, vom Publikum oder von Mitarbeiter:innen», sagt Kretz.

Bei internen Diskussionen werde das Manifest immer wieder als Argument gebraucht. Nicolette Kretz erinnert sich an die aua-Ausgabe von 2021: Es ging darum, ein Format zugänglicher zu machen. «Wir hatten kaum Zeit dafür, aber das Manifest schreibt die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen vor. Darum war es keine Frage, dass wir diesen Effort leisteten.» Jemand aus dem Team arbeitete darum ein Wochenende durch, um die entsprechende Massnahme umzusetzen.

Diese Aktion war Anlass für eine Überarbeitung des Manifests. In der zweiten Version hat ein zusätzliches Ziel Einzug gehalten: Selbstfürsorge.

Auawirleben – Theaterfestival Bern
4. bis 15. Mai.

Diesen Text durften wir vom Berner Stadtmagazin «Hauptstadt» übernehmen.